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EINLEITUNG

Die Selbsterkenntnis des Menschen ist das höchste Ziel der Beschäftigung mit Geschichte – oder, um es mit den Worten des britischen Historikers R. G. Collingwood (1889–1943) zu sagen: »Der Wert der Geschichte liegt darin, uns zu lehren, was der Mensch getan hat, und damit, was er ist.« Ohne historische Kenntnisse verstehen wir unser Leben nicht.

Die Geschichte selbst hat ihre Geschichte. Von Beginn an haben alle Gesellschaften – meist in fantasievollen Erzählungen von Göttern, Helden und ihren Taten – über ihre Ursprünge und ihre Vergangenheit erzählt. Die ersten Zivilisationen fertigten Dokumente über die Taten ihrer Herrscher an und hielten sie auf Tontafeln oder an Tempel- und Palastwänden fest. Doch diese frühen Gesellschaften erforschten noch nicht systematisch ihre Vergangenheit und unterschieden nicht zwischen dem, was tatsächlich geschehen war, und den Mythen und Legenden.

»Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, muss sie wiederholen.«

George Santayana The Life of Reason (1905)


Antike Geschichtswerke

Die Werke von Herodot und Thukydides aus dem 5. Jh. v. Chr. sind die ersten erhaltenen Texte, in denen historische Zusammenhänge mithilfe von Augenzeugen, Quellen und eigenen Reflexionen dargestellt werden.

Herodot berücksichtigte dabei auch allerlei Mythen, doch Thukydides’ Darstellung des Peloponnesischen Krieges und seiner Vorgeschichte kommt den wichtigsten Kriterien moderner Geschichtsschreibung schon recht nahe. Er stützt sich auf Augenzeugenberichte über den Konflikt und führt die Ereignisse auf menschliches Handeln statt auf das Eingreifen von Göttern zurück.

Thukydides’ Form der Geschichtsdarstellung sollte lange Bestand haben: die detaillierte Schilderung von Kriegen und politischen Konflikten, Diplomatie und Entscheidungen. Der Aufstieg Roms zur zentralen Macht im Mittelmeerraum führte Historiker zu der Fragestellung, »wie wir wurden, was wir sind«. Der griechische Historiker Polybios (200–118 v. Chr.) und sein römischer Kollege Livius (59 v. Chr. – 17 n. Chr.) verfassten Werke über den Aufstieg Roms, die helfen sollten, die Ereignisse als langfristige Entwicklungen zu verstehen. Auch wenn sie sich auf Rom beschränkten, lag darin der Anfang einer »Universalgeschichte«, die den Versuch unternimmt, den Fortschritt aus frühesten Anfängen bis in die Gegenwart als Geschichte zu beschreiben und so der Vergangenheit eine Richtung zu geben.

Etwa zeitgleich zeichnete in China der Historiker Sima Qian (um 145–86 v. Chr.) die jahrtausendealte chinesische Geschichte auf – vom legendären Gelben Kaiser (um 2697 v. Chr.) bis zur Han-Dynastie unter Kaiser Wu (um 109 v. Chr.).

Lehren aus der Geschichte

Antike Historiker interpretierten die Ereignisse mithilfe ihrer Erzählweise und etablierten die Ansicht, Geschichte sei eine Quelle von Morallehren und Lebenserfahrungen. Die Werke eines Livius oder Tacitus (56 – um 120 n. Chr.) sollten das Verhalten der Helden und Bösewichte untersuchen, über Stärken und Schwächen der Charaktere von Herrschern und Heerführern Aufschluss geben und so Beispiele zur Nachahmung oder Vermeidung liefern. Diese Auffassung von Geschichte blieb lange bestehen. Der französische Chronist Jean Froissart (1337–1405) schrieb über Ritter und ihre Kämpfe im Hundertjährigen Krieg, »damit mutige Männer ihrem Beispiel folgen«. Bücher über Lincoln, Churchill, Gandhi oder Martin Luther King jr. haben heute dieselbe Funktion.


Mittelalter

Der Aufstieg des Christentums im 4. Jh. führte zu einem veränderten Konzept von Geschichte. Christen führten zwar antike Traditionen fort, sahen aber in historischen Ereignissen auch die Resultate göttlichen Wirkens. So standen Berichte, die explizit im Stile eines Thukydides verfasst wurden, neben Heiligen- und Wundergeschichten, für die die religiöse Aussage zählte. Am byzantinischen Hof wurden historische Werke nach antikem Vorbild verfasst. Im westlichen Europa entwickelte sich seit Karl dem Großen eine mittelalterliche Geschichtsschreibung. Die muslimische Welt übernahm viele griechische Ansätze; der arabische Historiker Ibn Chaldun (1332–1406) wandte sich gegen die blinde, unkritische Übernahme fantasiereicher Erzählungen von Ereignissen, die sich nicht beweisen ließen. Doch weder christliche noch muslimische Historiker lieferten so umfangreiche Werke wie die chinesische Chronik von 1085 aus der Song-Dynastie: In 294 Bänden wurde darin die chinesische Geschichte von beinahe 1400 Jahren erzählt.

Renaissance

Ohne die Errungenschaften anderer Zivilisationen und ihrer Geschichtstraditionen zu schmälern, lässt sich festhalten, dass Westeuropa die moderne Geschichtsschreibung hervorbrachte. Die Renaissance, die im 15. Jh. in Italien ihren Anfang nahm und sich bis zum Ende des 16. Jh. über ganz Europa verbreitete, drehte sich um die Wiederentdeckung der Vergangenheit. Ihre Denker fanden in der klassischen Antike eine Quelle der Inspiration – und zwar in Architektur und Philosophie ebenso wie in politischen und militärtaktischen Fragen. Die humanistischen Gelehrten der Renaissance erklärten die Geschichte zum Hauptfach des neuen Bildungscurriculums, und der Antiquar, der in antiken Ruinen nach alten Münzen und Schriften suchte, wurde zur vertrauten Figur. Der Buchdruck ermöglichte die Verbreitung von Geschichtswerken in bis dahin unbekanntem Ausmaß.

»Mit Menschen früherer Zeit zu leben bedeutet, in fremde Länder zu reisen.«

René Descartes Abhandlung über die Methode (1637)

Aufklärung

Im 18. Jh. hatte die europäische Geschichtsschreibung eine bestimmte Methodik etabliert; sie bestand vor allem darin, durch die Untersuchung und den Vergleich historischer Quellen Fakten zu ermitteln. Europäische Denker waren sich über die Epocheneinteilung der Vergangenheit in Antike, Mittelalter und Neuzeit einig. Diese Periodisierung kam einer Bewertung gleich – und sah im durch die Kirche beherrschten Mittelalter eine Periode der Irrationalität und Barbarei, die die ehrwürdige Welt der antiken Zivilisationen vom neu emporsteigenden rationalen Universum des modernen Europa trennte. In ihren Werken machten sich die Philosophen der Aufklärung über die Dummheiten der Vergangenheit lustig.


Romantik

Im Gegensatz dazu entdeckte die Romantik, die sich seit dem Ende des 18. Jh. in ganz Europa verbreitete, in der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart einen eigenen Wert. Die Romantiker ließen sich vom Mittelalter inspirieren – und anstatt die Vergangenheit als Vorstufe der Gegenwart zu betrachten, übten sie sich darin, den Geist der Vergangenheit erneut lebendig zu machen. Vieles davon verband sich mit Nationalismus. So suchte Johann Gottfried Herder (1744–1803) in der Geschichte nach Wurzeln einer nationalen Identität und einem »deutschen Geist«. Als im 19. Jh. in Europa die Nationalstaaten entstanden, feierte die Geschichtsschreibung Ursprünge und Charakter der Nationen und ihre Helden. Jedes Land mit einer Flagge und einer Hymne beanspruchte auch seine eigene heroische Geschichte.

Die »große Erzählung«

Im 19. Jh. wurde Geschichte immer bedeutsamer und bald als Schicksal betrachtet. Die europäische Zivilisation sah sich selbst als Ziel aller geschichtlichen Entwicklungen und schuf entsprechende Narrative. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) beschrieb die Geschichte als logische Entwicklung, die schließlich im preußischen Staat kulminierte. Karl Marx (1818–1883) übernahm Hegels Konzept in seine Theorie vom Historischen Materialismus, nach der der ökonomische Fortschritt den Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Klassen erzeuge und am Ende unweigerlich dazu führen würde, dass das Proletariat die Macht übernehmen und das kapitalistische System an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen werde.

»Geschichte ist nicht viel mehr als eine Aufzählung der Verbrechen, Narrheiten und Unglücksfälle der Menschheit.«

Edward Gibbon Verfall und Untergang des Römischen Reiches (1776)

Wie andere Wissensgebiete wurde auch die Geschichtswissenschaft im 19. Jh. professioneller und schließlich zur akademischen Disziplin, deren erklärtes Ziel die Sammlung von »Fakten« wurde. Die Kluft zwischen einer »ernsten« Geschichtswissenschaft und literarischen Werken populärer Historiker wie die eines Jules Michelet (1798–1874) und eines Thomas Macaulay (1800–1859) wurde immer größer.

Aufstieg der Sozialgeschichte

Im 20. Jh. wurde die Thematik der Geschichtswissenschaft, die bis dato vor allem Könige und Königinnen, Premierminister, Präsidenten und Generäle betrachtete, erweitert. Auch die breite Bevölkerung und ihre Lebensumstände wurden nun zunehmend erforscht. Einige Historiker ließen (zunächst in Frankreich) die »Ereignisgeschichte« vollkommen außer Acht und wandten sich stattdessen der Erforschung gesellschaftlicher Strukturen und Alltagsmodelle, der Glaubens- und Denkmuster der gewöhnlichen Menschen in den verschiedenen Epochen zu.

Eurozentrismus

Bis Mitte des 20. Jh. wurde Weltgeschichte, grob gesagt, als Triumphgeschichte der westlichen Zivilisation geschrieben. Dieser Blickwinkel bestimmte die marxistische Geschichtsschreibung ebenso wie die, die den Fortschritt der Technologie, der Unternehmen und der liberalen Demokratie priesen. Er war nicht immer optimistisch, und es gab zahlreiche Untergangspropheten. Doch er ging stets davon aus, dass Geschichte von Europäern (und ihren Nachkommen) geschrieben wurde. So wurde es unwidersprochen akzeptiert, wenn europäische Historiker davon sprachen, Schwarzafrika habe keinerlei bedeutende Geschichte hervorgebracht und nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen.


Der postkoloniale Revisionismus

Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jh. fiel der Begriff einer einzigen, zielgerichteten historischen »großen Erzählung« in sich zusammen – und mit ihm der Eurozentrismus. Die postkoloniale, postmoderne Welt forderte eine Vielzahl von Geschichten, die aus dem Blickwinkel verschiedener gesellschaftlicher Identitäten erzählt wurden. Viele wandten sich der Erforschung der schwarzen Geschichte, der Frauengeschichte, der Homosexuellengeschichte zu – genauso wie den Geschichten, die aus asiatischer, afrikanischer oder der Perspektive der amerikanischen Ureinwohner erzählt wurden. Marginalisierte und Unterdrückte einer Gesellschaft wurden nicht länger als passive Opfer, sondern als »Akteure« der Geschichte angesehen. In einem Aufruhr des Revisionismus wurden zahlreiche Ansichten über Geschichte, wie Gebildete im Westen sie kannten, auf den Kopf gestellt. Viele Ereignisse erfuhren nun eine andere Bewertung. Die Reaktion auf den 500. Jahrestag von Christoph Kolumbus’ erster Reise nach Amerika im Jahre 1992 verdeutlicht beispielhaft die entstandene Verwirrung: Hätte man einst überall in den Vereinigten Staaten stolze Gedenkfeiern erwartet, wurde dem Ereignis tatsächlich, wenn überhaupt, eher mit Scham gedacht. Die Menschen sind sich nicht mehr einig, was sie über ihre traditionelle Geschichte, ihre epochalen Ereignisse denken sollen.

Eine Perspektive des 21. Jahrhunderts

Auf die »große Erzählung« vom menschlichen Fortschritt wird hier verzichtet. Das Buch will einen Überblick über die Weltgeschichte anhand spezifischer Augenblicke und Ereignisse geben, die ein »Fenster« in ausgewählte Bereiche der Vergangenheit öffnen. Es reflektiert die langfristige Bedeutung zentraler und aktueller Faktoren wie Bevölkerungswachstum, Klima und Umwelt in ihrem ideologischen und narrativen Kontext und erzählt von allgemein historisch interessanten Ereignissen – wie die Magna Charta, die Pest und der amerikanische Bürgerkrieg.

Dieses Buch zeigt: Geschichte ist ein Prozess und nicht etwa eine Reihe zusammenhangloser Ereignisse. Sie ist nicht determiniert, sondern bleibt auch im 21. Jh. eine grundlegende Disziplin für alle, die – wie der englische Dichter Alexander Pope (1688–1744) – glauben: »Das richtige Forschungsthema der Menschheit ist der Mensch«.

»Wir sind nicht die Erzeuger von Geschichte, wir sind ihr Produkt.«

Martin Luther King jr. Strength to Love (1963)

Big Ideas. Das Geschichts-Buch

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