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Der Forschung hingegeben
ОглавлениеErdmann empfand für Mussolini Respekt, fühlte sich aber zu den Schätzen des Vatikans hingezogen. In Archiv und Bibliothek hatte er regelmäßig zu tun und genoss mit der Zeit dort so viel Vertrauen, dass er auch Informationen aus informellen Kanälen erhielt. So war er über die Verhandlungen, die zu den Lateranverträgen führten, besser unterrichtet als die römische Bevölkerung; denn die Zeitungen durften nicht darüber berichten.83 Auseinandersetzungen zwischen dem Vatikan und dem Palazzo Venezia nahm er aufmerksam zur Kenntnis und behielt sie lange im Gedächtnis.84 Er nahm an den Geschehnissen Anteil, ließ sich aber nur nebenher auf sie ein. All die Jahre blieb er so, wie es Kehr prognostiziert hatte: durch und durch der Wissenschaft ergeben.
Erdmanns dienstliche Aufgaben waren vielfältig. Dazu gehörten: projektgebundene und eigene Forschung, Recherchen für auswärtige Wissenschaftler, Betreuung von Gästen, Literaturberichte für die hauseigene Zeitschrift und deren Drucklegung, Pflege der Institutsbibliothek, zunehmend auch die allgemeine Verwaltung des Instituts. Manchmal schrieb er ganze Urkunden für andere ab oder er ließ Fotografien von den Originalen anfertigen. Die Recherchen konnten aufwendig ausfallen, viel »undankbarer Kleinkram« war zu erledigen.85 »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen«: So wog ein jüngerer Mitarbeiter die offenkundigen Vorzüge des Instituts gegen die lästigen Verpflichtungen ab.86 Die Kontakte zum Vatikan und zu den beiden deutschen Botschaften, der »schwarzen« beim Vatikan, der »weißen« beim Quirinal, mussten ebenso gepflegt werden wie die Verbindungen zu den anderen wissenschaftlichen Instituten in Rom. Auf Letzteres legte Kehr keinen Wert; es hinderte ihn nur an der Arbeit. Mit Argwohn beobachtete er, was sich in anderen Instituten alles tat. An geistreichen Gesprächen, wie sie bei Tee-Empfängen in der Bibliotheca Hertziana geführt wurden, hatte er keinerlei Interesse.87 »Hier wird nicht repräsentiert«, soll an der Pforte des Historischen Instituts gestanden haben.88 Aber die Mitarbeiter veranstalteten sogenannte Adunanzen, bei denen zahlreiche Gäste erschienen (Kehr jedoch fernblieb), und sie beteiligten sich an den Treffen der »Camerata degli Istituti di Roma«, zwanglosen Zusammenkünften, bei denen die Mitglieder der Institute ihre Forschungsergebnisse austauschten. In diesem Kreis referierte Erdmann über die Geschichte der päpstlichen Fahne, in jenem über die Politik Papst Julius’ III.89 Eine begrenzte Öffentlichkeit wurde damit erreicht.
Offenbar verstanden sich die Mitglieder des Instituts nicht schlecht miteinander. Als Kehr sich weigerte, die Kosten für die »Camerata« aus dem Institutshaushalt zu bestreiten, da legten sie zusammen, um die Gäste bewirten zu können.90 Natürlich gab es Nähen und Distanzen, persönliche Vorbehalte und wohl auch Konflikte. Aber wenn ein prominenter Gast wie der Berliner Rechtshistoriker Ulrich Stutz unter ihnen weilte, saß man heiter beisammen, gemeinsame Ausflüge führten in die nähere oder fernere Umgebung und von einem Zechgelage in der Nähe des Trajansforums schickten die Mitarbeiter ».C. G. O.« (d. i. Carl Erdmann, Gottfried Wentz und Otto Vehse) einen lateinischen Gemeinschaftsbrief in künstlicher Urkundenschrift an den verehrten Direktor in Berlin: »Tag und Nacht würden sie über der Wissenschaft schwitzen« (litteris die nocteque insudantes), jetzt aber hätten sie »die Freuden des Falerner-Weins« für sich entdeckt (Falerni vini invenimus gloriam).91 Das eine wie das andere traf wohl mehr oder weniger, nicht unbedingt wörtlich, aber der Sache nach, zu. Für einen gewissen Ausgleich sorgten regelmäßige Dante-Abende, bei denen die »Divina Commedia« rezitiert wurde.92
Als Erdmann im Institut anfing, gehörten außer ihm und dem Kustoden des Hauses, dem unverwüstlich treuen Federico (»Ferruccio«) Serafini, nur Friedrich Baethgen als Kehrs Stellvertreter und Otto Vehse als »Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« zum Personal. Mit den Jahren kamen weitere Mitarbeiter und Stipendiaten hinzu. Ende 1929 war man zu sechst.93 Die meisten blieben nicht lange, sondern erlebten ihre römische Tätigkeit als Sprungbrett in eine akademische Laufbahn. Baethgen wurde Professor in Königsberg, Karl-August Fink zuerst nach Braunsberg, dann nach Tübingen berufen, Leo Just habilitierte sich in Bonn, Otto Vehse in Kiel, Hans-Walter Klewitz in Göttingen, Gerd Tellenbach in Heidelberg. Carl Erdmann hatte mit ihnen zusammengearbeitet und blieb mit den meisten in Verbindung. Zwei von ihnen sollten ihm einen Nachruf widmen und an Gerd Tellenbach gewann er sogar einen Freund. Überrascht stellte er einmal fest, dass er nun der »Zunft« angehöre. Das fand er »paradox«.94 Damit war kein Anspruch auf eine Karriere verbunden. Aber er wusste, dass er Anschluss an ein Netzwerk von ungefähr Gleichaltrigen gefunden hatte, mit denen er konkurrierte, von denen er aber auch profitieren konnte. Gegen Ende seiner Dienstzeit bedankte er sich mit einer Publikation, die er »dem Kreise der Arbeitsgefährten« widmete.95 Alles Weitere musste sich zeigen.
Anfangs hatte Erdmann Sorge, nicht leisten zu können, was er leisten sollte. Sein Italienisch ließ zu wünschen übrig, weder geographisch noch historisch kannte er sich in Italien gut aus. Er wollte das nachholen, sah aber mit einer gewissen Belustigung dem »Unsinn« entgegen, den er anrichten werde.96 Die Dinge sollten sich anders entwickeln. Als häufiger, ebenso fleißiger wie gründlicher Benutzer erwarb er sich Ansehen in Archiv und Bibliothek des Vatikans. In gelehrten Abhandlungen erschloss er neues Material und entwickelte ein ihm eigenes Forschungsprofil. Bei seinem Weggang wurde ihm eine »ungewöhnlich fruchtbare Tätigkeit« bescheinigt und schon bald musste man feststellen, dass es nicht gelungen sei, ihn adäquat zu ersetzen.97
Lateinische Grußkarte der Institutsmitarbeiter C. Erdmann, G. Wentz und O. Vehse an den Direktor, Rom 1927.
Kennzeichnend für seine Arbeitsweise ist eine kleine Studie, die von einer begrenzten Fragestellung ausgeht, aber weiter reichende Perspektiven ermöglicht. Sie behandelt die Karriere eines französischen Klerikers namens Mauritius, der als Erzbischof von Braga in Konflikte mit seinen Nachbarn geriet, sein Recht bei der Kurie suchte, sich dann aber zum Gegenpapst von Kaisers Gnaden wählen ließ und deshalb den Spottnamen »Burdinus«, »kleiner Esel«, erhielt. Schon nach drei Jahren versank er im Nichts. Gregor VIII., wie er sich nannte, blieb eine Randnotiz in der Geschichte der Päpste, für Erdmann eine »Null«.98 Noch vernichtender beurteilte ihn die kirchliche Tradition. Da er sich im Investiturstreit gegen den päpstlichen ›Mainstream‹ gestellt hatte, wurde er im Nachhinein mit den wüstesten Beschimpfungen bedacht: Ein »Götzenbild« (idolum) des Kaisers, »Pseudopapst« (pseudopapa) und »Verräter des Glaubens« (apostata), »Untier« (bestia), »Ketzermeister« (aeresiarcha) und »zweiter Arius« (alter Arius) sei er gewesen. Zur Strafe habe man ihn nackt (oder in Schafs- bzw. Bocksfellen) auf einen Esel (ein Kamel, eine alte Mähre) gesetzt, unter Schmähungen durch Rom geführt und schließlich in ein Kloster gesteckt, dessen Name (La Cava) an ein Höhlengefängnis erinnert. Denn ein »Idol« durfte die Kirche nicht regieren, konnte den Stuhl Petri nicht einnehmen. Erst für ihn wurde die Bezeichnung »Gegenpapst« (antipapa) kreiert.99
Carl Erdmann und der Kustos des Preußischen Historischen Instituts Federico Serafini.
Doch dafür, für Absetzung, Entehrung und Schandrituale, interessierte Erdmann sich nicht. Alle Details sind spät bezeugt und wurden erzählerisch immer weiter ausgeschmückt. Ihm ging es vielmehr darum, den kurzen Pontifikat eines Gegenpapstes zu rekonstruieren, die Stationen seiner Laufbahn hervorzuheben, die Hintergründe und Zusammenhänge zur Anschauung zu bringen. Dazu griff er möglichst auf die Originale zurück, zog die weitere Überlieferung heran und stellte die Aufenthalte und Handlungen des »Burdinus« (mediävistisch: sein Itinerar) zu einem plausiblen Gefüge zusammen. Größtmögliche Genauigkeit war das Ziel. Den Urkunden und Briefen wurde daher immer der Vorzug vor den erzählenden Quellen gegeben. Einmal kam es sogar auf die richtige Auflösung einer Abkürzung an, um die Geschehnisse neu und zutreffend interpretieren zu können. Erdmanns mittlerweile etabliertes Netzwerk half ihm dabei, in Madrid die entsprechenden Auskünfte einzuholen.100 Man fühlt sich an Max Webers Forderung an den Wissenschaftler erinnert, »Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht«; wer dazu nicht das Zeug habe, »der bleibe der Wissenschaft nur ja fern«.101 Zweifellos hatte Carl Erdmann das Zeug dazu.
Freilich beließ er es nicht bei der Klärung paläographischer oder chronologischer Fragen, sondern öffnete seinen Gegenstand hin zu den allgemeinen Aspekten. Die Konflikte, die Mauritius als Erzbischof von Braga mit seinen Nachbarn auszutragen hatte, führten zur Bildung einer eigenständigen Landeskirche mit Braga als Sitz des Metropoliten.102 Er war also an der Formierung des Königreichs Portugal und dessen Abgrenzung von Spanien beteiligt und in Rom geriet er nicht nur in die stadtrömischen Rivalitäten, mit denen alle Päpste zu rechnen hatten, sondern auch in jene säkulare Auseinandersetzung, die man als Investiturstreit bezeichnet, bei der es aber um mehr ging als nur um kirchliche Investituren. Auch die Wahl von Gegenpäpsten gehörte zu den Erscheinungsformen des Konflikts. Sechs waren es, die sich dem Reformpapsttum in den Weg stellten.103 Indem Erdmann sich mit einem von ihnen befasste, verließ er den begrenzten Rahmen der portugiesischen Verhältnisse und betrat eines der zentralen Felder der mittelalterlichen Geschichte. Als Mitarbeiter Paul Fridolin Kehrs und Kenner des päpstlichen Urkundenwesens verfügte er über einen privilegierten Zugang dorthin.
Die Sammlung der Papsturkunden gehörte nicht zu den Aufgaben des Preußischen Historischen Instituts in Rom. Aber es liegt auf der Hand, dass das Hauptarbeitsgebiet des Direktors auf die Tätigkeit der Mitarbeiter abfärbte. Carl Erdmann wurde mit kleineren und größeren Aufträgen behelligt und war auch an der Kampagne zur »archivalischen Eroberung« Spaniens, Kehrs »iberischem Feldzug«, beteiligt. Mehrere Wochen war er in spanischen Archiven unterwegs.104 Ermöglicht wurde das ganze Unternehmen erst durch die Unterstützung des Papstes, der sich gerade für Spanien besonders interessierte und durch ein empfehlendes Zirkular persönlich eingriff.105 Kehr selbst erlernte während seines Sommerurlaubs die spanische Sprache, repetierte bei Bergwanderungen »los verbos irregulares« und ließ sich ausnahmsweise von seiner Frau begleiten, die ihm als gelernte Fotografin in den Archiven assistierte.106
Das spektakulärste Ergebnis der Kampagne stellte jedoch nicht Kehrs gedruckte Berichterstattung für die Göttinger Akademie dar,107 sondern eine Sammlung der päpstlichen Papyrusurkunden aus dem 9.–11. Jahrhundert: 15 Diplome, im Lichtdruckverfahren auf 43 Tafeln faksimiliert und diplomatisch ediert, das Ganze im Imperial-Folio-Format (64 x 88 cm) präsentiert, Papst Pius XI. zu seinem 50. Priesterjubiläum gewidmet – ein Rekord, wie er selbst sagte.108 Kehr hatte dazu die Anregung gegeben, nachdem er zehn der 15 Stücke in spanischen Archiven hatte auffinden können. Wie zwei italienische und zwei deutsche Exemplare wurden sie nach Rom gebracht und dort von einem Berliner Restaurator konserviert. Carl Erdmann wird im Vorwort eher beiläufig als Bearbeiter der Texte genannt; aber aus den Briefen, die er damals verschickte, geht hervor, dass er mit der Prachtausgabe alle Hände voll zu tun hatte. Sogar um einen Käfer, der sich unter einem wellig gewordenen Papyrus aus Barcelona »eifrig tummelte«, musste er sich kümmern.109 Am Ende wurde er, Carl Erdmann, mit einer Papstaudienz und einer goldenen Medaille belohnt, wie sie Jubiläumsbesucher erhielten. Auf der einen Seite kann man den Papst als Missionum Pontifex sehen, auf der anderen die heilige Theresia vom Kinde Jesu (Thérèse von Lisieux) als Patronin aller Missionen. Er hielt sie zeitlebens in Ehren, auch wenn er sich gelegentlich über die Umstände amüsierte.110
Gedenkmedaille, wie sie Carl Erdmann von Papst Pius XI. erhielt.
Allen Bemühungen zum Trotz blieb die prunkvolle Ausgabe nur Stückwerk. Denn aus Frankreich waren die dort erhaltenen Papyri (immerhin zehn an der Zahl) nicht zu bekommen. Erdmann hielt sich schadlos, als er auf einer Dienstreise nach Paris einen von ihnen näher in Augenschein nahm. Es gelang ihm, was bis dahin für unmöglich gehalten wurde, nämlich den stark verblassten Text so weit zu lesen, dass die beiden erhaltenen Fragmente zu einem plausiblen Ganzen zusammengefasst werden konnten: Papst Formosus bestätigt der Abtei Saint-Denis jene Besitzungen, die ihr schon Kaiser Karl der Kahle und ein anderer Papst (Nikolaus I.) bestätigt hatten – im Jahr 893 am 15. Oktober. Das Ergebnis war so überzeugend, dass Erdmanns »scharfsinnige Studie« sofort ins Französische übersetzt und in der traditionsreichen Hauszeitschrift der École des Chartes abgedruckt wurde.111 Jahre später erinnerte sich ein früherer Stipendiat des römischen Instituts, wie Erdmann als vergleichsweise junger Mann im Kreise ausgewiesener und erfahrener Experten »fördernd in die Besprechungen eingreifen und schwierigste Entzifferungen vornehmen konnte«.112 Die wohl überzeugendste Probe seines paläographischen Könnens gab er mit der Entzifferung des Pariser Papyrus.
Damit hielt er auch nicht hinter dem Berg. Erdmann wusste, was seine Mühe wert war. Vier Vormittage hatte er für diese eine Papyrusurkunde geopfert.113 Da er gleichzeitig eine wichtige Handschrift einer kurialen Formelsammlung (Marinus von Eboli), einen später nach ihm benannten Krönungsordo sowie eine Gruppe von 36 hochmittelalterlichen Briefen aus Bamberg entdeckte, die er für den »glücklichste[n] Fund« hielt, der »seit geraumer Zeit […] für die mittelalterliche deutsche Geschichte gemacht« worden sei, war er vom Finderglück berauscht, mit Stolz auf seine Leistung erfüllt.114 Die drei Monate, die er in Pariser Bibliotheken und Archiven verbringen durfte, betrachtete er als ein »Zeitalter der Entdeckungen«, das er in kürzester Zeit, aber umso intensiver durchlebte.115 Rückhaltlos teilte er auch seinem Vorgesetzten mit, was ihn bewegte. Denn noch war ihr Verhältnis zueinander von wechselseitigem Respekt und einem gewissen Vertrauen bestimmt. Größere oder kleinere Meinungsverschiedenheiten haben es freilich immer belastet.
Wir erinnern uns: Kehr hielt Erdmann für eifrig und tüchtig und machte in all den Jahren an seinem Urteil keine Abstriche. Er schrieb ihm Gutachten und Zeugnisse, verschaffte ihm zunächst ein Stipendium, dann eine Stelle. Erdmann hatte bestimmte Aufgaben zu erledigen, durfte aber daneben seinen eigenen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen und war deshalb stets mit Feuereifer bei der Sache. Als otia diplomatica, »diplomatische Mußestunden«, bezeichnete er einmal seine Arbeit im Vatikanischen Archiv. Damit zitierte er Kehr, der sich ebenfalls zu einer solchen Form selbstbestimmter Arbeit bekannt hatte.116 Man war sich also grundsätzlich einig.
Und die gemeinsame Arbeit trug Früchte. Nicht ohne Stolz konnte Kehr in jährlichen Berichten vermelden, was sein Schützling erreicht hatte,117 und dieser war dabei, sich in der Zunft einen Namen zu machen. Als er in die Dienste eines »Wissenschaftsmagnaten«118 eintrat, hatte sein Außenseiterdasein ein Ende. Dass er seine ersten großen Werke an so noblen Druckorten wie in den Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen oder der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin veröffentlichen konnte, wäre ohne Kehrs Zutun sicher nicht möglich gewesen. Wie ein »Passe-Partout« soll dessen Name gewirkt haben.119