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VOM ERSTEN SCHNEE
ZUM LETZTEN SCHWUNG
ОглавлениеMit den Erinnerungen an unsere Kindheit ist es wie mit allen Erinnerungen: Sie halten einer Überprüfung nur selten stand. Es war immer kalt und es lag sehr viel Schnee. Hat man zum Beispiel in einer Stadt in Westösterreich gewohnt, in einem Haus mit Hof, dann kann man sich vielleicht noch daran erinnern, in diesem Hof Schneehöhlen gebaut zu haben. Also Gänge mit Ausgängen oben und seitlich, in denen man herumkriechen und spielen konnte. In der Mitte sogar mit einem Iglu. Müssen also Mordswinter mit wahnsinnig viel Schnee gewesen sein damals, oder? Es existiert sogar ein Foto davon. Allerdings sind Schneehöhlen für einen Sechsjährigen etwas anderes als für einen erwachsenen Beobachter. Betrachtet man das Foto genauer, ist nur ein großer Schneehaufen zu sehen, der durch das Schneeschaufeln entstanden ist.
Es gab sehr schneereiche Winter in den 1970er- und 1980er-Jahren. Es gab aber auch schneearme. Wenn wir uns recht bemühen, so können wir uns vielleicht auch an endlose Spaziergänge erinnern, zu denen uns die Eltern während der wenigen Stunden mit Tageslicht zwangen, um „auszulüften“, wie sie es gern nannten. Dann schleppten wir uns über festgefrorene Ackerfurchen und tote Wiesen und kein Tüpfelchen Schnee war zu sehen. Aber diese Winter sind überdeckt von den glorreichen, schneeweißen Wochen, die für uns die Winter unserer Kindheit sind. So hätte es immer sein können.
Am schönsten war es, wenn der Schnee über Nacht kam. Am schönsten war es, wenn der Schnee über Nacht kam. Wir liefen zum Fenster, und statt dem braun-grünen Gatsch und den traurigen, nackten Baumwedeln, die uns noch ein paar Stunden zuvor eine gute Nacht gewünscht hatten, sagte nun eine dicke Schneetuchent guten Morgen. Alles lief in Zeitlupe. Der Schnee schaltete einen unwirklichen Filter vor unsere Sinne. Die Verlangsamung war nicht nur Einbildung: Auf den nicht geräumten Straßen bewegten sich alle tatsächlich vorsichtiger als sonst.
Winter, das waren Eiszapfen an Dachrinnen, die wir abzubrechen versuchten, um daran zu lutschen. Überhaupt hat man uns erst viel später abgewöhnt, Schnee zu essen. Sich als Kind gut eingepackt ungebremst in den Schnee fallen zu lassen (nach hinten, um dann mit den Armen einen Engelabdruck zu hinterlassen) haben wir bis heute als Zeichen von bedingungslosem Vertrauen abgespeichert. Winter war auch, den Atem vor dem Mund sehen, Eis von Fenstern kratzen oder auf Autoscheiben Namen in die Raureifschicht ritzen. Schneebälle auf Verkehrsschilder werfen oder den Mitschülern in den Nacken stecken. Auch das „Einreiben“ mit Schnee gehörte als fixer Bestandteil zum Winter.
Dass uns ständig kalt war, damals, lag auch daran, dass nicht flächendeckend geheizt wurde. Es war üblich, in einem Haus nicht alle Zimmer gleich warm zu machen, sondern eben nur jene, die ständig benützt wurden. In den öffentlichen Verkehrsmitteln und in der Schule war es auch drinnen kalt, wenn es draußen kalt war. Wollpullover waren, abgesehen davon, dass sie kratzten und gerne dunkelbraun waren, kein modisches Bekenntnis, sondern pure Notwendigkeit. Im Winter mit kurzen Ärmeln im Klassenzimmer sitzen? Undenkbar. Sweatshirts gab es erst später in unserem Leben. Wie erstaunt waren wir, dass Pullover auch weich und angenehm sein konnten! Von „Fruit of the Loom“ waren diese ersten Segensbringer beispielsweise.
Hauben waren ohne Ausnahme unschick und juckten am Haaransatz. Sie waren selbst gestrickt und in Form, Farbe und Material grauenvoll. Aber auch die gekauften waren nicht viel besser: Es gab etwa solche, die nach oben hin viel Stoff und die Form einer Raute hatten. Sie standen immer in die Höhe. Egal, zu welcher Haube man vergattert war – Diskussionen über die Notwendigkeit einer Kopfbedeckung gab es zwar, waren aber zwecklos: Sobald man sie abnahm, standen einem die Haare zu Berge und man musste sich zunächst ordentlich kratzen. Heute sehen wir fassungslos, wie junge, coole Menschen sogar im Sommer Wollhauben überziehen, die uns noch im Nachhinein vor Scham zum Weinen bringen könnten.
Wenn wir morgens in die Schule aufbrachen, war es noch stockdunkel. Das störte uns gar nicht, verhieß es doch ein wenig Abenteuer. Sich im Dunkeln draußen aufzuhalten war uns ja sonst strikt untersagt – die Logik, warum Abenddunkel im Gegensatz zu Morgendunkel unzumutbar war, erschloss sich uns beim besten Willen nicht. Wir schlitterten auf jeder Eisplatte, die wir finden konnten. Sonst wäre es kein echter Winter gewesen.
Nach der Schule ging man rodeln. Es gab richtige Schlitten für eine und zwei Personen. Sie waren unhandlich und kamen uns altmodisch vor. Am Rodelhügel – den gab es in jedem Dorf – musste es aber ein Bob sein. Die gängigen Varianten waren der Zipfelbob mit seinem Riesenzinken, der Plastikbob mit oder ohne Bremsen und als Highlight der Lenkradbob, der dennoch unlenkbar war. Am schnellsten und wildesten ging es aber beim Sacklrutschen bergab. Feste Futter- oder Düngersäcke waren dafür am besten geeignet. Näher konnte man dem Boden nicht kommen. Blauer konnte ein Po auch nicht werden als nach einer Sacklrutschpartie.
Bei schlechtem Wetter war der Eislaufplatz eine Alternative. Dort drehten wir zu Musik aus Udo Hubers „Die großen Zehn“ unsere Runden. Zum Standardprogramm gehörten aber auch jene Lieder, die heute noch auf keinem Eislaufplatz fehlen dürfen: „Rivers of Babylon“ von Boney M, „Hands up“ von Ottawan und „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. Wir jagten einander, kratzten mit den Kufen Eisschnee zusammen, um damit Schneebälle zu formen. Wenn uns ein Mädchen gefiel, versuchten wir möglichst knapp vor ihm abzubremsen. Burschen trugen Hockeyschuhe, Mädchen klassische weiße Eislaufschuhe aus Leder. Und rosa Ohrenschützer, ebensolche Legwarmer. Wenn uns Mädchen jemand gefiel, schauten wir keinesfalls zu ihm hin. Jeder Annäherungsversuch wurde empört zurückgewiesen. Das Balzen auf dem Eislaufplatz war anstrengend und völlig fruchtlos. Wir liebten es.
Hatte es über Nacht geschneit, mussten wir in der Früh manchmal beim Schneeschaufeln helfen. Schneeschaufeln war anstrengend: Hatte man Handschuhe an und den Anorak geschlossen, war einem bald zu heiß. Versuchten wir den Anorak schnell auszuziehen, fraß sich der Zippverschluss im Futter fest. Wir waren in der Jacke gefangen. Und ohne Handschuhe bekam man Blasen an den Händen. Schnee schaufeln musste man immer sofort, sonst wurde der Schnee zu schwer. Der Lärm des Schneeschaufelns, das Kratzen der Stahlkante am Asphalt gefolgt von dem dumpfen „Wuhp“, wenn Schnee mit Schnee kollidiert, wurde zwar vom frischen Schnee gedämpft. Aber das kollektive „Krch krch“, das reihum ertönte, gehörte zu den winterlichen Morgenstunden wie das Vogelgezwitscher zum Sommermorgen.
Wir hatten zwar vielleicht nicht so viele verschiedene Worte für Schnee zur Verfügung wie ein Inuit. Aber doch ein paar sehr lautmalerische: Bruchharsch zum Beispiel. Oder Firn. Auch Pulverschnee. Und Haxlbrecher. Oder die Graupel, die sich noch nicht entschließen können, Flocken zu sein. Und dann gibt es noch den sehr kalten Schnee, der sich weder zu Schneebällen noch zu Schneemännern formen lässt. Am liebsten ist uns bis heute das Geräusch, wenn frischer Schnee von den ersten Fußstapfen zusammengedrückt wird.
Am klarsten strukturiert war der Dezember: Hier herrschten das Christkind und der Nikolo. Der wiederum zusammen mit dem Krampus, der uns bei Perchtenumzügen windelweich prügelte, und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb? – gingen wir immer wieder gerne hin. Es gab keinen Weihnachtsmann, keine Dekorationen in Vorgärten und an Hausfassaden, an denen heute ganze Rentierschlitten mit blinkenden Lichterketten die dunkelste zur hellsten Zeit des Jahres machen. Unsere Winter waren kalt, still und schwarz. Wir bastelten Strohsterne und buken Vanillekipferln. Das heißt, wir verstreuten Mehl, Zucker und Teigbrösel, aßen so viel Teig wie möglich und formten das, was wir für Kipferln hielten, aber eher fetten Raupen glich. Die Mütter formten sie heimlich um, und niemand wunderte sich, warum das, was aus dem Backrohr kam, ganz anders aussah als das, was wir angefertigt hatten.
Wir warteten auf den Heiligen Abend. Das Warten war überhaupt nur erträglich, weil es täglich ein Adventkalendertürchen zu öffnen gab. Auch der Christkindlmarkt half. Der hatte im Gegensatz zu den Weihnachtsmärkten heute nur wenige Stände: Es gab Maroni, kandierte Äpfel, Glühwein und Kinderpunsch, Kunsthandwerk (sehr langweilig) und Plastikspielzeug aus Asien (sehr begehrenswert).
Der 24. Dezember war der längste Tag des Jahres. Wir durften, nein, wir mussten von der Früh an fernsehen. Und wollten doch nur, dass es endlich dunkel wurde. Weihnachten war ein riesengroßes Mysterium, das Geheimnis dort drinnen im Wohnzimmer, bei dem es für uns nie mit rechten Dingen zuging. Und das so schnell wieder vorbei war. Das Christkind haben wir auch nie gesehen.
Die Tage bis zu Neujahr hätten niemals enden dürfen. „Zwischen den Jahren“ saßen wir bis nach Mittag im Pyjama im Wohnzimmer, das für uns zu einem großen Kinderzimmer auf Zeit geworden war, und bespielten alle Geschenke, die wir bekommen hatten. Wir versuchten den Jahreswechsel so weit wie möglich hinauszuschieben. Denn mit dem Bleigießen am Silvesterabend und dem darauffolgenden Feuerwerk begann für uns Kinder schon das lange Warten auf das nächste Weihnachtsfest.
Allerspätestens nach Silvester, wenn das Neujahrskonzert vorbei und die Vierschanzentournee in vollem Gange war, lag zumindest weiter oben genug Schnee, um uns endlich dem eigentlichen Winterthema widmen zu können: dem Skifahren. Nichts sollte uns mehr prägen und uns auf der endlosen Suche nach dem eigenen Selbstverständnis ein so großes Stück weiterbringen wie diese für uns natürlichste Fortbewegungsform auf Schnee. Damals, als das Skifahren noch ein Volkssport war.