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Asyl in Berlin

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Nach einem sechsmonatigen, in jeder Hinsicht eindrucksvollen Aufenthalt in Oxford113 kehrte Kantorowicz nach Deutschland zurück und ließ sich in Berlin nieder, um ein Leben als Privatgelehrter zu führen. Erneut erwies sich die Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica dafür als der geeignetste Ort. Allerdings hatten sich die Zeiten gründlich geändert. Damals, um 1930, konnte er als berühmter, erfolgreicher Autor auftreten, der sich schon durch seine dandyhafte Erscheinung (»elegant und sogar parfümiert«), erst recht durch seine witzige und charmante Art von der Steifheit der Monumentisten unterschied.114 Während man ihn für einen italienischen oder spanischen Aristokraten halten konnte, sollen diese sogar bei gemeinsamen Bierabenden vor allem an Lesarten und Konjekturen, also an textkritischen und editorischen Fragen, interessiert gewesen sein. Ausflüge, bei denen Theodor Mommsens Enkel mit Hermann Onckens Tochter tanzte und ein Mediävist in den Liepnitzsee fiel, sollen vorgekommen sein, waren jedoch sicher die Ausnahme.115

Nun aber kehrte der einst Gefeierte als vertriebener Frankfurter Ordinarius nach Berlin zurück. Zwar erhielt Kantorowicz als 40-jähriger Emeritus weiterhin seine vollen Bezüge; aber im täglichen Leben sah er sich sogar in standesgemäßer Charlottenburger Umgebung antisemitischen Diskriminierungen ausgesetzt.116 Er wähnte sich »in einer Zeit, in der Hesperiens Goldäpfel umso fauler werden, je mehr man sich dem edelsteinlosen Kern nähert«. Man könne sich die »Herrschaft über das Geisterreich« einbilden; aber schon das »Lauschen auf die Geisterstimme« sei ein Wagnis.117

Bei den Monumenta war davon (noch) nichts zu spüren. Nach wie vor herrschte »ein Geist freier Kritik« in deren Räumen.118 Kehr, der ihm von jeher eine »stille Liebe« zu deren Vorhaben unterstellte, unterstützte Kantorowicz auch weiterhin. Wie bei seinem ersten Forschungsaufenthalt erhielt er ein kleines eigenes Zimmer, in dem er einen Bücherapparat aufstellen konnte.119 Hier, in seinem »Studiolo«, schrieb er an den Werken, die sein Denken in eine andere Richtung führten und seinen späteren Ruhm vorbereiten sollten. Eines davon gibt sogar sein Selbstverständnis in diesen Jahren zu erkennen. Es handelt von »gelehrter Anachorese im Mittelalter«, erzählt von Philosophen wie Abaelard und Petrarca, meinte aber unverhohlen die eigene Existenz des Verfassers: »Des Weisen Los ist Einsamkeit« – eine Einsamkeit aber, die ihm die Zwiesprache mit der Vergangenheit beschert und so »das Elend der Gegenwart vergessen läßt«.120 Der autobiographische Zusammenhang liegt hier offen zutage: Das Arbeitszimmer in der Bibliothek der Monumenta war für Kantorowicz die Klause, die die Freiheit des Gelehrten in sich barg und Abstand von den Zumutungen der Gegenwart versprach. Als ihm Karl Hampe, mittlerweile ebenfalls in freiwillig-unfreiwilligem Ruhestand befindlich, eine Abhandlung über den Sturz des Deutschordens-Hochmeisters Heinrich von Plauen zuschickte, da dankte er dem Verfasser, indem er deren Gegenstand auf die eigene Zeit hin umbog: Offenbar gebe es »Zeiten, in denen sich hervorragende Naturen tatsächlich nicht durchsetzen können, und dass dann nur […] quasi eine Insel übrigbleibt, wo man diese Grösseren erträgt«. Man könne nur hoffen, »dass in unserer […] Zeit für nicht minder Wesentliches gleichfalls ein solches Refugium verbleibt«.121 Die Sorge scheint ihn umgetrieben zu haben, dass auch die Inselexistenz bei den Monumenta nicht von Dauer sein würde.

Vier Jahre lang blieb Kantorowicz in Berlin. Er erhielt Unterstützung von Kehr und Hampe (der ihn einer anderen Universität empfahl), traf Theodor E. Mommsen (den er bei seinem ersten Berliner Forschungsaufenthalt schätzen gelernt hatte), sah hin und wieder nicht nur Kurt Riezler (was ihn sicher erfreute), sondern vielleicht auch Albert Brackmann (worauf er nicht unbedingt Wert legte) und gewann in Carl Erdmann einen Freund.122 Von dessen Gelehrsamkeit und gleichzeitig Hilfsbereitschaft hatte er schon früher in Rom einen Eindruck bekommen. Nun fand er sie im wissenschaftlichen Alltag bestätigt. Einen »Lichtblick« nannte er ihn, zumal nach der Emigration Mommsens und dessen Ausscheiden aus dem Dienst der Monumenta.123 Mit den anderen Mitarbeitern verband ihn offenbar nicht viel. Ihm dagegen schuldete er Dank. So hatte ihn Erdmann auf eine Handschrift im Besitz des Escorial hingewiesen, in der sich ein angebliches Testament Friedrichs II. befindet, und auch sonst »immer wieder verblüffenden Spürsinn« bewiesen. Er, Kantorowicz, habe davon so wie viele andere Gelehrte profitiert.124

Dass sie nicht nur Informationen, sondern auch ihre Publikationen austauschten, liegt auf der Hand, lässt sich aber nur punktuell rekonstruieren. Immerhin ist eine größere Zahl von Sonderdrucken in Kantorowicz’ Nachlass in Princeton erhalten geblieben, einige mit persönlicher Widmung.125 Die Habilitationsschrift, deren Publikation Kantorowicz mit großen Erwartungen entgegensah, befindet sich merkwürdigerweise nicht in seinem nachgelassenen Besitz. Aber Erdmanns nächstes großes Buch, die »Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert« (über die noch zu sprechen sein wird), überreichte der Verfasser mit einer ebenso verrätselten wie freimütigen Widmung: »Ernst Kantorowicz, dem illegalen Helfer, in Freundschaft C. E.«.126

Aus wissenschaftlichem Respekt und persönlicher Loyalität hatte sich im Laufe der Jahre eine Freundschaft entwickelt. Der Gelehrte und der Weltmann hatten zunächst nicht viel miteinander zu tun; sachlich und sprachlich gingen ihre Veröffentlichungen verschiedene Wege. Wenn Erdmann im Zuge seines Berliner Habilitationsverfahrens bescheinigt wurde, er halte sich von »konstruktiver Phantastik« frei, dann hatte man sicher Kantorowicz’ Friedrich-Buch im Auge.127 Aber in dem Maße, in dem Kantorowicz sich den Zielen und der Arbeitsweise der Monumenta Germaniae Historica annäherte und den hohen Ton seiner frühen Werke zugunsten einer nüchterneren Sprache aufgab,128 kamen sich die beiden auch persönlich näher. So wurden sie Freunde. Dass sich ihre Freundschaft in der Zueignung eines wissenschaftlichen Werks von eher spröder Thematik am vernehmlichsten äußerte, lag an Carl Erdmann. Mehr war von einem derart verschlossenen und intellektuell kontrollierten Menschen nicht zu erwarten.

Die »Studien zur Briefliteratur« erschienen 1938. Am Ende des Jahres, gleich nach der »Reichspogromnacht«, verließ Kantorowicz unter dramatischen Umständen Deutschland. Schon lange hatte er die Emigration ins Auge gefasst, nicht nach Spanien, China, Österreich oder in die Tschechoslowakei, sondern gleich in die Vereinigten Staaten: »je weiter fort, umso lieber«. Denn Europa könne man nur mehr kondolieren, »weil alles so hat kommen müssen«.129 Mit Erdmann blieb er in loser werdender Verbindung. In Deutschland galt der vormals gefeierte Autor des Friedrich-Buchs nur noch als ein »Judenhistoriker«, der sich zur deutschen Geschichte geäußert hatte und deshalb das feindselige Interesse einer sich etablierenden »Erforschung der Judenfrage« auf sich zog.130

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