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Am europäischen Rand
ОглавлениеDoch Erdmann blieb nur zwei Semester in München. Wie Hermann Heimpel und George (Wolfgang) Hallgarten scheint die Alma Mater Monacensis mit ihrer Mischung »aus Koryphäen und Subalternen« auch ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben.15 Da er mit dem, was München einmal hatte »leuchten« lassen – das schöne Leben der Bohème und die letzten Reste von »Wahnmoching« –, nichts anfangen konnte und da er sich auch für die Turbulenzen im »politischen Brutkasten Bayern«16 nicht weiter interessierte, gab es nichts, was ihn hier festhielt. Er war jetzt 23 Jahre alt und zu einem gewissen Abschluss seiner persönlichen Entwicklung gekommen. Hatte er als Student noch mit Stehkragen, Mittelscheitel und Pomade experimentiert, so gehörten von nun an Jackett, Krawatte und Einstecktusch unverzichtbar zu seinem Outfit. Konnte er früher fast dandyhaft wirken, so strahlte er nun Gediegenheit aus. Zuerst eine Nickel-, dann eine Hornbrille unterstrich seinen Anspruch auf »Geistigkeit«, den er zeitlebens hochhielt. Sein Studienfreund Franz Röhn machte sich deshalb über ihn lustig. Auf den frühen Fotografien schaute Erdmann oft verlegen zur Seite, alle späteren bringen sein gewachsenes Selbstbewusstsein zum Ausdruck.
Erneut nahm Erdmann eine Stellung als Hauslehrer an, dieses Mal jedoch nicht aus eigenem Antrieb, sondern durch die äußeren Umstände veranlasst. Nach dem Tod seiner älteren Brüder sah er sich in der Pflicht, für seine Mutter zu sorgen. Von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Familie erfährt man nicht vel. Aber offenbar gehörte sie zu denjenigen in Deutschland, die in Krieg und Nachkriegszeit Vermögen und Einkünfte verloren hatten. Sie musste deshalb ihre Lebensverhältnisse neu ordnen. Die beiden Schwestern konnten noch am Blankenburger Gymnasium das Abitur ablegen, extern zwar, aber als erste weibliche Schüler überhaupt.17 Danach, seit 1920, sind die Erdmanns in Blankenburg nicht mehr zu finden. Die Töchter heirateten, Yella ergriff einen Beruf, Veronika wurde mit ihren Gedichten mäßig erfolgreich. Carl konnte zum Unterhalt der Mutter beitragen, da die Hauslehrerstelle offenbar gut dotiert war. Allerdings musste er sich dafür ins Ausland verdingen. Er trat in den Dienst einer deutsch-jüdischen Familie, die sich zunächst in der Schweiz und in Spanien aufhielt, dann in Portugal in Lissabon lebte. Drei Jahre, von 1921 bis 1924, verbrachte er dort.
Den Namen seines Dienstherrn erfahren wir nicht. Doch alles deutet darauf hin, dass die Familie Weinstein ihn engagierte, eine bedeutende Unternehmerfamilie, die in der Geschichte der deutsch-portugiesischen Beziehungen eine überragende Rolle spielte und sich – beispielsweise – maßgeblich an gemeinsamen Infrastrukturprojekten in Portugals afrikanischen Kolonien beteiligte. So groß waren die Räder, an denen sie drehte.18 Doch der Weltkrieg machte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung. Erst 1921 kehrte Benno Weinstein nach Lissabon zurück. Sein einziger Sohn, Hans Bernhard Weinstein, war damals elf Jahre alt. Ein Privatlehrer aus Deutschland sollte die Verbindung zu Sprache und Kultur der alten Heimat aufrechterhalten. Carl Erdmann scheint derjenige gewesen zu sein, der diese Aufgabe übernahm und aus dem täglichen Umgang mit seinem Schüler entwickelte sich eine persönliche Beziehung. Erst in den frühen 1930er-Jahren, als der junge Weinstein sein eigenes Leben organisierte, schlief die Korrespondenz ein.19
Das alles wäre nicht weiter erheblich, würde es nicht etwas über die mit Erdmanns Tätigkeit verbundenen Möglichkeiten aussagen. Sicher lebte er im Haus seines Dienstherrn und nahm in gewissen Grenzen am Alltag der Familie teil. Er erhielt einen Eindruck von den Schwierigkeiten, in Portugal erneut Fuß zu fassen, hörte von Restitutionswünschen und den Hindernissen, die ihnen im Weg standen, und lernte im Haus Weinstein wohl auch die führenden Mitglieder der deutschen Gemeinde in Lissabon kennen, zum Beispiel Ernst Arthur Voretzsch, den Gesandten des Reichs in Portugal. Ein paar Jahre später sollte dieser ihn tatkräftig bei seiner wissenschaftlichen Arbeit unterstützen, indem er ihm Türen aufschloss und Kontakte vermittelte. Voretzsch galt nämlich nicht nur als der bestaussehende deutsche Diplomat, sondern hatte auch für Kunst, Kultur und Wissenschaft viel übrig.20 Wurde er schon damals auf den jungen, intelligenten Hauslehrer aufmerksam, dann konnte dieser später daran anknüpfen. Zweifellos hatte es Vorteile, in einem so vornehmen Haus wie dem der Weinsteins eine Stellung zwischen Personal und Familie einzunehmen. Darüber hinaus lassen sich über diese Phase von Erdmanns Leben nicht einmal Vermutungen anstellen.21 Man muss sich ihr von außen annähern und versuchen, sich durch die Beschreibung der politischen und kulturellen Verhältnisse einen Eindruck von seinen Lebensumständen in Portugal zu verschaffen.
Lissabon war mittlerweile ein schwieriger Ort ungeachtet seiner reichen Geschichte, ungeachtet seiner früheren Bedeutung. Den Glanz der Vergangenheit überdeckten die Zeichen des Niedergangs und das schon seit Langem. Als das große Erdbeben von 1755 die Stadt in Schutt und Asche legte, richteten sich noch einmal aller Augen auf sie, danach nicht mehr. Ein König von Siam, der von Europa lernen wollte, fand nichts, was ihn beeindrucken konnte: Wasser und Klima – sehr schlecht, Pünktlichkeit – unbekannt, der Königshof – desolat, der allgemeine Zustand – konfus; mit einem Wort: »Alles ging schief.« Ein schlimmeres Land habe er auf seiner ganzen Reise nicht gesehen. Ein deutscher Diplomat, der von Bukarest nach Lissabon versetzt wurde, zog nicht Interesse oder gar Neugier, sondern Mitleid auf sich.22 Immer mehr war Portugal ins Hintertreffen geraten, immer weniger nahmen das karge Land und seine theatralische Metropole an den Entwicklungen in Europa teil. Längst hatte man sich an die Rolle des unbeteiligten Zuschauers und indolenten »Eckenstehers« gewöhnt.23 Wenn aber doch etwas geschah, dann wurde der Abstand noch größer. Der gebürtige (Deutsch-)Balte Carl Erdmann war nicht nur geographisch am anderen Ende des Kontinents angekommen.
Schon die politischen Verhältnisse forderten Bewohner und Besucher, Residenten und Reisende gleichermaßen heraus: Ab 1910 besaß Portugal eine republikanische Verfassung. Diese wurde aber so extensiv ausgenutzt, dass die Republik nur 16 Jahre lang bestand. In diesem Zeitraum wurden acht Staatspräsidenten gewählt und 44 Regierungen gebildet. 21 Koalitionsregierungen brachen auseinander. Einparteienregierungen überlebten nur unwesentlich länger. Allein im Jahr 1920 folgten sieben Kabinette »in fast schwindelerregenden Tempo« aufeinander.24 Die Regierungen kamen und gingen, die Probleme des Landes blieben ungelöst liegen: der übergroße Anteil des landwirtschaftlichen Sektors und die geringe Zahl von Fabriken, überhaupt der Mangel an exportfähigen Produkten, ein niedriges Urbanisierungsniveau und eine miserable Infrastruktur, die Armut auf dem Lande und daraus folgend die Abwanderung in andere Länder (nicht wie offiziell gewünscht in die eigenen Kolonien), der Verfall der Landeswährung und der desaströse Zustand der staatlichen Finanzen, um nur die gravierendsten Missstände zu benennen. Dass Portugal pro forma immer noch über ein Imperium verfügte, dürfte eine bessere Entwicklung weniger begünstigt als erschwert haben. Denn längst waren die Kolonien zum Ballast oder zum bloßen Vorwand für die Eliten geworden, um auf den Vorzügen der Vergangenheit zu bestehen. Ökonomische Rückständigkeit und politische Unruhe blieben nach wie vor miteinander verquickt. Extreme Instabilität charakterisierte die Lebensverhältnisse in Portugals Erster Republik.
Da diese unfähig schien, die Situation spürbar zu verbessern, wurde immer wieder der Ruf nach dem Eingreifen des Militärs und/oder eines starken Mannes laut. Mit der Diktatur des ehemaligen Diplomaten, Majors und Universitätsprofessors Sidónio Pais erlebte Portugal als erstes Land in Europa die Herrschaft eines charismatischen »Führers«. Sie dauerte aber ebenfalls nur zwölf Monate und endete mit der Ermordung des Präsidenten. Revolten, Revolutionen, Staatsstreiche, Aufstände und andere Formen politischer Gewalt gehörten in jenen Jahren zum portugiesischen Alltag. Deren Höhepunkte bildeten die »Blutnacht« (noite sangrenta) vom 19. Oktober 1921, als sich radikale politische Ziele mit persönlichen Motiven zu einem Ausbruch kollektiver Mordlust verbanden, sowie der Militärputsch vom 28. Mai 1926, mit dem die Republik zu Ende ging und der »Neue Staat« (Estado Novo) des professoralen Diktators António de Oliveira Salazar auf den Weg gebracht wurde. Immerhin hielt Salazar das Land aus den Konflikten der 30er- und 40er-Jahre heraus, sodass sich die Rolle des »Eckenstehers« sogar als vorteilhaft erwies.
Wenn sich irgendwo im West- oder Mitteleuropa der 1920er-Jahre jemand nach einem attraktiven und einigermaßen sicheren Reiseziel umsah, wäre er nicht so leicht auf Portugal gekommen. Für deutsche Besucher kam erschwerend hinzu: Portugal hatte im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft, nicht von Anfang an und auch nicht mit allgemeinem Applaus. Einwände und Vorbehalte gab es immer. Deutschfreundliche und antideutsche Stimmen hielten einander die Waage. Die einen meinten das Deutschland Goethes und Heines, die anderen den preußischen Militarismus. Daran änderte auch ein erster militärischer Schlagabtausch zunächst nichts. Denn er fand in Südwestafrika, also an entlegenem Ort, statt. Beschädigt wurde das deutsche Ansehen durch den »Aufruf an die Kulturwelt«, den 93 Professoren und andere Intellektuelle unterschrieben. Eigentlich sollte er den deutschen Standpunkt rechtfertigen, vor allem gegenüber den neutral gebliebenen Staaten. Doch das Gegenteil war der Fall: Auch in Portugal wurde der »teutonische Vandalismus« immer lauter attackiert. Zwei Solidaritätsadressen, die eine Gruppe republikanischer Intellektueller publizierte, um den preußischen Militarismus als atavistische Verirrung eines verfehlten Bildungswesens zu brandmarken, wurden in Deutschland als offizielle Stellungnahmen der Lissabonner Akademie der Wissenschaften missverstanden. Eine polemische Übersetzung verschärfte noch den Ton. Seitdem waren die Wissenschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern schwer belastet.25 Nach langem Zögern ließ sich schließlich auch das politische Portugal auf die Seite der Alliierten ziehen. 70 deutsche und zwei österreichische Handelsschiffe, die in portugiesischen Häfen Unterschlupf gefunden hatten und bis 1916 dort ankern durften, wurden beschlagnahmt und an England ausgeliefert. Die deutsche Kriegserklärung folgte auf dem Fuß.
Ab 1917 kämpfte ein portugiesisches Expeditionskorps unter englischem Kommando in Flandern, ein zweites in Nordfrankreich. Die junge Republik erhoffte sich davon nicht nur die Sicherung der überseeischen Kolonien, sondern auch, wenn nicht noch mehr eine Aufwertung ihrer Stellung gegenüber den europäischen Mächten. Die in Portugal lebenden Deutschen mussten das Land verlassen, ihr Eigentum wurde beschlagnahmt und versteigert. Die deutsche Kolonie in Lissabon löste sich auf. Nach dem Ende des Krieges und der allmählichen Normalisierung der Beziehungen kehrten die Deutschen nach und nach zurück. Sie mussten aber lange Wartezeiten in Kauf nehmen, bis das Leben am Ort so wie früher funktionierte.26 Im Zuge dieses Neuanfangs kam Carl Erdmann in die portugiesische Hauptstadt.
Worauf er sich eingelassen hatte, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, was es damals hieß, nach Portugal zu reisen. 58 Stunden war man von Berlin nach Lissabon unterwegs, und gibt man dem Baedeker recht, dann konnte das Land nur als ein Anhängsel Spaniens gelten: fünf Tage für Lissabon, Porto, Coimbra und Sintra – das musste genügen. Alles andere lohne sich nicht. Randlage und Rückständigkeit bestimmten die Erwartungen der Besucher. Selbst wer wie der große Romanist Ernst Robert Curtius mit der portugiesischen Literatur und Sprache (abgesehen von den »schreckenerregend[en]« Nasalen) etwas anzufangen wusste, konnte sich des Eindrucks eines zivilisatorischen Stillstands nicht erwehren, glaubte »Urformen des Menschendaseins« in einer »pastoralen Idylle« zu sehen.27 Erst recht der gewöhnliche Besucher nahm an der Einfachheit der Lebensverhältnisse und den damit verbundenen Einschränkungen Anstoß. Auch die Warnungen vor geldgierigen Bootsleuten, minderwertigem Kolonialgeld, bescheidenen Unterkünften und – siehe oben – einer befremdlichen Sprache verhießen nichts Gutes. Offenbar gab es nicht viele, die für längere Zeit und ausschließlich nach Portugal reisten. Zu weit schien der Weg, zu gering der Ertrag.28
Zu denen, die es trotzdem taten, gehörte Reinhold Schneider, damals – 1928/29 – ein unbekannter Schriftsteller, der noch nichts publiziert hatte. Mehrere Monate hielt er sich fast ununterbrochen in Portugal auf. Ein Aufsatz des spanischen Philosophen Miguel de Unamuno hatte ihn dazu gebracht, sich auf den Weg zu machen und die portugiesische »Seele« zu suchen. Doch auch er musste zugeben, dass das Land es dem Reisenden nicht leicht machte. Eine Unterkunft oder ein Restaurant zu finden, konnte sich schwierig gestalten; manchmal gab es schlicht keines. Auf viele Besucher war Portugal damals nicht eingestellt. Wenn einer ankam, dann erregte er Aufsehen. Schneider hatte die Rolle des Fremden einzunehmen und »wie fremd, wie fremd!« erschien ihm alles. Doch gerade darum lohne die Reise an den fernen Rand des Erdteils und den Anfang des Meers.29
Denn die Erfahrung der Fremdheit sei der Preis für die Suche nach der »Seele« des Landes, seiner Einmaligkeit und seines Schicksals. Deren Kern sei saudade, jene »Sehnsucht nach allen liebenswürdigen Dingen«, die ein Dichter des 17. Jahrhunderts den Portugiesen unterstellt hatte.30 Schneiders »Reisetagebuch« wimmelt von Begriffen, die saudade umspielen: Wehmut, Melancholie, Trauer, Müdigkeit, Traum, Illusion, Verfall, Morschheit, Tod. Keine Symphonie (wovon es ohnehin nur eine einzige gebe), sondern die Fados, jene wehmütigen Lieder, deren Name sich von einem kollektiven »Schicksal« (lat. fatum) herleitet, brächten die nationale Eigenart zum Ausdruck. Denn zweimal habe das Schicksal Portugal ins Unglück gestürzt. Weit müsse man in die Geschichte zurückblicken, um das fatale Geschehen zu begreifen. Zuerst habe der unaufhaltsame Niedergang des Kolonialreichs seit dem 16. Jahrhundert die »Seele« des Landes beschädigt; das große Erdbeben von 1755 habe sie vollends ruiniert. Fassaden, Trümmer, Fragmente, Halbfertiges und nur Erdachtes prägten seitdem das Bild: im Stillstand pittoresk, ein »tragisches Idyll«. Darauf aber sei dieses Volk stolz. Denn »wie jedes gestürzte Volk« hänge es »an nichts mehr als an seiner Geschichte«, Glück und Bürde zugleich. Deren Folgen, die realen wie die mentalen, waren für Schneider allenthalben präsent. Die Vergangenheit töne herauf »wie die Glocken Vinetas«.31
Carl Erdmann hätte sich anders ausgedrückt, weniger schwülstig und nicht so bedeutungsschwer, sondern mit nüchternen Worten. Aber er kam zu einem ähnlichen Ergebnis: nämlich dass es sich lohnt, die eigentümliche portugiesische Geschichte zu studieren. Mit deren Wirkungen auf die Gegenwart wurde er ohnehin ohne eigenes Zutun konfrontiert. Als Hauslehrer und kaum schon ortskundig, erlebte er die »Blutnacht« in Lissabon und bei einem zweiten, kürzeren Aufenthalt die Revolution vom Mai 1926, die das Ende der Republik herbeiführte. Später, als in Spanien Unruhen ausbrachen und Kirchen und Klöster in Brand gesetzt wurden, bemerkte er einmal, er habe so viele Erfahrungen mit Revolutionen machen können, dass ihn auch die spanischen Ereignisse nicht von einer geplanten Forschungsreise abschrecken könnten.32 Man gewöhnte sich an Revolutionen, wenn sie so oft wie in Portugal vorkamen. Reinhold Schneider hatte sogar den Eindruck, dass die Leute anfingen, sich über dergleichen lustig zu machen. Denn es ging sie nichts an.33
Erst bei seinem zweiten Aufenthalt, als er längere Zeit im Land unterwegs war, erhielt auch Erdmann einen Eindruck von den Mängeln der touristischen Infrastruktur, von verwanzten Betten in schäbigen Pensionen. Er nahm es hin und führte nächtliche Kriege mit ihnen.34 Denn »die Flöhe und die Wanzen / gehören auch zum Ganzen« (angeblich Goethe) – damit konnte man sich trösten. Doch anders als Schneider hatte er kein grundsätzliches Problem mit der portugiesischen Sprache. Nie hätte er ihren Klang mit dem der russischen verglichen, nur um seinen Eindruck von deren Randständigkeit in Europa zu erklären.35 Nie hätte er sie als unverständlich, merkwürdig oder sonstwie exotisch charakterisiert. Vielmehr lernte er Portugiesisch und verstand es, sich damit im Alltag zu behaupten. Es war die siebte oder achte Sprache, die zu beherrschen er beanspruchen konnte.
Das hatte zweifellos Grenzen. Als Erdmann einmal für zwei Ärzte, einen Spanier und einen Portugiesen, dolmetschen sollte, scheiterte er an den medizinischen Begriffen. Für ein solches Gespräch reichten seine Kenntnisse nicht aus. Die beiden unterhielten sich lieber in gebrochenem Französisch.36 Doch immerhin: Man traute es ihm zu und daran änderte nichts, dass sich seine sprachlichen Fertigkeiten auf die portugiesische Geschichte und den Gedankenaustausch über sie konzentrierten. Später schrieb er einmal, er habe sich damals Archivbesuche in der Mittagszeit »erschlichen« und dafür sogar Verstimmungen bei seinen Arbeitgebern in Kauf genommen. Offenbar hat er seine freie Zeit am liebsten in den Lissabonner Archiven und Bibliotheken verbracht.37 Die Aussage ist glaubhaft, nicht nur weil sie viel später von einem Lissabonner Kollegen bestätigt wurde,38 sondern auch weil sie sich mit Erdmanns frühen Publikationen veranschaulichen lässt. Sein erster wissenschaftlicher Aufsatz überhaupt (eher eine Miszelle) geht der Frage nach, ob Frankreich tatsächlich erheblichen Einfluss auf das mittelalterliche Portugal ausgeübt habe, ist also breit thematisch angelegt und behandelt ein umfassendes Thema auf knappstem Raum aus verschiedenen Perspektiven.39 Seine Dissertation, die er bald nach seinem Aufenthalt in Lissabon fertig vorlegen konnte, basiert auf Material des portugiesischen Nationalarchivs (Torre do Tombo) sowie auf Editionen und Forschungsliteratur, die er in dieser Dichte nur in Portugal vorfinden konnte. Er bewegte sich also von außen auf die Geschichte seines Gastlandes zu und erschloss sich nach und nach deren Spezifik, bis sich ihm ein unbearbeitetes, dissertationstaugliches Thema auftat. Daraus ergaben sich dann weitere, noch speziellere Fragestellungen, sodass er im Laufe seines Forscherlebens immer wieder auf die portugiesische Geschichte zurückkam. Denn hier gab es für den Historiker das, was ihn zeitlebens am meisten beglückte: neues Material erschließen und auf diesem Wege »jungfräulichen Boden« betreten zu können.40
Carl Erdmann in Lissabon.