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30. Januar 1933

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Dass die Rechnung so nicht aufging, lag an den politischen Ereignissen seit dem 30. Januar 1933. Am Ende wurde Erdmann von ihnen überrollt und beiseitegeschoben. Er war nicht ganz unvorbereitet, als er nach Deutschland zurückkehrte. Bis nach Rom hatten sich die Wahlerfolge der Nationalsozialisten herumgesprochen. Im Institut werde viel politisiert, schrieb er einmal nach Hause. Und da die Meinungen weit auseinandergingen, kam es darauf an, sich kundig zu machen, am besten durch das Studium der Quellen. Erdmann las also in Hitlers »Mein Kampf« und fand auch einiges »Richtige« darin. Gleichzeitig kam er zu der festen Überzeugung, »daß dieser Mann uns nicht regieren kann«. Davon wich er nicht mehr ab. Hätte er damals an der Wahl des Reichspräsidenten teilnehmen können (Briefwahl gab es noch nicht, Urlauber ließen sich an die Grenze transportieren), dann hätte er – wie schon sieben Jahre zuvor – selbstredend nicht Hitler, sondern Hindenburg gewählt.6 Als sich dieser dazu überreden ließ, den »böhmischen Gefreiten« zum Reichskanzler zu ernennen, unterschätzte Erdmann die neue Regierung. Wie so viele andere nahm er an, dass Hitler mit seinen zwei nationalsozialistischen Ministern durch die konservative Mehrheit eingerahmt, gezähmt und gleichsam in die Ecke gedrückt würde (Franz von Papen: »daß er quietscht«). Der sogenannten Regierung der nationalen Konzentration, dieser »Mischung einer Harzburger Hexensabbatküche«, werde es so wie den anderen vor ihr ergehen: Sie werde nicht lange bestehen.7

Allzu lange nahm Erdmann auf die leichte Schulter, was in den nächsten Monaten – Schlag auf Schlag – geschah. Als beispielsweise erzählt wurde, in Halle seien am (neu eingeführten) Maifeiertag Rektor, Professoren und Studenten vom Führer der Studentenschaft angeherrscht worden: »Ganze Universität – stillgestanden!«, fragte Erdmann amüsiert nach, ob das wirklich so stimme. Überall sprach sich die Szene herum, bei den Monumenta Germaniae Historica habe man »Tränen gelacht«.8 Auch außenpolitisch blieb Erdmann optimistisch. Er war sogar bereit, Hitlers Friedensbeteuerungen im Reichstag (seiner inszenierten »Selbstverharmlosung«9) Glauben zu schenken; denn – und da lag er richtig – wenigstens für den Augenblick habe die Innenpolitik Vorrang. Tellenbach, dem er seine Ansicht erläuterte, nahm offenbar einen anderen, einen skeptischeren Standpunkt ein. Erst für die Zukunft erwartete Erdmann eine »expansive Machtvermehrung« des Reichs. Aber sie werde friedlich verlaufen und Österreich könne eine Schlüsselrolle dabei spielen. Das war einerseits hellsichtig; doch immer noch unterschätzte er die nationalsozialistischen Machthaber. Wie viele andere, gerade in bürgerlichen Kreisen, nahm er allzu lange den Furor nicht ernst, den jene entfachten.10

Was Hitlers Innenpolitik angeht, so hätte er die handstreichartige, spektakuläre »Gleichschaltung« der Länder im März anführen können. Es gab nicht wenige, gerade national denkende Deutsche, die darin einen Fortschritt, einen Gewinn an nationaler Geschlossenheit erblickten. Aber für die Universitäten war das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 »das einzig praktisch Wesentliche«.11 Denn es schloss den berüchtigten »Arierparagraphen« ein, mit dem zahlreiche Gelehrte jüdischer Abstammung aus dem Amt gedrängt wurden. Seitens der Universitäten und Hochschulen wurden keinerlei Einwände erhoben. Bei einer Konferenz der Rektoren wurde lange diskutiert, aber nichts unternommen.12 Man ließ die Dinge geschehen. Universitäten wie Hamburg, Heidelberg oder Göttingen verloren dadurch und durch die nachfolgenden gesetzlichen Regelungen ungefähr ein Viertel, Berlin und Frankfurt sogar mehr als ein Drittel ihres Lehrkörpers.13 Doch Erdmann blieb zuversichtlich: Von den Berliner historischen Ordinariaten sei keines betroffen, von den Privatdozenten nur einer: Hans Baron, der zuerst nach Italien, dann nach England, schließlich in die Vereinigten Staaten emigrierte. Ein weiterer Privatdozent, Martin Weinbaum, wolle im Wintersemester die Lehre wieder aufnehmen (was er aber dann doch nicht tat, weil er die Emigration vorzog). Hedwig Hintze, Dietrich Gerhard und Gustav Mayer – von Erdmann übersehen – sollten bald folgen.14

Bezeichnend ist, was Hans-Walter Klewitz, mit Erdmann seit gemeinsamen römischen Tagen verbunden, erlebte: Ihm wurde nachgesagt, nicht rein »arischer« Abstammung zu sein. So wurde gemunkelt. Der Verdacht ging weit über üble Nachrede oder Rufschädigung hinaus, konnte vielmehr existenzielle Folgen nach sich ziehen. Die Perfidie bestand darin, dass dem Beschuldigten, nicht dem Beschuldiger die Beweislast auferlegt wurde. Nicht einmal tote Dichter und überzeugte Nationalsozialisten blieben von solchen Gerüchten verschont.15 Panische Beteuerungen waren oftmals die Folge. Doch wer so reagierte, ließ sich auf die Spielregeln der neuen Machthaber und auf deren falsches Spiel ein. Im Fall Klewitz ließ sich der Verdacht umgehend entkräften. Aber der Vorgang wirft Licht auf das mittlerweile herrschende Klima. Er zeigt, wie bedrohlich die Situation schon im Sommer 1933 war.16

Erdmann war kein Beamter, also von vornherein nicht von dem Gesetz betroffen. Aber er hätte einer werden können, wenn er nämlich an eine deutsche Universität berufen worden wäre. Einmal musste er tatsächlich einen Fragebogen ausfüllen und konnte die dafür erforderlichen Nachweise nicht auftreiben. Er zog sich aus der Affäre, indem er auf eine Beteiligung an den Berliner »Anti-Spartakus-Kämpfen« im chaotischen Januar und März 1919 hinwies. Er nannte sogar die Einheit, der er sich als Freiwilliger angeschlossen haben will: das Jäger-Regiment zu Pferd Nr. 6.17 Nachgeprüft hat man das nicht. Da aber laut 3. Durchführungsverordnung zum Beamtengesetz »die Teilnahme an den Kämpfen im Baltikum, in Oberschlesien, gegen Spartakisten und Separatisten […] der Teilnahme an den Kämpfen des Weltkrieges gleichzustellen« war,18 konnte er die Frontkämpferklausel für sich in Anspruch nehmen und lästige Nachfragen vermeiden. Es war hilfreich, seinen Lebenslauf mit etwas antirevolutionärem Engagement aufzuhübschen und das Wenige als wichtig erscheinen zu lassen. Fragebögen provozieren Selbstauskünfte, die die Wirklichkeit im Auge behalten müssen und gleichzeitig zu deren Maskierung verhelfen.

Was damals, 1919, tatsächlich geschah, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht wird es deutlicher, wenn man ein, zwei vergleichbare Fälle heranzieht, vergleichbar, was Alter und persönliche Entwicklung der Akteure betrifft. Der Münchener Schüler Hermann Heimpel beteiligte sich an der Niederschlagung der Räterepublik und bekam auch Waffen in die Hand, stand aber meistens Wache und konnte sein Engagement im Nachhinein nur als »Spielerei« verstehen. Die Zeitfreiwilligen wurden verachtet.19 Der 17-jährige Gerhard Masur wäre wegen seiner Unerfahrenheit beinahe nach Hause geschickt worden; nur weil er darauf bestand, gegen »die Kommunisten« zu kämpfen, durfte er an Razzien, nicht aber an den Kämpfen teilnehmen. Es blieb beim »Soldatspielen«.20 Ähnlich dürfte es dem Studenten Carl Erdmann ergangen sein. Auch er gehörte zu den »ungedienten Rotzbuben« (Hermann Heimpel), unsportlich und ungeschickt, zu keiner Form des Kriegsspiels geeignet, auf dem Rücken eines Pferdes schon gar nicht. Dass er sich trotzdem darauf berief, hat mit seiner und der allgemeinen Situation seit 1933 zu tun. Immerhin zeigt sein Verhalten, dass es immer noch Möglichkeiten und Wege gab, die Lücken der Gesetzgebung auszunutzen und die Zumutungen der Politik zu umgehen. Kehr soll sogar in seinen Fragebogen eingetragen haben, »daß leider keine seiner Großmütter jüdisch gewesen sei. Sonst wäre er gewiß noch gescheiter als ohnehin schon.«21 So weit konnte Erdmann nicht gehen; aber er leistete sich seinerseits den Spaß, unter der Rubrik »Orden und Ehrenzeichen« ausgerechnet die Medaille anzugeben, die ihm seinerzeit Papst Pius XI. überreicht hatte.

Allerdings war ihm da schon bewusst, dass das Regime keine Späße verstand. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 (der »Reichsmordnacht«, wie man auch sagte) sowie in der Woche darauf (der »Reichsmordwoche«) waren unsagbare Dinge geschehen, Dinge, »über die man schweigen muß«. Das darf man wörtlich verstehen. Oder man traf sich auf freiem Feld, wenn niemand zuhören konnte. Was bis dahin geschehen war, sollte sich im Lichte der weiteren Entwicklung – um ein Wort Hannah Arendts zu gebrauchen – geradezu als »unerheblich« erweisen.22 Die Liquidierung der innerparteilichen Opposition und anderer politischer Gegner, von Hitler nachträglich zur »Staatsnotwehr« erklärt und von Carl Schmitt als legale Maßnahme gefeiert (»der Führer schützt das Recht«), öffnete vielen und auch Erdmann die Augen. Für Illusionen gab es keinen Raum mehr. Resigniert fügte Erdmann hinzu: »Möge das, was jetzt noch kommen muß, rasch kommen und rasch überstanden werden.«23 Auch damit sollte er sich täuschen.

Hätte es Alternativen gegeben? Kam die Emigration für Erdmann infrage? Nach Italien zum Beispiel, wo er sich so wohlgefühlt hatte und mit den politischen Verhältnissen durchaus sympathisierte? Allerdings war die Stelle am Historischen Institut, um die er sich bemüht hatte, mittlerweile mit einem Parteigenossen (Friedrich Bock) besetzt worden. Oder nach Portugal, wo sein Name unter den Historikern einen guten Klang hatte? Erdmann hat die Emigration gelegentlich erwogen, aber den Gedanken gleich wieder verworfen. Nicht weil er Wurzellosigkeit und Sprachverlust, »Herzasthma« und ein »beschädigtes Leben« im Exil gescheut hätte, sondern weil sich die Flucht oder auch nur ein Ausweichen ins Ausland nicht mit seiner nationalkonservativen Grundhaltung hätte vereinbaren lassen. Lieber wolle er »sich im Falle selbst des törichtsten Krieges eben mit totschießen« lassen »und die Folgen selbst der falschesten Politik« mittragen.24 »Absolute Solidarität mit der Nation«: Darin wusste er sich mit Tellenbach einig und dieser konnte zeitlebens die »Pharisäerhaftigkeit« des prominentesten deutschen Emigranten, Thomas Manns, nicht verstehen.25

Was also blieb zu tun übrig? Wie sollte man mit der schubweisen, immer spürbareren Verrohung des Alltags umgehen? Das Regime behauptete, die Volksgemeinschaft zu repräsentieren, und verlangte von jedermann »Zuordnung«.26 Selbst wer nicht in jeder Hinsicht überzeugt war und wenigstens partiell einen kritischen Standpunkt bewahrte, fühlte sich aufgefordert, seine Position zu überdenken und sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Man stellte sich auf den »Boden der Tatsachen« und bemerkte zu spät, dass man auf einer schiefen Ebene stand.27 Für Carl Erdmann kam dergleichen nicht infrage. In seinem Fall ging die »Forderung nach Zuordnung« ins Leere. Sein Urteil stand fest. Was er hörte und las, bestätigte ihn in seiner Ablehnung. Oswald Spenglers Kritik der »Machtergreifung«, 1933 publiziert und äußerst erfolgreich, von den Machthabern notgedrungen geduldet und gleichzeitig als »zersetzend« und »menschenfeindlich« zurückgewiesen, am Ende totgeschwiegen, »verschlang« Erdmann »mit großem Interesse«, nicht wegen ihrer »Raubtier-Philosophie« und ihres »Hyper-Machiavellismus« (und schon gar nicht, weil er den gebürtigen Blankenburger als Landsmann ansah), sondern wegen ihres elitären Standpunktes und ihrer unverhohlenen Ablehnung des nationalsozialistischen Rassegedankens.28 An einem Machwerk »über den kommunistischen Umsturzversuch am Vorabend der nationalen Revolution« dagegen erprobte er das Besteck der historischen Kritik, um »das echte Material, das verfälschte und die reinen Fälschungen« voneinander zu unterscheiden. Das nämlich hatte er als Mediävist und Urkundenforscher gelernt.29

Doch dabei handelte es sich um ganz private Äußerungen, nicht um publizierte. Am Ende des Jahres 1933 gab es nicht viel, was zur Zuversicht berechtigt hätte; aber solange man hoffen durfte, dass der Spuk nicht mehr lange weitergehen würde, konnte man sich guten Gewissens der Alltagsarbeit zuwenden. Dabei »zerbricht man sich nicht viel den Kopf über das Kommende und macht eben einfach weiter«. Außerdem hatte Erdmann ein anspruchsvolles Ziel: Er wollte mit seinen Mitteln »an der Hebung des Gefühls für Gesinnung und Zivilcourage« mitwirken.30 Schließlich lehrte er an der größten und bedeutendsten deutschen Universität und hatte nach wie vor Aussicht, auf einen Lehrstuhl berufen zu werden. Es lohnt sich, die Berufungsverfahren durchzugehen, bei denen Erdmanns Name im Spiel war. Denn an ihnen zeigt sich, wie seine Existenz allmählich, aber folgerichtig auf eine abschüssige Bahn geriet. Auf die chronologische Reihenfolge kommt es dabei nicht an. Jedes Verfahren sagt auf seine Weise über akademische Konstellationen und die Wirkungen der politischen Verhältnisse etwas aus.

Fackel in der Finsternis

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