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Unter Beobachtung und Kontrolle
ОглавлениеMit Erlass des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 18. Oktober 1933 waren zunächst an den preußischen, dann auch an den anderen deutschen Universitäten Dozentenschaften eingerichtet worden. Ein halbes Jahr später wurde aus ihnen allen die Deutsche Dozentenschaft gebildet und diese schließlich dem Reichserziehungsministerium unterstellt. Alle Assistenten, Privatdozenten und auch die nichtbeamteten Professoren gehörten ihr zwangsweise an. Die beamteten Professoren konnten ihr beitreten, mussten das aber nicht tun. Auf sie kam es nicht an. Vielmehr sollten die Dozentenschaften dafür sorgen, die schlechten beruflichen Aussichten der Privatdozenten (das »Privatdozentenelend«) zu verbessern, ihnen die durch die Vertreibung missliebiger Professoren frei gewordenen Stellen zu verschaffen und auf lange Sicht eine Reform der Universitäten im nationalsozialistischen Sinn zu bewirken. Auf allen Ebenen galt das Führerprinzip. An der Spitze der örtlichen Dozentenschaften standen meistens Privatdozenten, die ein Parteibuch besaßen, gelegentlich auch nichthabilitierte Assistenten oder sogar nichtpromovierte Hilfsassistenten. Die Deutsche Dozentenschaft war somit eine Interessenvertretung des sich um seine Zukunft sorgenden akademischen Nachwuchses. Die Ordinarien konnten sie als »eine bessere akademische Gewerkschaft« verstehen, deren Einrichtung als »politische Misstrauenserklärung« interpretieren.2
Zwei Instrumente wurden den Dozentenschaften in die Hände gegeben, damit sie die ihnen zugedachten Aufgaben erfüllen konnten: Erstens hatten sie in allen Personal- und Berufungssachen ein Recht zur Mitsprache. Zu jedem einzelnen Fall wurden Gutachten erstellt und Urteile abgegeben, die gehört werden mussten. Die Fakultäten behielten ihre herkömmlichen Vorschlagsrechte und sahen nach wie vor eher auf die fachlichen als auf die politischen und »charakterlichen« Aspekte. Aber da im Ministerium den professoralen Eliten misstraut wurde, kam dem Votum der Dozentenschaft oft das größere Gewicht zu. Gingen die Meinungen auseinander, trat der »Führer« der Dozentenschaft geradezu als »Gegenregierung« gegen den »Führer« (den Rektor) der Universität auf.3
Zweitens durfte die Dozentenschaft mehrmonatige Wehr- bzw. Geländesportlager und Dozentenakademien organisieren, in denen der männliche akademische Nachwuchs (Frauen kamen ohnehin nicht in Betracht) auf die nationalsozialistischen Werte eingeschworen wurde. Im 20. Jahrhundert, dem »Jahrhundert der Lager«, gehörten sie zu jenen diktatorisch verordneten Einrichtungen, in denen mit der weltanschaulichen Umerziehung nicht einzelner Dissidenten, sondern ganzer Bevölkerungsgruppen experimentiert wurde.4 Man praktizierte Gemeinschaft und Kameraderie, musste sportlich-militärische Übungen absolvieren, sollte auf »Grenzlandfahrten« die Probleme des Deutschtums kennenlernen und hatte Vorträge zu halten, die die Zuhörer ohne besondere Vorkenntnisse verstehen konnten.5 »Der volksfremde Gelehrte« sollte »bald der Vergangenheit angehören«. Das Lagerleben würde »die blutleere Papierseele« disziplinieren und zur praktizierten »Volksverbundenheit« anhalten, die Akademie konnte man als »geistigen Arbeitsdienst« ausgeben. Auch dabei wurden »Unterordnungsfähigkeit, Eingliederung in die Gemeinschaft, Kameradschaftlichkeit« verlangt.6 Ein abschließendes Zeugnis hatte zu beurteilen, ob der Erziehungsprozess erfolgreich verlaufen war oder auch nicht. »Nationalsozialistisches Denken«, körperliches Leistungsvermögen, »allgemeine Dienstfreudigkeit«, charakterliche Eigenschaften und gegebenenfalls die antisemitische Einstellung wurden darin vermerkt.7
Es gab Teilnehmer, die »Frühsport, Kampfspiele, Märsche mit ›nationalen‹ Gesängen« und das »paramilitärische Allotria« ertrugen und den persönlichen Begegnungen in Lager und Akademie sogar etwas abgewinnen konnten (nützliche Verbindungen zum Beispiel).8 Oder man konnte das »troglodytische« Leben, das Wandern, Turnen, Exerzieren einfach abhaken.9 Wer dagegen die neuen Verhältnisse begrüßte oder sich an sie anzupassen verstand, ging »sehr befriedigt« nach Hause und nahm sich vor, die »im Lager gewonnene Gemeinschaft aufrechtzuerhalten«.10 Wiederum andere fanden das Ganze nur peinlich oder litten noch nach Jahren unter den Schikanen, die sie hatten aushalten müssen.11 Denn die Dozentenakademien (die oft in Kiel-Kitzeberg, aber auch in Rittmarshausen bei Göttingen, Tännich in Thüringen, Danzig, Rippen in Ostpreußen oder Hassitz bei Glatz stattfanden) wurden nicht nur von einem wissenschaftlichen, sondern auch von einem Lager- und einem »Sangesleiter« organisiert und verlangten von jedem Einzelnen Anpassung an die Gemeinschaft. Die jeweils 30–60 Teilnehmer wurden anfangs in Lager-, später in SA-Kleidung gesteckt und mussten Vorträge über sich ergehen lassen, die ihr wissenschaftliches Selbstverständnis provozierten.12
Ein Beispiel: Beim ersten Lehrgang im April 1934 kam es zu erregten Debatten über den Sinn einer »Weltgeschichte auf rassischer Grundlage«.13 Der Referent, ein Oberstudiendirektor aus Neumünster, hatte schon 1925 ein Buch dieses Titels vorgelegt, war aber von der Fachwissenschaft zurückgewiesen worden. Jetzt sah er seinen Standpunkt im Aufwind. Er beschrieb die »blutgezwungene« Entstehung »blutgemäßer« Sinnbilder und Vorbilder bei den Hellenen und warf Sokrates sowie dem »Juden« Paulus deren Verfälschung zu Zerrbildern vor. Mit Zitaten aus Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« wollte er die Zuhörer beeindrucken. Doch aus dem Auditorium kamen Einwände: Eine »so schematische Betrachtung« sei unwissenschaftlich, zumindest fehlten alle Vorarbeiten dafür. Einer erklärte sogar »freimütig, daß ihm eine Weltgeschichte auf rassischer Grundlage ein Brett vor den Kopf lege; lieber lese er ein Kapitel aus Rankes Weltgeschichte«. Sehr wahrscheinlich war es Leo Just, der diesen Einwand formulierte, ein ehemaliger Mitarbeiter am römischen Institut, der von Kehr wegen seines großen Fleißes als »die Editio catholica« Carl Erdmanns beschrieben worden war.14 Danach »zerflatterte« die Diskussion. Platons »blutmäßiges« Schauen wollte niemandem mehr einleuchten. Nur von einem Gießener Pharmakologen und SS-Mann erhielt der Vortragende noch Zuspruch. Beide waren sich einig, dass die meisten der anwesenden Dozenten intellektuelle »Scheuklappen« trugen und eine Sprache sprachen, »die unsereinem mitten im Leben fremd ist«. Nur wenige von ihnen seien in Zukunft zu gebrauchen. Leo Just, der Querkopf, der nicht den Mund halten konnte, erhielt eine schlechte Beurteilung.15
Auch Erdmann war pflichtschuldig Mitglied der Dozentenschaft geworden und hatte einen Meldebogen ausfüllen müssen, auf dem er aber wenig von sich preisgab: Die Rubriken zu den politischen Mitgliedschaften, militärischen Aktivitäten und Teilnahmen an Arbeitsdienst oder Wehrsportausbildung blieben vollständig leer.16 Nun aber wurde ein aktiver Beitrag von ihm erwartet. Mit Beunruhigung nahm er zur Kenntnis, was auf ihn zukam. Denn auch die »Althabilitierten«, also diejenigen, die die Lehrbefugnis vor der Einrichtung der Dozentenschaften erworben hatten, sollten dem Verfahren unterzogen werden und wenigstens ein Kurzlager von zwölf Tagen absolvieren. Schon das im Lager übliche Duzen und die erzwungene Preisgabe der Intimsphäre hätten ihn sehr gestört. Denn dass Gemeinschaft »irgendwie, irgendwo, irgendwann« gemeinmacht, musste ihm – mit oder ohne Nietzsche – niemand erklären. Als er aber hörte, dass bei den Schulungen die Landesverteidigung im Vordergrund stehe und die Innenpolitik demgegenüber zurücktrete, da fand er das »relativ tröstlich«: »da ist man selbstverständlich bedingungslos dabei.«17 Noch hatte er keinen Anlass, an seiner patriotischen Grundhaltung zu zweifeln. Allerdings blieb ihm der Wehrsport erspart, weil die Kurzlager eingestellt wurden, kurz bevor er sich anmelden wollte. An einer Dozentenakademie dagegen nahm er teil – »als Gast«, wie in seinen Unterlagen vermerkt wurde. Was das zu bedeuten hatte, war und ist unklar. In jedem Fall kommt darin seine distanzierte Haltung zum Ausdruck. Beides, sein »Gaststatus« bei der weltanschaulichen Schulung wie sein Fehlen im Lager, der eigentlichen »Charakterprobe«, wurde ihm später zum Vorwurf gemacht.