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Debakel in Frankfurt

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Es hat den Anschein, dass sich Erdmann und Kantorowicz über solche und ähnliche Fragen unterhielten, wenn sie sich trafen. Allerdings hatten sie nur selten Gelegenheit dazu. Briefe sind leider gar keine erhalten. Wahrscheinlich würden sie uns zeigen, dass sich die beiden auch politisch verstanden. Beide dachten nationalkonservativ, sahen sich bei aller Weltläufigkeit als deutsche Patrioten und trauten den Parteien und Parlamenten nicht viel zu.92 Wie weit aber die gegenseitige Wertschätzung reichte, geht am deutlichsten aus den Ereignissen im Sommer und Herbst 1933 hervor.

Auch für die Frankfurter Universität kam die Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten überraschend. Bei einem Kostümfest im Februar 1932 trat der Kurator spaßeshalber »als das andere seiner selbst«, nämlich als SA-Mann verkleidet, auf und im April machte sich Kantorowicz brieflich über das Kürzel S. A. lustig: Es bedeute weder »Sturmabteilung« noch »Sex Appeal«, sondern schlicht und ergreifend: »Separat-Abzug«, im Wissenschaftsbetrieb etwas alltäglich Banales.93 Ein Jahr später sah er sich mit dem Beamtengesetz konfrontiert, das ihn als Spross einer deutsch-jüdischen Fabrikantenfamilie existenziell bedrohte. Zwar hätte er als »alter Kriegsknecht« die sogenannte Frontkämpferklausel in Anspruch nehmen können und wäre – bis auf Weiteres – von den judenfeindlichen Bestimmungen nicht betroffen gewesen.94 Es ging sogar das Gerücht, man habe ihn als einen von wenigen »Nichtariern« unbedingt halten wollen.95 Doch Kantorowicz zog es vor, mit Aplomb zu reagieren.

In einem Schreiben an seinen Dienstherrn, den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, das – sicher kein Zufall – auf den 20. April, Hitlers Geburtstag, datiert ist, betonte er sowohl seine Verdienste um Deutschland (im Krieg und als Autor) wie auch seine nationale Gesinnung, um dann das Dilemma zu beschreiben, das sich nun im nationalsozialistischen Staat aus seiner jüdischen Abstammung ergab: »[…] solange jeder deutsche Jude […] schon durch seine Herkunft fast für einen ›Landesverräter‹ gelten kann; solange jeder Jude als solcher rassenmäßig für minderwertig erachtet wird; solange die Tatsache, überhaupt jüdisches Blut in den Adern zu haben, zugleich einen Gesinnungsdefekt involviert; solange jeder deutsche Jude sich einer täglichen Antastung seiner Ehre ausgesetzt sieht ohne die Möglichkeit, persönliche oder gerichtliche Genugtuung zu erzwingen; solange ihm als Studenten das akademische Bürgerrecht versagt, der Gebrauch der deutschen Sprache nur als ›Fremdsprache‹ gestattet wird […]; solange durch Dienstbefehl auch den Juden als Leitern der Seminare zugemutet wird, sich aktiv an judenfeindlichen Aktionen zu beteiligen […]; und solange jeder Jude, gerade wenn er ein nationales Deutschland voll bejaht, unfehlbar in den Verdacht gerät, durch das Bekunden seiner Gesinnung nur aus Furcht zu handeln oder bloß seinen persönlichen Vorteil zu suchen, nach Pfründen jagen und seine wirtschaftliche Existenz sichern zu wollen; solange daher jeder deutsche und wahrhaft national gesinnte Jude, um einem derartigen Verdacht zu entgehen, seine nationale Gesinnung eher schamhaft verbergen muß, als daß er sie unbefangen kundtun dürfte; so lange erscheint es mir als unvereinbar mit der Würde eines Hochschullehrers, sein nur auf innerer Wahrheit begründetes Amt verantwortlich zu versehen.«96 Abgesehen von Kantorowicz’ pointiertem Ehrbegriff und der ihm eigenen stolzen Gesinnung, macht sein Schreiben bis auf den heutigen Tag Eindruck. Zeitlebens bestand er auf einer Würde, die nicht stirbt.97 Im Ministerium soll es »ziemlich dumme Gesichter« gegeben haben.98

Allerdings nahm Kantorowicz seinen Abschied auf Raten. Im Sommersemester 1933 ließ er es mit einem Seminar in seiner Wohnung (einem Privatissimum also) bewenden.99 Im darauffolgenden Wintersemester provozierte er seine Hörer, indem er – kampfeslustig und »verjüngt« – in einer Art zweiter Antrittsvorlesung dem neuen, dem »Dritten Reich« den Spiegel des wahren, des von Stefan George und seinem Kreis vertretenen »Geheimen Deutschlands« vorhielt und sich dabei »alles vom Herzen herunterbrüllte«, was ihm missfiel. Angeblich habe er damit das Auditorium gewonnen, ein »Auditorium, das erst braun war und dann rot anlief, um bei dem Schlußwort […] selig zu trampeln«.100 Doch zwei Wochen später musste er seine Lehrveranstaltungen abbrechen, weil es zu Boykottaktionen der nationalsozialistischen Studenten gekommen war und weder vom Rektor, dem Pg. Ernst Krieck, noch von seinem ehrgeizigen Kollegen Walter Platzhoff, der als Prorektor amtierte, Unterstützung erwartet werden konnte. Einige Studenten, die sich mit einer Eingabe an das Reichserziehungsministerium auf seine Seite schlugen, wurden der »politischen Instinktlosigkeit« geziehen und schließlich von der Universität relegiert.101 Kantorowicz ließ sich für den Rest des Semesters wie auch für das kommende Sommersemester beurlauben und einigte sich mit Rektorat und Fakultät auf eine doppelte Vertretung: Die allgemeine mittelalterliche Geschichte sollte Carl Erdmann, die Historischen Hilfswissenschaften der Frankfurter Privatdozent Paul Wilhelm Finsterwalder übernehmen.102

Dessen Lebensweg vor und nach 1933 ist in jeder Hinsicht bezeichnend:103 Geboren 1888, freiwillige Meldung zum Kriegsdienst vor Abschluss des Studiums, vier Jahre an der Front, »Nervenschock« und deshalb verspätete Wiederaufnahme des Studiums; danach schlecht bezahlter Mitarbeiter bei den Monumenta Germaniae Historica; seine Forschungsgebiete entsprachen den Interessen seiner Lehrer. Kehr hielt ihn für »sehr medioker«.104 Im reifen Alter von 39 Jahren habilitierte er sich in Frankfurt. Mit Stipendien, befristeten Stellen und Lehraufträgen hielt er sich, seine Frau und zwei Kinder über Wasser. Vorteile versprach er sich vom Machtwechsel 1933. Er trat zuerst der NSDAP, dann auch der SA und anderen nationalsozialistischen Formationen bei und soll sich »mit großem Einsatz« um die »Bewegung« bemüht haben. Auch mit den Themen seiner Lehrveranstaltungen (»Völkische Geschichtsprobleme«, »Rasse und Geschichte«, »Führerpersönlichkeit und Geschichte«) machte er Konzessionen an den neuen Zeitgeist. Doch erst 1939 wurde er – nach mehreren Anläufen – zum beamteten außerordentlichen Professor ernannt. Die eingeholten Gutachten waren »übereinstimmend zurückhaltend«. Aber sein »grundanständiger [also politisch und weltanschaulich zuverlässiger] Charakter« ließ über die evidenten fachlichen Mängel hinwegsehen. Diese wurden als Spätfolgen des Krieges ausgegeben. 1945 wurde Finsterwalder wegen Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen, im Spruchkammerverfahren als Mitläufer eingestuft und zu einer (maßvollen) Geldbuße verurteilt. Die üblichen Ausflüchte halfen ihm nicht. Eine Rückkehr an die Universität blieb ihm – ungeachtet »sehr starker Sympathien« in der Philosophischen Fakultät – versagt. Spät wurde ihm eine sogenannte Gnadenpension zuerkannt, also eine regelmäßige, aber widerrufliche Zuwendung, die für die Unterbringung im Altersheim ausreichte. Aus dem früheren Versorgungsfall war ein Sozialfall geworden. Kein gelungenes Leben.

Ebenso bezeichnend ist es, wie Carl Erdmann auf das Frankfurter Angebot reagierte: Jeder andere hätte die Chance beim Schopf ergriffen und nicht nach den Umständen, schon gar nicht nach den Hintergründen von Kantorowicz’ Beurlaubung gefragt. Doch der schlecht bezahlte Privatdozent Erdmann machte sich seine eigenen Gedanken und stellte Bedingungen für die Annahme der Vertretung: Er nannte die Frankfurter Affäre den »Fall Kantorowicz« und meinte damit: den zweiten Fall dieses Namens. Denn ein halbes Jahrhundert zuvor, auf dem Höhepunkt des Berliner Antisemitismusstreits, hatte schon einmal ein Kantorowicz im Zentrum öffentlicher Aufregung gestanden und war wegen seines Judentums beschimpft worden, hatte sich aber erfolgreich zur Wehr setzen können: Edmund Kantorowicz, Teilhaber der Posener Spirituosenfirma und Onkel von Ernst. Die »Kantorowicz-« oder »Pferdebahn-Affäre« hatte damals hohe Wellen geschlagen und war auch international registriert worden. Da sie durch den notorischen Antisemiten Bernhard Förster ausgelöst wurde, den späteren Schwager Friedrich Nietzsches, ist die Affäre auch mit dessen Lebensgeschichte weitläufig verbunden.105

Offenkundig kannte Erdmann den »Fall« und deutete den zweiten mit dem ersten. Er sah, dass es heute wie damals um die Ausgrenzung des deutschen Judentums ging und sprang, als es um die Frankfurter Vertretung ging, dem Opfer zur Seite: Er wolle den Studenten seine Meinung über die Boykottaktionen und sein »weiteres Eintreten für Kantorowicz« öffentlich mitteilen.106 Er hätte also den Konflikt mit einem Teil der Studentenschaft fortsetzen und als ortsfremder Vertreter durchstehen wollen, woran der Ordinarius gescheitert war. Außerdem hätte er sich mit einem sich nun zu seinem Judentum bekennenden »Nichtarier« solidarisiert – schon 1933/34 ein gewagtes Unterfangen. Man kann den Vorgang nicht als einmalig bezeichnen. Als Walther Holtzmann 1936 an Stelle Wilhelm Levisons nach Bonn berufen wurde, brachte er in der Antrittsvorlesung seine Wertschätzung für den zwangsweise in den Ruhestand versetzten Vorgänger zum Ausdruck.107 Es gab also durchaus Möglichkeiten, Menschlichkeit und Anstand zu bewahren. Aber Holtzmann hatte schon vorher eine Professur inne, seine Stellung war eine andere als die des Privatdozenten Carl Erdmann. Man mag dessen Verhalten halsstarrig, blauäugig, weltfremd oder auch naiv nennen; aber mutig war es allemal, was er verlangte, und ist nur mit seinem Respekt vor Kantorowicz einerseits, seiner eigenen Unbedingtheit andererseits zu erklären. Darin waren sich beide sehr ähnlich.

Natürlich wurde Erdmanns Bedingung vom Vertreter der Fakultät nicht akzeptiert. Umgehend wurde sie beiseitegewischt: Es sei ganz und gar »unmöglich«, was Erdmann verlange.108 Wir wissen nicht, wer das Gespräch mit ihm führte. Vermutlich war es der Dekan, der Kunsthistoriker Hans Jantzen, der dem Nationalsozialismus keineswegs ablehnend gegenüberstand.109 Aber jeder andere Amtsträger hätte wohl ähnlich reagiert, zumal in turbulenten Zeiten wie diesen. Die Existenz der ganzen Universität stand auf dem Spiel.110 Man war froh, das Problem vom Tisch zu haben, und wollte es nicht wieder aufleben lassen. Schließlich verzichtete man ganz auf eine Vertretung und bat den Gießener Mediävisten Theodor Mayer, in Frankfurt das Mittelalter mit zu versorgen.111 Zwei Semester pendelte Mayer zwischen Gießen und Frankfurt hin und her. Schwierigkeiten musste man keine befürchten. Denn Mayer stand dem Nationalsozialismus sehr aufgeschlossen gegenüber; seine politische Gesinnung galt als »einwandfrei« und »grundecht«.112 Wir werden ihm noch mehrfach begegnen.

Fackel in der Finsternis

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