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Mussolinis Rom

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»Rom ist eine Welt«, wenn nicht die »Hauptstadt der Welt«, ein »Meer der gewaltigen Eindrücke«, denen sich kein Besucher entzieht. Da waren Goethe und Marianne Weber sich einig.61 Als Erdmann im November 1926 seinen Dienst in Rom antrat, tauchte er in ein historisch-politisches Umfeld ein, wie weltweit kein zweites zu finden war, damals noch weniger als heute. Wenige Jahre vorher hatten faschistische Milizionäre mit dem sogenannten Marsch auf Rom (der so wie später behauptet gar nicht stattfand) das liberale Italien überrumpelt und die Staatsgewalt an sich gerissen. Benito Mussolini übernahm die Regierung. Binnen Kurzem baute er seine Befugnisse aus und begründete eine ganz auf seine Person zugeschnittene, schon zeitgenössisch als »Mussolinismus« umschriebene Diktatur. Gerade in den Jahren 1925/26 wurden dafür die Weichen gestellt. Gesetze und Verordnungen, die die Organisationen der Opposition auflösten, Sondergerichte einsetzten und die Verfolgung von Regimegegnern legalisierten, wurden kurz vor und nach Erdmanns Ankunft erlassen.62 Mussolini besaß Charisma (das er inszenatorisch quasi permanent unterstrich), er gab sich volksnah und hatte durchaus auch Erfolge, sowohl in der Außenpolitik als auch auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet. Dadurch erwarb er sich Zustimmung bei der Bevölkerung und Ansehen im Ausland. Hier wie da begann sich ein »Mythos« um seine Person zu legen, besonders in Deutschland. Vor allem dort ertönte der »Schrei nach dem Führer«, dem Charisma unterstellt und Größenwahn verziehen wurde.63 Das mochte ein Philosoph sein wie Martin Heidegger oder ein Dichter wie Stefan George mit ihren heimlichen Reichen. Doch am Ende richteten sich die Erwartungen auf die Politik oder etwas, was man so nannte. Die Wirren der frühen 20er-Jahre wurden als Versagen der parlamentarischen Demokratie wahrgenommen, Mussolini und der italienische Faschismus als »Nemesis für die liberale Idiotie«.64 Man verlangte nach einer »italischen Tat«65 und ahnte nicht, wie rasch und wie radikal Begriffe wie »Führer« und auch »Tat« umdefiniert würden, um schließlich die Zerstörung der deutschen Demokratie zu besiegeln.

Zudem verstand es Mussolini, die Ansprüche konkurrierender Machtzentren gegeneinander auszubalancieren. Obwohl er (ebenfalls seit 1925) den Titel des »Duce« führte, blieb der König formell und protokollarisch das Staatsoberhaupt in einer konstitutionellen Monarchie. Einen spektakulären Coup aber landete Mussolini mit dem Abschluss der Lateranverträge mit dem Vatikan. Da die italienischen Zeitungen über den Verlauf der Verhandlungen nicht berichten durften, war der Effekt umso größer. Sechs Jahrzehnte, seit der Beseitigung des Kirchenstaats 1870, hatten die Päpste in stummem Konflikt mit dem italienischen Staat ausgeharrt. Durch die Schaffung des Vatikanstaats wurde die »römische Frage« gelöst, Staat und Kirche waren miteinander versöhnt. Die italienischen Katholiken (also nahezu die gesamte Bevölkerung) sahen sich von einem lastenden Dilemma befreit. Erst durch die Verträge wurde es wieder möglich, »zugleich ein loyaler Italiener und ein guter Katholik zu sein«.66

Ein begeisterter Beobachter aus dem Ausland hob darüber hinaus die symbolische Bedeutung des Geschehens hervor: »die ästhetisch grossartigste Verwirklichung der konservativen Idee […], die sublimste Vergeistigung des Territorialprincips«. Dass »das ›Tempo‹ besiegt wird von der Dauer, die Börsen- und Jazzwelt von einer spirituellen Macht, die materialistische Politik von einem Priester«, fand er »erhebend und mitreissend«.67 Mussolini hatte sich in nächtelangen Sitzungen persönlich für das Vertragswerk engagiert, weil er gerade diesen Erfolg brauchte. Der Papst glaubte, in ihm einen Mann zu erkennen, den die »Vorsehung« geschickt habe.68 Die drei Machtzentren kooperierten also und belauerten sich. Zudem lagen sie dicht beieinander. Der »Duce« residierte zunächst im Palazzo Chigi, dann im Palazzo Venezia an der gleichnamigen Piazza, der König im Quirinalspalast über der Altstadt, der Papst auf der anderen Seite des Tibers. Die römische Topographie gab sozusagen den von Mussolini eingerichteten und geschickt moderierten »Herrschaftskompromiss«69 wieder.

Carl Erdmann hatte sechs Jahre Zeit, sich in die Verhältnisse einzuleben. Es waren jene Jahre, in denen dem »Duce« zu gelingen schien, was immer er anpackte: Die Krise des Jahres 1924, als die Ermordung des sozialistischen Oppositionsführers Giacomo Matteotti das politische Italien erschütterte, erlebte Erdmann nicht, und als Mussolini mit dem Überfall auf Äthiopien seinen Untergang einleitete, hatte er das Land längst verlassen. Gerne wäre er länger geblieben. Keineswegs haben ihn die politischen Zustände belastet. Vielmehr war er bereit, zwischen dem »Duce« auf der einen und den faschistischen Milizen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Als er Jahre später als Dolmetscher in Albanien eine Abteilung mit italienischen Soldaten zu betreuen hatte, wunderte er sich, wie gut er sich mit ihnen stellte, »obwohl es sich um eine Schwarzhemden-Truppe handelte«.70 Den Sturz des »Duce« dagegen hielt er für eine »echte Tragödie«; denn dieser habe sich »vor seinem Lande und vor der Geschichte« einen »guten Namen« erworben.71

Dabei standen ihm sowohl die eigenen Eindrücke wie die allgemeine Meinung über Mussolini in den 20er- und frühen 30er-Jahren vor Augen. Gerade in Deutschland bestand großes Interesse an dem Mann, der ein alternatives und sogar überlegenes Regierungssystem zu vertreten schien.72 Auch für die korporative Wirtschaftsverfassung, die ab 1925 in Italien wenigstens theoretisch bestand, konnte man angesichts eigener desaströser Erfahrungen Sympathien aufbringen.73 Begeisterte Zustimmung, vorsichtige Skepsis und entschiedene Ablehnung hielten einander die Waage. Doch gerade bei den Intellektuellen überwog Faszination.74 Wer also über genügend Ansehen und die entsprechenden Verbindungen verfügte, bemühte sich um eine Audienz beim »Duce«, um Klarheit zu gewinnen und sich womöglich einen authentischen Eindruck von dessen »Genie« zu verschaffen. Ausgerechnet ein Mediävist, der Berliner Privatgelehrte Ferdinand Güterbock, eröffnete den Reigen. Schon 1923 hatte er ein euphorisches Büchlein über Mussolini und den Faschismus geschrieben und sich damit ein persönliches Gespräch verdient.75 Zu seinem Glück emigrierte er 1937 nicht nach Italien, wo er als Jude schon ein Jahr später die neuen Rassegesetze zu spüren bekommen hätte, sondern in die Schweiz, wo er 1944 unbehelligt verstarb.76

Carl Erdmann stand also nicht allein mit seinem positiven Urteil über den »Duce«. Es ging ihm umso leichter über die Lippen, als es sich mit seiner eigenen politischen Haltung in Einklang bringen ließ. Man kann sie als nationalkonservativ bezeichnen: national, weil die Nation in Erdmanns persönlichem Wertekanon hoch oben rangierte. Wenn es sein müsse, würde er sich für sie »totschießen lassen«, schrieb er einmal in einem ungewohnten Anflug von Pathos.77 Das hatte er in seiner Familie, also durch Herkunft und Erziehung, gelernt. Gerade bei den Deutschbalten wurden, wie gezeigt, die Bindungen an das deutsche, das »theure« »Mutterland« rational und emotional gepflegt. Erdmanns Großonkel Johann Eduard hatte sich gut mit Bismarck verstanden und dessen Politik mitgetragen, worauf die ganze Verwandtschaft stolz war.78 Konservativ, weil er Traditionen nicht nur erforschte, sondern ihnen auch anhing. In seiner Familie sei es »von jeher Lehre gewesen, nur das Bewährte zu lieben«.79 Revolutionen hat er erlebt, aber sie blieben ihm fremd, sei es, dass er an ihrer Niederschlagung mitwirkte (Berlin im Januar 1919) oder vor dem »rebellischen Münchner Geist« warnte (Frühjahr 1919), sei es, dass er die Rolle eines distanzierten Beobachters einnahm (in Portugal). Was sich in Spanien ereignete, berührte ihn nicht – Hauptsache, seine Forschung wurde nicht weiter behindert.80

Ansonsten hielt er sich von der Politik fern. Wie viele andere gebildete Zeitgenossen, die den Traditionen des deutschen Idealismus folgten, suchte er einen Standpunkt jenseits der Parteien und über den Niederungen des politischen Alltagsgeschäfts und so wenig wie diese sah er ein Risiko darin. Sich mit Politik zu befassen, hätte auch Erdmann als Zeitverschwendung betrachtet.81 Da er sich so selten in Deutschland aufhielt, bekam er von den Turbulenzen der Weimarer Republik wenig oder nur indirekt etwas mit. An Wahlen nahm er offenbar nicht öfter als zweimal teil: an den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 und am zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 1925, als er den Kandidaten des »Reichsblocks«, das Kriegsmonument Hindenburg, wählte. Die Warnung eines Namensvetters, dass ein großer Feldherr nicht auch ein bedeutender Staatsmann sein muss, hat ihn offensichtlich nie erreicht. Umso weniger traute er den politischen Parteien zu; er hielt sie je länger je mehr für »bankrott«.82 Dass sie in Italien (mit Ausnahme einer einzigen) von der Bildfläche verschwunden waren, wird ihn nicht sonderlich gestört haben.

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