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Schule im Krieg

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Zwischen dem 1. und dem 12. August 1914 erklärten die europäischen Großmächte einander den Krieg und es begann jener massenmörderische Konflikt, der in Deutschland schon seit Langem, später allgemein als Weltkrieg bezeichnet wurde. Schon wenige Tage darauf wurde – wie überall in Deutschland – auch im Blankenburger Gymnasium fast die gesamte Oberprima durch eine beschleunigte Reifeprüfung geschleust, um umgehend an die Front geschickt werden zu können. Sogar die Abituraufgaben standen unter dem Eindruck des Krieges: Hatten sich frühere Jahrgänge im deutschen Aufsatz mit so zeitlosen Fragen wie: »Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht; wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht« auseinandersetzen müssen (1914) oder »Tasso und Antonio – Dichter und Weltmann« miteinander verglichen (1913), so lautete jetzt die martialische Aufgabe: »Arma, virtus, opus sind die Mittel, mit denen der Römer seine Feinde besiegt hat«. Denn in der glorreichen römischen Geschichte sollte sich die nicht weniger glorreiche Gegenwart spiegeln.26


Guido, Eberhard und Carl Erdmann (links) im Matrosenanzug.

Auch Guido Erdmann meldete sich freiwillig an die Front und wollte zum vermeintlich sicheren Sieg seinen Teil beitragen. Schon in den ersten Tagen gründlich desillusioniert, kam er in Nordfrankreich zum Einsatz, wurde aber im Oktober 1914 bei Arras verwundet und nach Hause gebracht. Drei Wochen lag er in der müller-rehmschen »Kuranstalt für Nervenleidende und Erholungsbedürftige«, die jetzt als Lazarett diente. Fast schon genesen, erlitt er einen Rückfall und starb – 18 ½ Jahre alt – an Wundstarrkrampf. Sein Name erschien in der örtlichen Zeitung und auf der »Ehrentafel der ehemaligen Schüler des Gymnasiums«. Kurz vor seinem Tod meinte er, durch sein »Blut« habe die Familie endlich Heimatrecht in Blankenburg erworben. Denn nach wie vor galt sie als zugezogen und fremd. Auf dem neu angelegten Ehrenfriedhof erhielt Guido Erdmann ein schlichtes Grab in der ersten Reihe.27

Keine zwei Jahre später wiederholte sich das Drama. Im Gymnasium lösten Trauer- und Feierstunden einander ab. Der Gefallenen wurde gedacht, bei großen Siegen fiel der Unterricht aus. Der nächste Jahrgang trat in die Fußstapfen der vorigen. Eberhard Erdmann legte wie Guido ein Notabitur ab und kam ebenfalls an der Westfront zum Einsatz. Er brachte es bis zum Fahnenjunker-Unteroffizier, kam aber als Führer einer Patrouille unweit von Arras im gleichen Alter wie sein Bruder ums Leben. Sein Grab ist nicht bekannt. Der Familie Erdmann, der Mutter wie den Geschwistern, wurde ein Übermaß an Leid abverlangt, Leid, das am weltanschaulichen Konsens in der Familie nagte. Doch in der Öffentlichkeit blieb der patriotische Schein gewahrt, war von den »für Kaiser und Reich gefallenen Kriegern« und dem »Felde der Ehre« die Rede. Eine Blankenburger Poetin versprach dem vergossenen »Heldenblut« ewiges Angedenken und dem »deutschen Geist« die Weltherrschaft.28 Bekanntlich entstanden Millionen solcher Gedichte im Ersten Weltkrieg.


Das Grab des Bruders auf dem Friedhof in Blankenburg.

Von den drei Brüdern legte nur Carl eine reguläre Reifeprüfung ab. Für den Krieg taugte er nicht, weder damals noch später. Doch auf intellektuellem Gebiet, hier: in der schriftlichen Prüfung, konnte er immer bestehen. Nicht einmal theoretisch wurde ihm ein Bekenntnis zum Krieg abverlangt. Die Sprache auch der deutschen Aufsätze hatte sich – verglichen mit August 1914 – längst normalisiert, von Krieg, Todesmut, Deutschtum oder dergleichen war nur noch gelegentlich die Rede. Erdmann hatte die schwierige Frage zu beantworten: »Warum werden große Menschen von der Nachwelt richtiger beurteilt als von der Mitwelt?« Gerne wüsste man, wie sich der 17-Jährige aus der Affäre zog. Außerdem hatte er einen Text aus dem Deutschen ins Lateinische, einen anderen aus dem Griechischen ins Deutsche zu übersetzen (nur auf die alten Sprachen kam es an) und vier knifflige mathematische Probleme zu lösen (eines davon war ballistischer, also potenziell martialischer Natur). Die Ergebnisse waren so überzeugend, dass er vom mündlichen Teil der Prüfung befreit wurde.29 Zwar gab es nur zwei Konkurrenten; alle anderen standen im Feld. Aber Erdmann bestätigte, ja übertraf die Erwartungen, die man aufgrund seiner bisherigen schulischen Leistungen auf ihn setzen konnte.

Zensuren sind nur aus Unterprima, also Erdmanns vorletztem Schuljahr, erhalten.30 Doch die jährlich publizierten Schülerstatistiken ermöglichen es, seine schulische Entwicklung über neun Jahre hinweg zu rekonstruieren. Denn jeder Schüler wurde in eine Rangliste eingetragen; daraus ergab sich sein Sitzplatz in der Klasse: Vorn saß der Beste, der Schwächste ganz hinten. Klassenprimus ist Carl nie gewesen und zeitweilig schwamm er nur im Mittelfeld mit. Doch in den ersten Jahren und dann wieder, als es auf das Abitur zuging, gehörte er dem Spitzentrio an. Nie gelang es ihm, seinen Bruder Eberhard zu übertreffen. Doch der war ein Jahr älter und hatte einen natürlichen Vorsprung. Insofern ist es erstaunlich, wie nahe ihm der Jüngere kam.

Er lernte fünf Sprachen, eine davon (Hebräisch) als Wahlfach, und war auch in Mathematik und Naturkunde ein guter Schüler. Sogar beim Turnen schlug er sich wacker. Nur in Zeichnen und Singen musste er passen: Keine Note wurde in das Tableau der Zensuren eingetragen. Er fehlte selten, zeigte gutes Betragen und noch mehr »häuslichen Fleiß«. In keinem einzelnen Fach wurde ihm die Spitzennote zuerkannt. Doch die wurde sehr selten vergeben. Über eine Inflation der Noten konnte sich im alten Blankenburger Gymnasium niemand beklagen. Ein Notenschnitt bei 2.0 galt als glanzvolles Ergebnis.

Schule und Lehrerschaft verschwanden nach der Reifeprüfung aus Erdmanns Blickfeld. An der Einweihung der Gedenktafeln für die 167 gefallenen Lehrer und Schüler im Oktober 1920 nahm er nicht teil, auch nicht an der Jubelfeier 1927, als man ein doppeltes Jubiläum beging und gleichzeitig die Umwandlung in ein Realgymnasium betrieb, schon gar nicht an der 400-Jahr-Feier 1937, als die Umstellung schon vollzogen war. Dadurch blieben ihm einige Festreden, Festkommerse und ein Fackelzug erspart. Die Veranstaltung von 1920 stand noch ganz unter dem Eindruck des verlorenen Krieges. Einer der Redner hielt das ganze Land für ein »Schuttfeld«, mit der Fahne Schwarz-Rot-Gold bedeckt. Die drei Farben stünden für: Zentrum, Sozialdemokratie und Geldgier. Auch in Blankenburg war die junge Republik mit Hypotheken belastet.31 1927 (die Zeiten hatten sich schon ein wenig geändert) wurde mehr »Dienst am Volke« angemahnt und deshalb die Vergangenheit eher kritisch gewürdigt. Nun aber gelte es, »neue Waffen für neue Kämpfe zu schmieden«. Mathematik, Naturwissenschaften und moderne Sprachen könnten dabei helfen. Der »alte Humanismus« habe sich an der deutschen Sprache und damit am »Deutschtum« »versündigt«. Das Lateinische werde immerhin dazu beitragen, das Niveau hoch zu halten und damit das gerade jetzt benötigte Führungspersonal – »Männer mit eigener Initiative und eigenem Verantwortungsbewußtsein« – zu erziehen.32 1937 war das Griechische schon aufgegeben. Carl Erdmann, der in Studium und Berufsleben von seiner Kenntnis der alten Sprachen massiv profitierte, hätte in den allgemeinen Jubel schwerlich einstimmen können. Die klassische Antike ist ihm »durch den Albdruck eines bleiern öden Schulbetriebs« keineswegs so verekelt worden wie vielen anderen in seiner und früheren Generationen.33

Zu einem einzigen Lehrer erhielt er den Kontakt aufrecht: Dr. Ernst Witte, seinerzeit Oberlehrer, später Direktor des Gymnasiums, zwischenzeitlich mit dem Professorentitel gesegnet.34 Er unterrichtete die Fächer Deutsch, Latein, Griechisch und – vielleicht vor allem – Turnen, war also ein Mann von vielen Facetten. Seine Dissertation hatte er in Jena noch auf Latein geschrieben: »Ammianus Marcellinus quid indicaverit de rebus divinis« (1891). Danach verdingte er sich als Turnlehrer nach Sankt Petersburg, um schließlich an verschiedenen Braunschweiger Schulen das »Ideal des Bewegungsspiels« zu propagieren. Man zählte ihn zu den »Spiel-Enthusiasten«, die sich für Faustball, Fußball und dergleichen engagierten. 1896 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern von Hannover 96. 1901 nach Blankenburg versetzt, prägte er über ein Menschenalter hinweg das schulische, das kulturelle und als Stadtverordneter auch das politische Leben der Stadt. Die zitierte Broschüre über Blankenburg als touristische Destination und Ruhewohnsitz stammt aus seiner Feder, ebenso die Geschichte des Gymnasiums bis 1914. Er schrieb ein Schauspiel über einen Müller in Posen und befasste sich mit örtlichen Zelebritäten: Die Frauenrechtlerin Elisabeth Gnauck-Kühne war ihm ebenso wichtig wie der Dichter Wilhelm Raabe oder der »gelehrte Robinson« und preußische Generalfiskal Johann Tobias Wagner, dem er eine kleine Monographie widmete.35 Lange, bis 1933, stand er der Gesellschaft »Literaria« vor, die sich die »Pflege der Wissenschaften« zum Ziel gesetzt hatte, später »gemeinverständlich« wurde und schließlich »Kulturarbeit im Dienste deutschen Volkstums« leisten wollte. So wie die meisten ihrer Mitglieder gehörte Witte zum besitz- und bildungsbürgerlichen ›Establishment‹ in Blankenburg. Die Sorgen der kleinen Leute betrafen ihn nicht. Mit den Anliegen der Sozialdemokratie konnte er nicht viel anfangen. Als er in hohem Alter mit August Winnig zusammentraf (jenem Sozialdemokraten, dessen Namen die frühere Sedanstraße jetzt trägt), da wusste er nicht, wo er ihn einordnen sollte. Die Distanz war beiderseits spürbar. Winnigs Versuch, der »Literaria« beizutreten, war schon viel früher gescheitert.36

Erdmann erlebte Ernst Witte als Ordinarius (Klassenlehrer) in der Grundstufe, dann als Turnlehrer und schließlich als Griechischlehrer bis zum Abitur. Die Vielseitigkeit des Mannes scheint ihn beeindruckt zu haben. Umgekehrt fand Witte an der Ernsthaftigkeit seines Schülers Gefallen. Über die Jahre verwischte sich der Abstand zwischen den beiden. Wenn Erdmann sich später in Blankenburg aufhielt, dann wohnte er bei seinem früheren Lehrer in der Rübeländer Straße, spielte Schach oder Skat mit ihm. Indem er sich im persönlichen Kontakt eher spröde und zurückhaltend zeigte, gab es außerhalb der Familie nicht viele, die sein Vertrauen genossen. Ernst Witte gehörte zu diesen. Wir werden ihm deshalb immer wieder begegnen.

Fackel in der Finsternis

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