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Paul Fridolin Kehr
ОглавлениеHeute ist der Name nur mehr in mediävistischen Kreisen ein Begriff, darüber hinaus vielleicht noch eine ferne Erinnerung, wenn nicht völlig vergessen. Doch seinerzeit gehörte Paul Fridolin Kehr zu den Stützen der Weimarer Gesellschaft und zählte zweifellos zu den einflussreichsten Historikern in Deutschland.4 So weit kommt man nur, wenn man frühzeitig Ansprüche anmeldet, Konflikten nicht aus dem Weg geht und zunächst den Ärger, dann den Neid der Kollegen aushalten kann. Kehr ließ sich auf keinem dieser Felder etwas vormachen. Schon als junger Professor galt er als enfant terrible. Mit seinem akademischen Lehrer Theodor Sickel überwarf er sich, mit großen Namen in der Zunft legte er sich an. Mit den Monumenta Germaniae Historica stand er damals auf Kriegsfuß.
Vielleicht lässt sich damit das Vorhaben erklären, das er – kaum auf einen bedeutenden Lehrstuhl an der Universität Göttingen berufen und schon Mitglied der dortigen Akademie – eben dieser vorschlug: Man möge für eine Sammlung aller bis zum Jahr 1198 ausgefertigten Papsturkunden die erforderlichen Mittel bereitstellen. Zuerst sollten Regesten (also knappe Inhaltsangaben) erstellt, irgendwann einmal auch die vollständigen Texte publiziert werden. Da aber das Papsttum eine Institution von europaweiter (dem Anspruch nach sogar universaler) Ausstrahlung darstellte, war von vornherein ausgemacht, dass die Überlieferung der Urkunden nicht beim Aussteller, der Kurie in Rom, sondern aufseiten der Empfänger, der zahllosen Bistümer, Klöster, Könige, Fürsten etc., erhoben und die Recherche nach Ländern bzw. Regionen durchgeführt werden musste. »Papsturkunden in …«: So lauteten die Titel der ersten publizierten Ergebnisse und das Gesamtwerk, die »Regesta pontificum Romanorum«, wurde in »Italia Pontificia«, »Gallia Pontificia«, »Hispania (bzw. Iberia) Pontificia« usw. gegliedert. Die MGH hatten es auf das deutsche Mittelalter (in bisweilen großzügig ausgelegten Grenzen) abgesehen und sollten dessen Geschichte umfassend dokumentieren. Das Göttinger Papsturkundenwerk dagegen war als Unternehmen mit europäischem Horizont konzipiert. Eine Abteilung der MGH (für Kehr die zentrale Abteilung) blieb den Urkunden der deutschen Könige und Kaiser vorbehalten. Dass Kehr mit seinem Antrag im Begriff war, ein Konkurrenzunternehmen, eine Art »Gegen-Monumenta«, ins Leben zu rufen, war ihm sicher (und wohl auch der das Projekt bewilligenden Göttinger Akademie) bewusst.5
Als die MGH gegründet wurden und die ersten Mitarbeiter ans Werk gingen, glaubte man, in wenigen Jahren zum Abschluss kommen zu können. So sehr hat man die schiere Masse des Quellenmaterials unterschätzt, von den Problemen der Quellenerschließung ganz zu schweigen. Ähnlich erging es Paul Fridolin Kehr. Laufzeit, Arbeitsaufwand, Finanzbedarf – das alles war haarsträubend illusionär kalkuliert. So seltsam es klingt: Am leichtesten ließ sich die Kostenfrage lösen. Denn Kehr besaß zeitlebens großes Geschick, zahlungskräftige Geldgeber zu finden und für seine Zwecke einzuspannen. Schon nach wenigen Jahren stand das Unternehmen auf einem finanziell soliden Fundament und verfügte über Mittel, die bis zu der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Krise ausreichen sollten. Schon schwieriger schien es, geeignete Mitarbeiter zu finden. Kehr hatte hohe Ansprüche an sie und war selten zufrieden. Nimmt man seine oft wüsten Urteile zum Maßstab, dann hatte er nicht immer eine glückliche Hand.
Als weitere Schwierigkeit stellte sich heraus, dass das Vorhaben an seinem eigentlichen Mittelpunkt, in Rom, nicht vertreten war und keine institutionellen Verbindungen dorthin unterhielt. Kehr ließ sich in Göttingen beurlauben (die »alte Bruchbude« langweilte ihn6) und ging in seinen Forschungen für die »Italia Pontificia« auf. Konflikte mit seiner Alma Mater nahm er billigend in Kauf. Doch auf lange Sicht kam nur die Leitung eines Forschungsinstituts für ihn infrage. Er nahm das seit 1888 bestehende, aber wenig effizient arbeitende Preußische Historische Institut ins Visier und führte einen dreijährigen »Kampf um Rom«.7 Dabei bediente er sich nicht nur lauterer Methoden: Er ging mit einem anonymen Zeitungsartikel an die Öffentlichkeit, intrigierte hinter den Kulissen und pries sich selbst als den künftigen Direktor an – »falsche Bescheidenheit war ihm fremd«.8 Als ihm ein anderer vorgezogen wurde, setzte er diesen beständig unter Druck und gab ihm hinterhältige Ratschläge. Privat nannte er ihn einen »Hanswurst«.9 An dem mächtigen Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff hatte er eine Stütze. Aber bei den Fachgenossen (ein Wort, das er nicht mochte) erregte er Aufsehen und Ärger. Doch der Erfolg gab ihm recht. Sein Kontrahent trat zurück und seitdem hatte Kehr die Direktion des Preußischen Historischen Instituts inne. Dieses war der erste Streich.
Als im August 1914 der Große Krieg ausbrach, waren Kehrs römische Tage gezählt. Die Monate bis zum Kriegseintritt Italiens erlebte er zunächst als »große Enttäuschung« und »bittere Erfahrung«, dann gar als »Martyrium«.10 Neun Jahre, bis 1924, war das Preußische Historische Institut geschlossen. Doch nach Deutschland zurückgekehrt, blieb Kehr nicht lange ohne Amt. Noch im selben Jahr wurde er zum Generaldirektor der preußischen Staatsarchive ernannt, obwohl er den Archivbetrieb bislang nur als Benutzer kannte und vom Archivwesen im Allgemeinen und Grundsätzlichen, von dessen Aufgaben, Organisation und Funktionieren, »völlig ahnungslos« war.11 Kurz vor Kriegsende wurde er außerdem mit der Leitung des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte betraut. Die Pläne dafür reichten weit in die Vorkriegszeit zurück und Kehr hatte sich frühzeitig in Stellung gebracht. Doch vor allem mit den »Berliner Herren« (also den Professoren an der Universität) hatte er es sich nun vollends verscherzt. Friedrich Meinecke ereiferte sich über den »ekligen Kehr«, den man – wie den nicht weniger verhassten Karl Lamprecht – zwar als »Klingelbeutelgenie« gut gebrauchen könne, dessen Persönlichkeit man aber »zum Teufel« wünsche. Lebenslang blieben sie Antipoden.12
Doch damit nicht genug. Zwei Jahre später übernahm Kehr bei den Monumenta Germaniae Historica den Vorsitz der Zentraldirektion. Dass deren Leitung und die Archivdirektion in einer Hand lagen, hatte es auch vorher schon gegeben. Trotzdem waren die Widerstände gerade gegen Kehr erheblich. Man fürchtete um das kollegiale Prinzip, keiner wollte einen »allgewaltigen Diktator«. Aber die Monumenta waren in die Krise geraten und der Ausgang des Krieges hatte diese noch weiter verschärft, nicht nur weil die Gelder ausblieben, sondern auch weil die allgemeinen Erwartungen an Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung sich zugunsten Letzterer verschoben hatten. Ein der Quellenforschung und -edition verpflichtetes Unternehmen wie die MGH geriet unter Druck. Die gelehrten Editoren sahen daher ein, dass das straffe Regiment eines erfahrenen, in finanziellen Dingen kundigen und mit der Politik vernetzten Leiters in der aktuellen Situation mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringen würde. Es war das erste Mal in der Geschichte der Monumenta, dass die Zentraldirektion ihren Vorsitzenden nicht mehrheitlich, sondern einstimmig wählte.13
Kehr hielt also in den 1920er-Jahren vier herausragende Positionen in seiner Hand. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er noch weitere Funktionen übernommen, etwa die Oberleitung der deutschen Kulturinstitute in Rom. Doch obwohl er sich bei den entsprechenden Dienststellen ins Zeug legte und überall »seine Bosheiten über seine römischen Kollegen verspritzte«, gelang ihm das nicht.14 Es blieb bei der Vierzahl. Die Archivdirektion stellte ein hohes staatliches Amt dar und trug ihm den Titel eines Geheimen Oberregierungsrats ein. Der Vorsitz der Monumenta Germaniae Historica muss ihm besondere Genugtuung verschafft haben, zumal er sich schon einmal vergeblich um ihn bemüht hatte.15 Das Kaiser-Wilhelm-Institut hielt ihm die Option auf ein historisches Zentralinstitut offen und das römische Institut machte Kehrs Bedeutung über die Reichsgrenzen hinaus sichtbar. Es lag ihm besonders am Herzen, da er von hier aus seine Forschungen zu den Papsturkunden vorantreiben konnte.
Ob eine solche »beinahe schon unanständige« Ämterhäufung16 den vier von ihm repräsentierten Institutionen auch guttat, steht auf einem anderen Blatt. Kehr versah seine Amtspflichten auf geradezu lässige (um nicht zu sagen: fahrlässige) Weise. Die Staatsarchive (immerhin fast 20 an der Zahl) fertigte er an zwei Vormittagen ab, in Rom ließ er sich zweimal im Jahr für längere Zeit blicken und die Leitung der Monumenta betrachtete er lange Zeit nicht als seine Hauptaufgabe, sondern als Nebenamt, als »Zugabe« zu seinen eigentlichen Aufgaben.17 Später meinte er einmal, zwei Staatsämter gleichzeitig innezuhaben, sei eine Art Bigamie, wovon er ein Lied zu singen wisse. Doch die Einsicht kam spät. Jahrzehntelang lebte er sozusagen polygam und hielt daran fest, dass die von ihm geleiteten Institutionen, vor allem die drei Forschungsinstitute, dem gleichen Zweck dienten. Daraus ergab sich – seines Erachtens zwingend – die Forderung einer einheitlichen Leitung. Andernfalls habe man eine »Hydra mit drei Köpfen«.18
In jedem Fall blieb Kehrs Arbeitsleistung immens. Man muss nur seine Spuren in den Archiven verfolgen, um zu ermessen, wie er mit einer Unzahl von handgeschriebenen Briefen und schnell hingeworfenen Postkarten in seinem Reich regierte. Da war viel Improvisation im Spiel. Aber immer behielt Kehr die Zügel in der Hand und das Ganze seiner Ämter und Funktionen im Auge. Außerdem sah er seine Hauptaufgabe noch immer in der Forschung. Darunter verstand er nicht die Rekonstruktion und Interpretation geschichtlicher Verläufe, sondern nur die Bereitstellung und Erschließung der Quellen. Regesten und Editionen sah er als das Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit an. Die synthetische, den ausufernden Stoff gleichsam beseelende Darstellung blieb ihm zeitlebens fremd. Er hielt sie für historische Belletristik, wenn nicht für völlig entbehrlich. Insofern blieb er reiner Positivist, fest verwurzelt in den Traditionen der deutschen Geschichtsforschung vor dem Ersten Weltkrieg.
Doch auf diesem seinem Forschungsgebiet leistete er Bedeutendes. Seine Arbeitskraft schien unerschöpflich, ja typisch »deutsch«. Ein Augenzeuge in der Schweiz berichtet: »Es war erstaunlich, wie der bereits 68jährige Gelehrte ohne Unterbruch von morgens 8 ½ bis abends 6 Uhr, einzig ausgerüstet mit einem kleinen Paket Zwieback, sich seiner Arbeit hingeben konnte. Nach 6 Uhr gab’s noch einen einstündigen Höhenspaziergang, von welchem Kehr ohne Anzeichen irgendwelcher Ermüdung zurückkehrte.«19 Das war um 1928. In jüngeren Jahren scheint er noch exzessiver geschuftet zu haben.20 Systematisch nahm er die »archivalische Eroberung Italiens« in Angriff.21 Acht Bände »Italia Pontificia« waren das Ergebnis. Die MGH wurden mit drei Bänden »Urkunden der deutschen Karolinger« und einem Band »Urkunden Heinrichs III.« bedacht. Wie getrieben kam er sich manchmal vor; denn auf der »Kutsche seines Lebens« sitze ein Teufel, »der unablässig die Peitsche« schwinge; nicht einmal zum Atemholen bleibe ihm Zeit.22
Ein Kardinal nannte Kehr einmal »einen zweiten Mommsen« (»un altro Mommsen«) und stellte ihn damit auf dieselbe Stufe wie den (trotz Ranke) bis heute wohl prominentesten Historiker in Deutschland.23 Das Diktum wird nur durch Kehr selbst bezeugt und man darf sich fragen, wie viel davon zutrifft. Soll man Kehr mit dem späten Mommsen vergleichen, der das »Corpus Inscriptionum Latinarum« fertigbrachte, spätantike Autoren für die MGH edierte und die bis heute gültige Darstellung des »Römischen Staatsrechts« verfasste, oder mit dem frühen, der für seine »Römische Geschichte« den Literaturnobelpreis erhielt? Bedenkt man Kehrs ganz auf die Urkunden fixierte wissenschaftliche Einseitigkeit, dann ist der Vergleich zu hoch gegriffen.
Kehrs Persönlichkeit hatte viele Facetten. Selbstironie und Selbstbewunderung lagen dicht beieinander. Einen neuen »Proteus« hat man ihn denn auch mehr als einmal genannt.24 Sein Selbstbewusstsein und seine Durchsetzungsfähigkeit waren enorm. In jungen Jahren äußerten sie sich als Keckheit und Besserwisserei,25 später im Vollgefühl seiner überragenden Stellung. Er verstand es, Menschen für sich einzunehmen und Förderung für seine Ziele zu gewinnen. Althoff, Harnack, Otto Braun, der preußische Ministerpräsident, und der Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Friedrich Schmidt-Ott, gehörten zu seinen Unterstützern. Papst Pius XI. nannte ihn gar seinen Freund, einen von angeblich nur dreien.26 Kehr gelang es, ihn zur Errichtung der »Pius-Stiftung für Papsturkundenforschung« zu bewegen und damit das Urkundenwerk dauerhaft, nach menschlichem Ermessen sogar endgültig zu sichern.
Kehrs Denken und Verhalten wurzelten in der Welt des 19. Jahrhunderts. Wo der kleine, korpulente Geheimrat auftrat, war die Kaiserzeit präsent. Früher einmal ein Musterbeispiel des selbstbewussten deutschen Professors, wirkte er noch im hohen Alter wie »ein wandelndes Denkmal wilhelminischen Lebensstils«, nun aber wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten.27 Er dachte in Hierarchien und fest gefügten Ordnungen. Frauen hatten darin nichts zu suchen. Auf einer Bergwanderung bemerkte er zu seinem Begleiter: »Es ist doch überall schön, wo die Weiber nicht hinkönnen. Wenn wir im Mittelalter gelebt hätten, wären wir wohl beide Mönche geworden, wie damals alle klugen Leute.«28 Auch seine (deutlich jüngere) Ehefrau konnte daran nichts ändern. Erst seine Tochter Gudila sollte ihn eines Besseren belehren. Sie erwies sich – so Kehr in seiner sarkastischen Art – »aus einer seltenen, geradezu bizarren erblichen Veranlagung heraus als eine geborene Diplomatikerin« und ging ihm bei seinen letzten Arbeiten zur Hand.29
In den von Kehr geleiteten Institutionen hatte nur einer das Sagen. Kollegial besetzten Gremien traute er grundsätzlich nichts zu: »Sitzungen abhalten, Beschlüsse fassen, Berichte machen ja, mehr aber auch nicht«.30 Als Johannes Haller, selbst ein Egozentriker von Graden, am römischen Institut eigene Rechte beanspruchte, ließ er ihn klipp und klar wissen: »Wenn die Herren des Instituts, hoch oder niedrig, das formelle Recht haben, mit dem Curatorium und dem Beirat des Instituts in Berlin direct amtlich zu verkehren, so kann der Director sich auch gleich einen Strick kaufen, an dem er sich aufhänge.«31 Vielleicht hatte Kehr auch deshalb mit den Universitäten und dem in den Fakultäten peinlich beachteten kollegialen Prinzip so große Probleme, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit über sie herzog: Er hielt sie für »Klippschulen«, die sich – »so sicher wie das Amen in der Kirche« – zu »höheren Volksschulen« weiterentwickeln würden; »Klageweiber«, also Studentinnen, seien dabei »die unentbehrlichen Statisten«.32 Vorlesungen betrachtete er als Veranstaltungen, in denen der Professor »zwölf Hohlköpfen« aus einem (aus deutschen, englischen und französischen Büchern zusammengestoppelten) Kollegheft vorliest.33 Er selbst hatte sich immer gelangweilt und zog es deshalb vor, sich als Autodidakten zu bezeichnen, der »aus Versehen oder Zufall in den Kreis erlauchter Geister geraten« sei.34 Er nannte sich einen »gelehrten Bauersmann, dessen Leibessen Thüringer Käse und Schwarzbrot ist«, einen »Regestenschuster«, in dem »der gelehrte Stumpfsinn geradezu phänomenale Höhen erklommen« habe, und erklärte jedem, der es hören mochte, wie wenig ihm an »Prätension und Pose« des universitären Geschäfts lag.35 Es genügte ihm, wenn er mit seinen Editionen vorankam und »im Bett vor dem Einschlafen statt der Bibel« die letzten Korrekturen erledigen konnte: »Es hat eben jeder seinen Modus vivendi.«36
Deutsche Professoren machten es ihm offenbar leicht, Spott und Häme über sie auszugießen. Den Berliner Ordinarius Max Lenz nannte er einen »Historiker für den Wurstelprater«, den verdienten Mediävisten Adolf Hofmeister empfahl er mit den Worten: »kein Denker, kein Mann von Horizont. Also der geborene Professor einer mittleren Universität«. Die ganze »wissenschaftliche Welt« hielt er für »Gesindel«.37 Seine Widersacher in der Zentraldirektion der Monumenta beschrieb er als überaltert oder desinteressiert; sein Vorgänger habe mit »müdem Szepter« regiert.38 Die meisten Äußerungen dieser Art stehen in Briefen, waren also nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Aber wer dergleichen in einem Privatschreiben las, der konnte sich ausmalen, welche Sottisen in anderen Privatschreiben über ihn selbst zu lesen waren. Außerdem scheute Kehr sich nicht, seine gewollte Distanz zum akademischen Betrieb auch in seinen Publikationen zum Ausdruck zu bringen. Auch deshalb wurde er gehasst und gefürchtet. Das wusste keiner so gut wie er selbst.
Paul Fridolin Kehr in Salerno 1934 (hinter Kehr seine Tochter Gudila).
Erst recht die Mitarbeiter (oder »Hilfsarbeiter«, wie sie lange Zeit hießen) mussten mit einem Vorgesetzten zurechtkommen, der kleinlich und herrisch, unberechenbar und zynisch sein konnte. »Ich stelle um 1h ein und entlasse um 4h« – so sagte er von sich selbst. Er betrachtete seine Untergebenen als »Inventar« oder gar als die »Wurmfortsätze« seiner wissenschaftlichen Arbeit.39 Einen »Tyrannen« nannte ihn einer von ihnen.40 Andere dachten genauso. So berüchtigt war Kehrs Regiment, dass man sich Anekdoten erzählte, die das Zeug hatten, literarisch zu werden.41 Gleichzeitig konnte er unterhaltsam, gewinnend und fürsorglich sein. Die Rechnung war einfach: Wer etwas leistete und sich fügte, der durfte mit Förderung rechnen, mit einem Stipendium, einer Stelle oder Empfehlungen für höhere Weihen. Wer das nicht tat, wurde fallen gelassen. Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Ergebenheit gegen Hilfe, Unterordnung unter der Bedingung wechselseitiger Loyalität. Man kann von wissenschaftlichem Paternalismus sprechen. In dessen Mittelpunkt stand Kehr; er verteilte aus seinem »Gnadenschatz«, was sich die ihm Untergebenen durch ihr Wohlverhalten verdient hatten. Das System funktionierte meistens, aber nicht immer. Gerade ein eigenwilliger Mensch wie Carl Erdmann musste sich fragen, wie viel davon er hinnehmen konnte und woran er nicht mitwirken wollte.