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Ein allzu selbstständiger Schützling
ОглавлениеSelbst als er in existenzielle Not geriet und monatelang als Arbeitskraft ausfiel, stand ihm der Direktor zur Seite. Kaum aus Spanien zurückgekehrt, wurde Lungentuberkulose bei Erdmann diagnostiziert, jenes »romantische Fieber«, das überhaupt nichts Romantisches an sich hatte und damals medikamentös nicht behandelt werden konnte, immer noch eine Krankheit zum Tode. Eine erbliche Belastung schien durchzuschlagen, zwei von Erdmanns Tanten waren an »Schwindsucht« gestorben.120 Anfangs schien denn auch sein Lebenswille gebrochen.121 Vier Monate lang musste er sich einer Liegekur in Arosa unterziehen – (fast) ganz ohne Arbeit, was ihm sichtlich schwerfiel. Kein »Zauberberg« und keine »nach innen gewandte Leidenschaft« (Klabund), weder Vergeistigung noch Selbstfindung, sondern »dauerndes Nichtstun«: Als Zeitvernichtung empfand Erdmann das Kuren und Liegen.122 Ein »Talent zum Kranksein« (Thomas Mann) verspürte er nicht; eher hätte er sich als »Lungensträfling« (Katia Mann) bezeichnet. Zum Glück dauerte sein Aufenthalt nicht lange. Obwohl immer bestritten wurde und bis heute nicht erwiesen ist, dass eine Höhenkur überhaupt etwas nützt,123 so schlug sie doch in Erdmanns Fall an: Das Husten hörte auf, er wurde gesund. Da er aber über keinen ausreichenden Versicherungsschutz für eine Behandlung in der Schweiz verfügte, setzte sich Kehr dafür ein, dass er – »ein hochbegabter und ungewöhnlich fähiger Mensch« – für die Dauer der Kur in Rom beurlaubt wurde und trotzdem sein Gehalt einschließlich der Auslandszulage erhielt.124 Sogar die letzte Korrektur seines mehrere Hundert Seiten starken Archivberichts aus Portugal wurde durch den Direktor persönlich erledigt – »keine geringe Buße« sei das gewesen. Und zu einem Krankenbesuch in Arosa nahm er sich die Zeit. Auch das war keineswegs selbstverständlich und von Kehr schon gar nicht zu erwarten.125 Als Erdmann schließlich – zur »Nachkur«, wie er sich ausdrückte – in Rom wieder eintraf und meinte, Versäumtes nachholen zu müssen,126 wurde er noch eine ganze Weile von Kehr mit Schonung behandelt und zum Beispiel von anstrengenden Archivreisen dispensiert. Er hatte ihm unendlich viel zu verdanken.
Trotzdem mischte sich von Anfang an ein unguter Ton in ihr Verhältnis. Das lag zunächst an Kehr, dem »Patron«. Er hatte die Eigenart, neue Mitarbeiter einer strengen Prüfung zu unterziehen. Das konnte halb scherzhaft geschehen. Aloys Ruppel zum Beispiel wurde auch »kulinarisch« geprüft und musste bei einem gemeinsamen Abendessen vor allem die Weine identifizieren. Denn das hatte Kehr bei seinem Lehrer Theodor Sickel gelernt: »Wer einen guten Wein nicht von einem schlechten, wer einen Rheinwein nicht von einem Mosel unterscheiden kann, der kann auch eine gefälschte Urkunde nicht von einer echten unterscheiden.«127 Erdmann erlebte nur den wissenschaftlichen Teil einer solchen Prüfung und zog sich auf seine Art aus der Affäre: Kehr zeigte ihm, »wie eine Papsturkunde paläographisch abzuschreiben sei und schrieb die ersten Zeilen. Als er den jungen Doktor aufforderte, mit der Abschrift fortzufahren, erwiderte dieser die Feder nehmend: und ich darf wohl auch gleich korrigieren, Herr Geheimrat?« Seitdem galt er als paläographisch versiert, und dass er sich das selbst beigebracht hatte, war in Kehrs Augen kein Manko. Man kann sich gut vorstellen, wie Erdmann augenzwinkernd seinem Freund Tellenbach die Anekdote erzählte und ihm damit vor Augen führte, welch »unbegrenzten Mißtrauens gegen die paläographische Wissenschaft der jungen Leute« ihr »verehrter Chef« sich erfreute.128
Er selbst dagegen genoss fürs Erste das Vertrauen des Direktors. Als er nach Paris auf einen weiteren »Feldzug« geschickt wurde und dort erneut reiche Funde machen konnte, sollte er einen jungen Stipendiaten beaufsichtigen und über dessen Arbeitsleistung schriftlich (»eingehend und präzise«) berichten. Erdmann wies das Ansinnen zurück, weil er mit Johannes Ramackers auf freundschaftlichem Fuß stand und die Beurteilung des Nachwuchses nicht als seine Aufgabe ansah. Die Reaktion war geharnischt; aber der Dritte im Bunde, Erdmanns römischer Kollege Gerhard Laehr, hatte weniger Skrupel und übernahm das unrühmliche Geschäft.129 Ramackers überwarf sich später nach Jahren des Leidens unter den Launen seines Vorgesetzten völlig mit Kehr. Er gilt als Beispiel dafür, wie wenig Verständnis dieser für die Situation seiner Untergegebenen aufzubringen vermochte. Er wusste wenig von ihnen und wollte auch nicht viel von ihnen wissen.130
Erdmanns Briefe lassen den Leser verfolgen, wie sein Verhältnis zu Kehr allmählich erodierte. Das spanische Unternehmen (vor allem, dass es liegen blieb und zu »vermodern« drohte) gab zu kritischen Nachfragen Anlass; und über die Repräsentanz wie die künftigen Aufgaben des römischen Instituts gingen die Meinungen weit auseinander.131 Auch dass Erdmann Manuskripte, die Kehr zum Druck angenommen hatte, einer scharfen Kritik unterzog oder ihn gar über einzelne Worte belehrte, dürfte das Wohlwollen des Direktors strapaziert haben.132 Nicht immer traf der »Hilfsarbeiter« den richtigen Ton. Einmal kam es zu einem Zusammenstoß und Erdmann musste sich entschuldigen, weil er wieder einmal seine »leidige Gewohnheit, jeden Widerspruch immer gleich auszusprechen«, nicht zu zügeln vermocht hatte; »einigermaßen unverschämt« sei er dabei geworden.133 Er nahm mit der Zeit eine Stellung am Institut ein, die auf die Stellvertretung des Direktors und eine gewisse Eigenständigkeit, auch in der inhaltlichen Ausrichtung der am Institut betriebenen Forschungen, hinauslief. Das ging nicht ohne Reibungen ab. Erdmann konnte von verletzendem Stolz sein und mit beißender Kritik über die Thesen anderer herfallen. Die »Sensation« (also der Tratsch) war ihm wichtig und dafür steckte er seine Nase in Dinge, die ihn nichts angingen. Als Tellenbach sich habilitiert hatte und seine Habilitationsschrift gedruckt vorlag, träumte ihm, dass Erdmann viele Fehler finden würde, und zwar nicht im Obertext, sondern in den Fußnoten!134 Das sagt eigentlich alles über ihr nicht immer spannungsfreies Verhältnis und Erdmanns zuweilen lastende Dominanz im Institut. Gleichwohl wurden »sein überragender Scharfsinn und seine Charakterstärke […] von allen bewundert«.135 Einer leitenden Hand bedurfte er nicht, der Aufsicht schon gar nicht. Einem Autokraten wie Kehr konnte das nicht gefallen.136 Für sich selbst nahm er »grenzenlosen Eigenwillen« in Anspruch; der »Wissenschaftsmagnat« entpuppt sich als »Wissenschaftsimperator«.137 Er sah aber keinen Anlass, anderen (schon gar nicht einem Untergebenen) ähnliche Vorrechte zuzugestehen: Quod licet Iovi, non licet bovi.
Gerne wäre Erdmann in Rom geblieben, gerne hätte er die Stelle des Zweiten Sekretärs eingenommen. Er warb für seinen Standpunkt, machte Interessen des Instituts geltend und war sich auch nicht zu schade, bei der Deutschen Botschaft und im zuständigen Berliner Ministerium zu antichambrieren. Zeitweilig schien sogar seine Verbeamtung möglich.138 Doch der »verehrte Geheimrat« war dagegen. Er beanspruchte ihn als seine »Entdeckung« und hatte Größeres mit seinem Schützling vor. Dass dieser auf dem Königsweg Karriere machen und alsbald einen Lehrstuhl erklimmen würde, hielt er für sicher.139 Erdmann dagegen gewann den Eindruck, Kehr habe nur ein einziges Ziel, nämlich zu verhindern, »dass ich zu stark die Fäden der Institutsgeschäfte in die Hand bekomme«.140 Die Gründe, die ihm genannt wurden, hielt er für »grotesk« und nur insofern für durchsichtig, als sein langjähriger Vorgesetzter nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Nach seinem Weggang aber werde er »irgend einen Schwachmatikus« als Sekretär am römischen Institut einsetzen.141 Meister und Meisterschüler verstanden sich nicht mehr und redeten wenigstens zeitweise aneinander vorbei.
Natürlich setzte der Direktor sich durch. Erdmann musste das Feld räumen. Den »Schwachmatikus« gab Friedrich Bock, ein Gymnasiallehrer aus Berlin-Falkensee, den Erdmann zwar wegen seines Fleißes und seiner physischen Belastbarkeit schätzte, aber intellektuell nie ernst nehmen konnte. Das ließ er ihn wissen, indem er eine von Bocks Publikationen zerpflückte und auch noch scheinheilig fragte: »Ärgert Sie so etwas?« Und als Bock als Redakteur der Institutszeitschrift auf ein mangelhaftes Manuskript hereinfiel, meinte Erdmann hämisch dazu: »Sowas wäre zu meiner Zeit nicht vorgekommen.«142 Genau zehn Jahre später rief er sich die Geschehnisse noch einmal in Erinnerung und trauerte seiner römischen Vergangenheit nach. Nach wie vor war er der Meinung, man habe ihn damals gewaltsam vertrieben.143 Die Wunde ging tief und wollte sich nicht schließen.