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Kampagne in Portugal

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Irgendwann im Winter 1925/26 müssen sich Kehr und Erdmann zum ersten Mal begegnet sein. Chroust hatte bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ein Stipendium für seinen »Schüler« beantragt, Kehr ein Gutachten verfasst. Er fand sogleich Gefallen an dem »jungen, sehr intelligenten, eifrigen, durch und durch der Wissenschaft zugewandten Mann« und bot ihm an, in den Dienst des Papsturkundenwerks zu treten.42 So kam es, dass Erdmann zwar sein Stipendium erhielt, aber nicht um sich in Würzburg zu habilitieren, sondern um in portugiesischen Archiven nach Papsturkunden zu suchen. Beide Seiten hatten den Nutzen: Erdmann konnte sich weiter auf einem Feld tummeln, mit dem er sich auskannte, und Kehr war dabei, so wie Italien jetzt auch Spanien »archivalisch zu erobern«. Portugal (das er wohl ebenfalls als eine spanische Appendix ansah) wollte er mitnehmen. Dafür aber gab es keinen Geeigneteren als Erdmann.

Nur der Doktorvater hatte das Nachsehen. Mit leicht vorwurfsvollem Unterton schrieb er einmal an Kehr, er habe ihm Erdmann »ausgespannt«.43 Doch gleichzeitig wusste er, dass er seinem »Schüler« nichts Gleichwertiges bieten konnte und musste geschehen lassen, was geschah. Es war auch nicht das erste und letzte Mal, dass Kehr in fremden Revieren wilderte. Walther Holtzmann, für zwei Jahrzehnte sein engster Vertrauter, hatte er bei Karl Hampe in Heidelberg abgeworben und auch Erich von Guttenberg, Chrousts zweiten begabten Schüler, zog er wenigstens zur Hälfte auf seine Seite, indem er ihn in ein Großprojekt des Kaiser-Wilhelm-Instituts, die Germania Sacra, einband.44 Seitdem hatte dieser gleich zwei »Patronen« zu dienen.45 Auch in diesem Fall kannte Kehr keine Scheu.

Ein halbes Jahr lang hielt sich Erdmann erneut in Portugal auf und besuchte nicht nur Nationalarchiv (Torre do Tombo) und Nationalbibliothek in Lissabon, sondern auch die Archive und Sammlungen in Evora, Coimbra, Viseu, Porto, Braga und Viana do Castelo. Sogar eine örtliche Zeitung berichtete über den Aufenthalt des »deutschen Gelehrten« und brachte alles durcheinander. Über Wochen und Monate war er der Forschung hingegeben und damit, wie selbst im fernen Würzburg vermerkt wurde, »ganz in seinem Element«.46 Er war anfangs »aufs höchste gespannt«, dann in die Arbeit versunken und schließlich völlig erschöpft. Selbst »der wütendste Urkunden-Fanatiker« müsse eine solche Archivreise auf die Dauer als Strapaze empfinden.47 Niemand half ihm; vielmehr drohte er im Material zu ersticken und selbst ein »Aktenbündel« zu werden.48 Zusammengehörige Archivalien lagen über verschiedene Fonds verteilt und wurden durch Findbücher nur unzureichend erschlossen. Das Provenienzprinzip sollte erst später im portugiesischen Archivwesen eingeführt werden. Alles schien noch »im Fluß«.49 Doch Erdmann ließ sich von den labyrinthischen Verhältnissen nicht entmutigen, ging jeder Spur nach und strich nur einmal die Segel.50

Hinzu kamen die alltäglichen Probleme:51 Probleme mit verwanzten Betten in schäbigen Pensionen und Probleme mit Archivaren, die ihre Schätze nicht herausrücken wollten, angeblich nichts finden konnten oder darauf bestanden, dass keine Tinte, sondern allein Bleistift benutzt werden durfte (Erdmann hielt das Reglement für »abscheulich«, empfand es als »Fessel«!). Doch das eine konnte man aushalten und das andere ließ sich regeln, indem Erdmann mithilfe des deutschen Gesandten einflussreiche Unterstützer gewann, vom Bibliotheksdirektor bis hin zum soeben ernannten Kultusminister, einem Professor der Literaturwissenschaft. Selbst als dieser schon nach wenigen Wochen wieder gestürzt wurde, behielt Erdmann das Heft in der Hand. Sogar »Triumphgefühle« stellten sich bei ihm ein, als er die offizielle Erlaubnis erhielt, besonders wertvolle Bestände selbst ordnen zu dürfen, sogar unter Verwendung von Tinte! Er knüpfte Kontakte, antichambrierte bei den maßgeblichen Stellen und verteilte »Trinkgelder« unter den Archivaren. Er gewann Mitarbeiter, initiierte Kooperationen und behielt für sich, was diesen im Weg stand. Geistlichen gegenüber verschwieg er, dass er Protestant, also ein »Ketzer«, war, in staatlichen Archiven, dass hinter dem ganzen Unternehmen der Papst in Rom stand. Dessen Empfehlungsschreiben hatten im revolutionären Portugal keineswegs den gleichen Effekt wie in Spanien.

Sogar diplomatische Gesichtspunkte mussten bedacht werden. Denn die Beziehungen Portugals zum Deutschen Reich waren nach wie vor belastet, Restitutionswünsche standen im Raum. Einer davon bezog sich auf 448 Holzkisten, angefüllt mit spektakulären Fundstücken, die von deutschen Archäologen im antiken Assur ausgegraben und auf dem Seeweg von Basra nach Berlin geschickt worden waren, dort aber erst mit zwölfjähriger Verspätung eintrafen. Der Hapag-Dampfer mit dem sehr deutschen Namen »Cheruskia« gehörte nämlich zu jenen 70 deutschen Schiffen, die bei Kriegsbeginn Zuflucht in Lissabon gesucht hatten und zwei Jahre später beschlagnahmt worden waren. Die wertvolle Fracht – darunter als wohl auffälligstes Stück eine stelengeschmückte Brunnenanlage aus dem frühen 7. Jahrhundert v. Chr. – befand sich mittlerweile in Porto. Über deren Rückgabe wurde jahrelang verhandelt.52 Die deutsche Gesandtschaft versprach sich von einem gemeinsamen Vorhaben der Akademien in Göttingen und Lissabon Rückenwind für ihr Anliegen.53 Allerdings gab es immer noch Vorbehalte gegen die Deutschen. Diplomatisches Geschick und einiges Fingerspitzengefühl waren also erforderlich, um die Unterstützung der Lissabonner Akademie zu gewinnen. Dass darüber hinaus die Verhandlungen über den Verbleib der assyrischen Funde zu einem erfolgreichen Abschluss gelangten und diese endlich nach Berlin expediert werden konnten, wo sie bis heute den Besucher des Vorderasiatischen Museums beeindrucken, lag bestimmt nicht an Erdmann. Aber er konnte sein Scherflein dazu beitragen.

Das alles besorgte Erdmann allein, umsichtig und so selbstbewusst, dass ihn Kehr gelegentlich zurückpfiff. In seinem gedruckten Bericht ging er nur indirekt und in höflichen Worten auf die vielfältigen Hemmnisse und Beschwernisse ein, ließ nur durchblicken, wie sehr sie ihm zusetzten, und hob hervor, dass ihm auch viel Unterstützung zuteilwurde. Kehr dagegen nahm wie immer kein Blatt vor den Mund und gab – teilweise wörtlich – weiter, was sein junger Mitarbeiter ihm mitgeteilt hatte: »[…] das eigentliche Prinzip in diesem Lande ist Unordnung nicht nur in der politischen, auch in der wissenschaftlichen Verwaltung; das andere Indolenz und Gleichgültigkeit gegen die historische Tradition. Vom Mittelalter wissen die dortigen Historiker und Archivare fast nichts mehr; sie beschäftigen sich nur noch mit den neueren ›seculos gloriosos‹ der portugiesischen Geschichte. Das große Nationalarchiv der Torre do Tumbo [sic!] in Lissabon ist ein wüstes Magazin von zum guten Teil noch ungeordneten Fonds, an die die Archivare Niemanden heranlassen.«54

Doch die Ausbeute war reichlich, die Jagd nach den Inedita erfolgreich. Ausdauer und »heroische« Selbstüberwindung vorausgesetzt, konnte man in Portugal noch »Archivabenteuer« bestehen, für die man mit Entdeckerfreuden belohnt wurde. Erdmann schwelgte in Funden und teilte gerne von seinem Finderglück etwas mit. Er nannte sich einen »eroberungsfreudigen Forscher«, für den die Arbeit mit unbekannten Schätzen »geradezu eine Lust« sei.55 Er machte sich damit Kehrs »kulturimperialistische«, auf nationale Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmende Wortwahl56 zu eigen. Man sollte aber die Begriffe nicht auf die Goldwaage legen. Schließlich handelte es sich um eine friedliche Form der ›Landnahme‹ (so wie einst Richard Wagner »das wunderbare Venedig musikalisch in Angriff nahm« und Thomas Mann sich einmal vornahm, Jean Pauls »Flegeljahre« durch die Lektüre zu »erobern«57). Außerdem kam es Kehr nicht auf den nationalen Aspekt an, sondern ausschließlich auf den wissenschaftlichen Ertrag.

Der aber war erheblich. Fast 160 von ihm aufgefundene und komplett edierte Papsturkunden stellte Erdmann in seinem Arbeitsbericht zusammen. Ein Großteil von ihnen war bis dahin völlig unbekannt gewesen. In einer Abhandlung für die Preußische Akademie der Wissenschaften unterzog er sie einer ersten Auswertung und führte vor, welche Aufschlüsse sich aus einem so aufwendigen Unternehmen gewinnen ließen.58 Neues Licht fiel auf die Entstehung des portugiesischen Königtums und dessen Bemühungen um Abgrenzung von den spanischen Reichen (Kastilien, León), auch und gerade in kirchlicher Hinsicht. Die schmale Monographie traf auf einen Nerv im Selbstverständnis der Republik Portugal und wurde sofort ins Portugiesische übersetzt. Die »Portugalia Pontificia« dagegen, der portugiesische Teil des Göttinger Papsturkundenwerks, ist auch heute noch ein ganzes Stück weit von ihrer Vollendung entfernt.

Kehr hatte also allen Grund, zufrieden zu sein. Seine Erwartungen an den »jungen, sehr intelligenten, eifrigen, durch und durch der Wissenschaft zugewandten Mann« waren nicht nur nicht enttäuscht, sondern weit übertroffen worden. Er hatte sich vortrefflich bewährt und das verworrene portugiesische Material in eine Ordnung gebracht. Stolz nahm er für sich in Anspruch, der einzige Zeitgenosse zu sein, »der die komplizierte Geschichte der geistlichen Archive Portugals im 19. Jahrhundert im Ganzen kapiert hat«.59 Als Erdmann sich noch in Lissabon aufhielt und sich gerade intensiv mit den ungedruckten Akten des Konzils von Sahagún von 1121 befasste, bot Kehr ihm deshalb eine Stelle als »Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« am Historischen Institut in Rom an, die soeben frei geworden war. Er zierte sich ein wenig und nahm schließlich doch an.60 Sechs reiche römische Jahre sollten daraus werden.

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