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Wie ein Klassiker entsteht
ОглавлениеEs fällt nicht leicht, den komplexen, facettenreichen und detailgesättigten Inhalt des Buchs auf wenigen Seiten wiederzugeben. Noch schwerer muss es dem Autor gefallen sein, dieses in wenigen Zeilen zu tun. Aber auch damals mussten Bücher beworben werden, wurden Kurz- und Paratexte geschrieben, um Käufer für die Neuerscheinung zu gewinnen. Erdmann verfasste also einen Werbetext, der aus nur fünf Sätzen besteht und anderen Publikationen des Verlages beigegeben wurde. Er enthält in konzentriertester Form die Sachverhalte, auf die es ihm ankam:
−die Öffnung des Kreuzzugsbegriffs über Jerusalem und das Heilige Grab hinaus,
−»die Ausbildung einer christlichen Ritterethik und die kirchliche Heiligung des Waffenhandwerks«, sichtbar gemacht durch den »Gebrauch heiliger Fahnen«,
−Gregors Nutzbarmachung der »Bewegung« als militia sancti Petri (für Erdmann »der zentralste Begriff« und – wir erinnern uns – der ursprünglich vorgesehene Titel),
−Urbans Umbiegung des Kreuzzugs von innen nach außen
−und schließlich die apodiktische Feststellung: »Der sogenannte erste Kreuzzug war also kein Anfang, sondern ein Höhepunkt der Entwicklung.«45
Damit wurde der Käufer angesprochen, vielleicht der Leser angeleitet, nicht aber die Lektüre erleichtert. Immer noch handelte es sich um eine akademische Qualifikationsschrift, eingereicht bei einer deutschen Universität und den Gepflogenheiten folgend, die dort galten. Der Text ist reichlich mit »deutschen« Fußnoten versehen, die noch nichts von ihrem künftigen »tragischen« Schicksal ahnen können.46 Ungeniert werden lateinische Quellen in ihrem originalen Wortlaut wiedergegeben. Die Argumentation schreitet beharrlich von Einzelfall zu Einzelfall fort, um daraus ein Gesamtbild zu gewinnen. Fünf Exkurse befassen sich mit noch spezielleren Fragen. Das ganze Werk steht in einer Tradition gelehrter Exegese, für die die deutsche Geschichtswissenschaft nach wie vor als maßgeblich galt. Der Anspruch auf Objektivität, Beweisbarkeit und sogar Wahrheit war ihr eigen. Das Publikum für sich einzunehmen oder gar zu unterhalten, lag ihr fern. Auch Erdmann hat seine Leser gefordert und ihnen stete Aufmerksamkeit abverlangt. Immerhin kam er ihnen insofern entgegen, als er eine klare, unprätentiöse, streckenweise sogar noble Schreibweise pflegte, die sich bis heute sehr gut liest.
Das Werk wurde also für eine wissenschaftliche Leserschaft geschrieben. Die Auflage dürfte niedrig gewesen sein, prohibitiv (in Erdmanns Worten: »für den Absatz natürlich tödlich«)47 war der Preis: Für 24 Reichsmark konnte man mehrere Romane von Werner Bergengruen oder dem »Barden« Hanns Johst, acht Bände Karl May oder einen vom Kleinen Brockhaus in Halbleder erwerben, von Bestsellern wie Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« und diversen Sammlungen von »Führerworten« ganz zu schweigen.48 Erdmanns Buch wendete sich eben nicht an ein breites Publikum, sondern an die Spezialisten für mittelalterliche Geschichte im Allgemeinen, für Papst- und Kreuzzugsgeschichte im Besonderen. Dass und wie es von der »Scientific Community« aufgenommen wurde, geht aus den Besprechungen in den wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Journalen hervor. Andere sind mir nicht bekannt.
Dreierlei verdient einen Kommentar:
Erstens kannte Erdmann die meisten der deutschen Rezensenten auch persönlich sehr gut. Offenbar hatte er auf die Auswahl hier und da sogar Einfluss nehmen können.49 Mit Friedrich Bock hatte er in Rom, mit Johannes Ramackers in Paris, mit Peter Rassow in Madrid zusammengearbeitet. Mit Walther Holtzmann stand er seit Langem in enger Verbindung, dessen Vetter Robert war an Erdmanns Habilitation beteiligt und gab mittlerweile die Reihe heraus, in der das Buch erschienen war. Percy Ernst Schramm erteilte ihm briefliche Ratschläge und Karl Hampe schrieb die Besprechung, nachdem er mit dem Verfasser in Heidelberg zusammengetroffen war. Darüber sind wir durch Hampes Tagebuch genau informiert. Theodor Schieffer schließlich, der unter Pseudonym eine späte Rezension nachschob, zählte zu Erdmanns Schülern.50 Fundamentale Kritik war von keinem zu erwarten. Sie alle gehörten der gleichen Zunft an und gingen kollegial miteinander um. Nur Walther Holtzmann stellte die Frage, ob man nicht doch an einem spezifischeren, auf Jerusalem und das Heilige Land zugeschnittenen Kreuzzugsbegriff festhalten sollte. Aber auch er stimmte mit den Urteilen Karl Hampes und Peter Rassows überein: »eine Leistung von hohem Rang«, »die Wirkung des Buches muss stark und nachhaltig sein«.
Zweitens konnte ein Buch über die Kreuzzüge von vornherein mit internationaler Aufmerksamkeit rechnen. Die europäische Dimension des Gegenstands spiegelt sich in den Besprechungen wider. Dass dabei auch kritische Stimmen laut wurden, spricht nicht gegen das Buch, sondern zeugt von persönlicher Distanz und vielleicht sogar Objektivität. Aus Wien etwa war zu hören, dass zu viel von Gregor und Urban, zu wenig von den »überpersönlichen Gedankenströmen«, zu viel von der kirchlichen, zu wenig von der »laizistischen Wurzel« des Kreuzzugsgedankens die Rede sei.51 Der französische Kirchenhistoriker Augustin Fliche (dem wir den Begriff der »gregorianischen Reform« verdanken) warf Erdmann vor, Gregor VII. falsch eingeschätzt und bei der Beurteilung des Ersten Kreuzzugs die Geschehnisse im Reich zu wenig berücksichtigt zu haben.52 Ganz ungnädig und weltanschaulich keineswegs neutral ging der junge, später hoch angesehene amerikanische Kreuzzugshistoriker John L. La Monte mit dem Buch um: Es verdiene einen anderen Titel; denn es handle vom »Militarismus«, den die Bekehrung der »Deutschen« (!) der frühen Kirche eingebrockt habe. Im Übrigen sei es ein typisches Produkt deutscher Gelehrsamkeit: eher den Stoff durchdringend als brillant im Stil, mehr Detailarbeit als große Linien (was dem Verfasser bewusst war). Auch ein Seitenhieb auf die deutsche »Festschrift« fehlt nicht. Inhalt und Schreibweise würden verhindern, dass das Buch jemals »populär« oder einflussreich werden könne.53 Die Besprechung erschien an herausragendem, die amerikanische Geschichtswissenschaft repräsentierendem Ort und trug nichts dazu bei, Erdmanns Namen in den dortigen Fachkreisen bekannt werden zu lassen. Wir werden sehen, dass es mehrerer Jahrzehnte bedurfte, bis sein Werk auch in der englischsprachigen Forschung ankam. Wir werden aber auch sehen, wie grob der Rezensent das Buch unterschätzte.
Drittens fällt auf, dass es verschiedene Fachrichtungen ansprach. Es besaß – avant la lettre – transdisziplinären Charakter. Rezensenten aus der Theologie vermerkten, was sie darin fanden und was sie vermissten (Gottes Wirken zum Beispiel).54 Ernst Robert Curtius regte an, von Erdmann ausgehend die französischen Ritterepen neu zu interpretieren,55 und den Byzantinisten Louis Bréhier beschäftigten die vielen Verbindungen der Kreuzzugs- mit der byzantinischen Geschichte.56 Auch die Islamwissenschaften hätten sich herausgefordert sehen müssen. Allerdings hat nur ein Journal für berberische und marokkanische Studien reagiert.57 Erdmann selbst verstand sich zweifellos als Historiker mit mediävistischer Ausrichtung. Aber durch seinen langen Aufenthalt im Ausland ging die herkömmliche ereignis- und politikgeschichtliche Orientierung der deutschen Forschung an ihm vorüber. Auch deren landes-, verfassungs- und dann volksgeschichtliche Neuausrichtung blieb ihm vorerst erspart. Einmal bekannte er freimütig sein »völliges Versagen in der Verfassungsgeschichte«.58 Hier hatte er tatsächlich einen blinden Fleck, der ihm einige Fehlurteile und begriffliche Unschärfen eintrug. Stattdessen hatte er von Paul Joachimsens geistesgeschichtlichen Untersuchungen profitiert und sich in Lissabon ein so vielschichtiges Thema wie die Kreuzzugsgeschichte erschlossen, das er im Dienst Paul Fridolin Kehrs ganz auf die Papstgeschichte hin umbog. In Rom hat er wohl auch die Macht der Zeichen und Symbole entdeckt, ohne sich in den eigentlichen Theologica zu verlieren. Für sein Interesse an Liturgien und Ritualen dürfte dort ebenfalls der Grund gelegt worden sein.
Hinzu kommt ein ganz persönlicher Aspekt. Erdmann hatte nicht viele Freunde, damals wahrscheinlich nur einen: Gerd Tellenbach. Sie hatten in Rom mehrere Jahre lang zusammengearbeitet, verstanden sich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch weltanschaulich-politisch und blieben dauerhaft in Verbindung bis hin zu Erdmanns tragischem Ende. Hätte Tellenbach nicht die Briefe des Freundes aufgehoben, wüssten wir sehr wenig über dessen Leben, Denken und Tun. Diese Biographie hätte nicht geschrieben werden können. Immer blieb man beim förmlichen »Sie«. Das entsprach dem Usus der Zeit, mit dem man differenziert umging. Max Weber und Karl Jaspers hatten jeweils einen einzigen Duzfreund, Thomas Mann nicht viel mehr,59 Carl Erdmann gar keinen. Nur einmal rutschte ihm ein vertrauliches »Du« heraus. Doch es handelte sich um ein Versehen, um einen Kopierfehler sozusagen, weil Erdmann den Satz aus einem Feldpostbrief an seine Schwester Yella übernommen hatte. Aber Tellenbach verstand den Lapsus zeitlebens als Zeichen der Freundschaft, vielleicht nicht völlig zu Unrecht. Denn Zeichen einer persönlichen Nähe hatte er erhalten: hier eine Widmung »in Freundschaft«, dort die »herzlichsten Freundesgrüße«. Aus »lieber Herr Tellenbach« war »lieber Tellenbach« geworden, »caro dottore« geradezu scherzhaft in »caro amico« übergegangen. Dabei sollte es bleiben. Vertraulichkeit in den Zwischenformen der Anrede oder hinter der Fassade einer anderen Sprache und einmal aus purem Versehen: Mehr durfte man von Erdmann nicht erwarten.60
Vor allem wissenschaftlich standen sie sich nahe. Ungefähr gleichzeitig beschlossen sie, sich zu habilitieren. Beide Habilitationsschriften wurden in Rom begonnen und in Deutschland eingereicht, die eine in Berlin, die andere in Heidelberg. Lange Zeit blieb offen, wer zuerst zum Abschluss kommen und sein Werk zum Druck bringen würde. Am Ende hatte Erdmann die Nase vorn. Beide Bücher erschienen in derselben Schriftenreihe beim Verlag Kohlhammer in Stuttgart. Einmal wurden sie auch gleich nacheinander besprochen, in einem Atemzug sozusagen.61 Wie im römischen Institut üblich, versprachen die beiden Autoren, sich niemals gegenseitig zu rezensieren. Bis auf eine – als Hilfe in der Not verstandene – Ausnahme hielten sie das auch durch.62 Sie wollten nicht als Zunftgenossen, sondern als Freunde miteinander umgehen.
Beide Werke behandeln die gleiche Epoche, spannen einen europäischen Horizont auf und gehen von ähnlichen Fragestellungen aus: In welchem Verhältnis stehen Kirche und Welt zueinander und wie wirkte sich die Fundamentalkritik der sogenannten gregorianischen Reform aus? Tellenbach fasste deren Anliegen unter dem Begriff der »Freiheit« (libertas) zusammen: Freiheit der Kirche von der Herrschaft der Laien und Freiheit der Kirche zur »Ausübung ihrer Mission«, also auch zur »Leitung der Welt«. Das Ziel der »Weltgewinnung« habe damals die Oberhand über die Neigung zur »Weltabkehr« gewonnen.63 Erdmann und Tellenbach, beide Protestanten, verfolgten fasziniert den Aufstieg des Papsttums in Kirche und Welt und deuteten ihn als tiefgreifenden Umbruch von revolutionärer Gewalt. Der herkömmliche Begriff »Investiturstreit« verkürze das Geschehen auf seine (kirchen)politischen Aspekte. Es ging aber – so Tellenbach – um nicht weniger als »die rechte Ordnung in der christlichen Welt«.64 Da sie aber immer als »Idee von großer historischer Wirkungskraft« auftrat, niemals »vollendete Wirklichkeit« wurde,65 schien es geboten, sie auf ideen-, also geistesgeschichtlicher Grundlage zu erfassen. Erdmann und Tellenbach taten das, indem sie die patristische, dogmatische und kanonische Überlieferung der Kirche sowie die Streitschriftenliteratur des Investiturstreits systematisch durchgingen. Unterschiede ergaben sich teils aus den jeweils behandelten Gegenständen, teils aus den Vorlieben der Verfasser: Tellenbach ließ sich viel mehr auf die eigentlich theologischen und ekklesiologischen Fragen ein, während Erdmann sich in diesen Dingen »Interesselosigkeit« attestierte – für jemanden, der beinahe ein Geistlicher geworden wäre, ein bemerkenswertes Bekenntnis.66
Otto Gerhard Oexle hat einmal den »kulturwissenschaftlichen Aufbruch« der deutschen Mittelalterforschung skizziert und dafür fünf Buchtitel aus den Jahren 1929 bis 1946 in Anspruch genommen.67 Deren Verfasser stammten aus der Generation um 1900 und hatten sich alle an dem »Zusammenhang von Politik, Gesellschaft und Religion« abgearbeitet. Unter ihnen befinden sich auch Gerd Tellenbach und Carl Erdmann mit den beiden hier besprochenen Werken. Erdmann habe einer anderswo aufkommenden Mentalitätengeschichte am nächsten gestanden. Ob er damit zufrieden gewesen wäre, als Kulturwissenschaftler und Mentalitätenhistoriker etikettiert zu werden, steht dahin. Wahrscheinlich hätte er sich damit begnügt, als Mediävist mit geistesgeschichtlicher Ausrichtung ernst genommen zu werden. Alles andere gehört zur Wirkungsgeschichte seines Buchs und wird uns noch weiter unten beschäftigen. An deren Anfang steht ein ganz normales Habilitationsverfahren an der Berliner Universität. Wir kehren damit in das Jahr 1932 zurück.