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DER FALL KANTOROWICZ »Onkel Tauts Hütten«
ОглавлениеCarl Erdmann lebte ab Juli 1932 in Berlin, sah also den Niedergang der ersten deutschen Republik und den Übergang der politischen Macht an die NSDAP. Zusammen mit seiner Mutter bewohnte er eine Dreizimmerwohnung in einem Neubaugebiet: der »Onkel-Tom-Siedlung« (oder »Waldsiedlung«) in Berlin-Zehlendorf, die von den »Star-Architekten« Bruno Taut, Otto Rudolf Salvisberg und Hugo Häring im Auftrag zweier gemeinnütziger Gesellschaften (GEHAG, GAGFAH) geplant und erbaut worden war. Dort – mit Bad, Balkon und Einbauküche, zudem im Grünen – lebte es sich wahrlich nicht schlecht. Die Siedlung (spöttisch »Onkel Tauts Hütten« genannt) galt als Paradebeispiel des sozialen Wohnungsbaus und sollte hohe Wohnqualität mit bezahlbaren Mieten verbinden.1 Die Widerstände im Zehlendorfer Bürgertum legten sich, als sich herausstellte, dass doch weniger unerwünschte »Proletarier« als Angehörige der (unteren) Mittelschicht einzogen. Auch Erdmanns Nachbarn kamen aus ihr: Kaufleute, ein Lagerverwalter, ein Bankbeamter, ein Komponist und ein Pfarrer, ein paar Hausnummern weiter sogar ein Professor. Nur wenige Mieter verfügten über einen Telefonanschluss, darunter Carl und Veronika Erdmann. Das namengebende Ausflugslokal »Onkel Toms Hütte« dagegen soll sogar von Prominenten wie Joseph Goebbels und Hermann Göring frequentiert worden sein. Der Inhaber, Arthur »Willi« Kannenberg, machte zwar Pleite, war aber eine Art Stimmungskanone und avancierte später zum Hausintendanten Adolf Hitlers.2
Doch das spielte für Erdmann ebenso wenig eine Rolle wie das vielfältige Angebot an Kabaretts, Varietés, Tanzlokalen und Vergnügungsparks, die es in Berlin – ungeachtet der schwierigen ökonomischen Lage – nach wie vor gab.3 Selbst von Theater-, Konzert- oder Museumsbesuchen weiß man nichts. Das hat wahrscheinlich mit seiner finanziellen Situation zu tun. Er lebte von einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (wie die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft jetzt hieß). Das aber musste für zwei Personen ausreichen. Tagsüber hielt er sich in der Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica auf, wo er sein »Arbeitsquartier« aufschlug.4 Die Wohnung in Zehlendorf passte dazu: Sie war relativ preisgünstig und hatte zwei weitere für Erdmann wesentliche Vorzüge: Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie war das Neubaugebiet an das Berliner Verkehrsnetz angeschlossen worden. Universität und Bibliotheken konnten also leicht erreicht werden. Die Fahrzeit soll sich Erdmann mit der Lektüre von Horaz-Gedichten verkürzt haben.5 Zweitens war seine Schwester Yella mit ihren beiden minderjährigen Kindern in die nahe gelegene Gemeinde Kleinmachnow gezogen. Die Eltern hatten sich getrennt. Onkel »Carlo« beteiligte sich an der Erziehung und übernahm Verantwortung für seinen Neffen. Die wissenschaftliche Arbeit und etwas Familienleben: An diesen beiden Fixpunkten glaubte er, seine Berliner Existenz orientieren zu können.
Berlin-Zehlendorf, Onkel-Tom-Str. 141.