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Ein »preußischer Jude«

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Offenbar schwankte der Student Erdmann noch eine Weile, welche Studienrichtung er einschlagen sollte. Er besuchte Vorlesungen aus verschiedenen Fächern und mutete sich einen anspruchsvollen Stundenplan mit zuerst 19, dann sogar 32 Wochenstunden zu. Da er sich seit seiner Auszeit in Pommern für Mathematik interessierte, hörte er Vorlesungen zur Philosophie der Mathematik, über Integralrechnungen und – bei Thomas Manns Schwiegervater Alfred Pringsheim – über Funktionentheorie, was zu dessen Spezialgebieten gehörte. Ob er jemals das Palais Pringsheim in der Arcisstraße betreten durfte, wissen wir nicht. Aber seine Mutter, »Frau Professor Erdmann«, kam der Herrin des Hauses, Hedwig Pringsheim, immerhin so nahe, dass sie keine Scheu hatte, sie daheim aufzusuchen und um Hilfe bei der Wohnungssuche zu bitten.6

Daneben setzte Erdmann seine theologischen Studien fort, nun aber mit eher religionsgeschichtlichem Schwerpunkt. Sogar eine Einführung in »Grundlagen und Grundlehren des Buddhismus« hörte er sich an. Am Ende aber blieb er bei der allgemeinen Geschichte hängen. Immerhin schien der Weg von der Kirchen- zur Profangeschichte nicht allzu weit zu sein und seine theologischen Kenntnisse, nicht zuletzt die Sprachen, die er im Blankenburger Gymnasium gelernt und für sein erstes, das theologische Studium gebraucht hatte: Latein, Griechisch, Hebräisch, sollten sich für seine weitere wissenschaftliche Laufbahn als nützlich erweisen. Dass er sich dabei immer entschiedener der mittelalterlichen Geschichte zuwandte, hat vielleicht damit zu tun, vielleicht aber auch mit persönlichen Eindrücken. Von allen Münchener Historikern, deren Vorlesungen er besuchte, haben ihn weniger die Koryphäen Erich Marcks, Hermann Grauert oder Walter Otto beeinflusst, auch nicht die jüngeren Professoren Rudolf von Heckel und Siegmund Hellmann, sondern ein Außenseiter im Fach: der damals viel weniger bekannte Gymnasiallehrer und Honorarprofessor Paul Joachimsen. Sogar ein Dissertationsthema habe er schon mit ihm vereinbart. Joachimsen soll er später als »seinen eigentlichen, aber auch einzigen Lehrer« bezeichnet haben, »bei dem er vor allem in methodischer Hinsicht viel gelernt habe«.7

Auf die historischen Methoden im engeren Sinn, die Arbeitsweisen des Historikers, in denen Erdmann später brillierte, kann sich diese Aussage nicht beziehen. Joachimsen war kein Paläograph, kein Diplomatiker, kein Epigraphiker oder dergleichen. Das alles konnte man nicht bei ihm lernen, schon gar nicht in so kurzer Zeit. Auch mit den Themen, die er vorzugsweise behandelte – Humanismus, Renaissance, Reformation, Historiographie und Staatsgedanke an der Epochenschwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert –, hat er Erdmanns wissenschaftliche Arbeit nicht beeinflusst. Überschneidungen gibt es so gut wie keine. In keiner seiner Veröffentlichungen hat sich Erdmann jemals auf Joachimsen berufen. Seine Anregung hatten vielmehr grundsätzlichen Charakter: Joachimsen machte ihn auf die fundamentale, also wörtlich: grundlegende Bedeutung der mittelalterlichen Geschichte aufmerksam und wirkte durch die Richtung, die er seinen Forschungen gab. Sein geistesgeschichtlicher Ansatz befähigte ihn, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte in origineller Weise zu erfassen und bis an die eigene Zeit heranzuführen. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der Reformation als prägender Vorgeschichte der Gegenwart, dann der Epoche von Klassik und Idealismus.

Aber auch die Erfahrung des Weltkriegs wurde von Joachimsen als Fluchtpunkt einer langen Entwicklung kritisch und schonungslos gegenüber der eigenen nationalen Tradition reflektiert. Denn auch in der Geschichte des deutschen »Staatsgedankens« könne man jene »tumultuarische Diskontinuität« erkennen, die die deutsche Geschichte insgesamt kennzeichne. Geistesgeschichte verstand er dabei nicht als besondere, isolierte Disziplin, sondern als Fragerichtung, die die politischen, sozialen und kulturellen Gesichtspunkte einschließe.8 Carl Erdmann, der im Sommersemester 1920 Joachimsens Vorlesung und Übung zur »Vorgeschichte der Reformation« besuchte, hat davon profitiert, indem er die Möglichkeiten eines geistesgeschichtlichen Zugangs vorgeführt bekam.9 Nimmt man Erdmanns von Friedrich Baethgen kolportierte Aussage über seinen wissenschaftlichen Werdegang ernst, wird man Joachimsens Einfluss nicht hoch genug einschätzen können. Er steht damit in einer Reihe mit Theodor Schieder, Herbert Grundmann, Ludwig Petry, Rudolf Stadelmann und Alexander Mitscherlich, die später alle in ihrem Fach etwas wurden und sich zu Joachimsen als ihrem Lehrer bekannten. Er konnte durch Strenge begeistern und durch Genauigkeit zur Verantwortlichkeit anregen.10

Außerdem gab Joachimsen ein persönliches Beispiel. In der Zunft war und blieb er ein Außenseiter, der zu keiner der akademischen »Cliquen« gehörte.11 Aber durch die Unbedingtheit, mit der er seinen wissenschaftlichen Interessen nachging, verschaffte er sich Respekt. Die Studierenden nannten ihn einen »preußischen Juden«, der viel verlangte und aus seiner patriotischen, deutschnationalen Haltung keinen Hehl machte.12 Auch bei den Kollegen genoss er deshalb hohes Ansehen. Er galt als »gelehrt, präzis, kritisch und streng«, sein Werk als »eindringend und klar«.13 Dem Primat des wissenschaftlichen Denkens gab er damit Ausdruck. Einen »sich wissenschaftlich gebärdenden Dilettantismus« in der Art Oswald Spenglers wies er weit von sich. Mit einfühlender »Wesensschau« konnte und wollte er nichts anfangen.14 Nicht nur die Vorgehens-, sondern auch die Herangehensweise faszinierte also an ihm: das gelehrte Ethos des Gymnasiallehrers, der sich mit Haut und Haar der Wissenschaft verschrieben hatte und konsequent ein sachliches Ziel verfolgte. Ein OEuvre von »seltener Konsistenz und Geschlossenheit« ergab sich daraus. Alles andere schien demgegenüber nachrangig. 1925, im Alter von nur 58 Jahren, gab er sogar seinen Brotberuf auf. Erdmanns späteres, ähnlich unbedingtes Verhalten lässt sich besser verstehen, wenn man auch dieses Vorbild bedenkt.

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