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Das Glück im Winkel
ОглавлениеErdmann zog sich ins Privatleben zurück, zu alt, um anderswo eine neue Laufbahn zu beginnen, zu jung, um den Ruhestand zu genießen. Dass ihm durch Nichtbestätigung auch noch sein Amt als Stadtrat entzogen wurde, hat ihn schmerzlich getroffen. Selbstzweifel nagten an ihm. Die ihm verbliebenen Tätigkeiten hielt er für »bloße Geschäftigkeit« in einem »zerrissenen Leben« und konnten ihm den verlorenen Beruf nicht ersetzen.58 Er wirkte als Anwalt und in Wohltätigkeitsorganisationen weiter, engagierte sich in der evangelisch-lutherischen Universitätsgemeinde und hielt Vorträge, oft zugunsten des »Dorpater Hilfsvereins«. Eine seiner Töchter meinte, er habe ein »wundervolles Organ« besessen, mit dem er »fortreißende, oft erschütternde Wirkung« zu erzielen verstand; er sei einer der glänzendsten Redner jener Jahre gewesen, »eine mächtige, schwer zu vergessende Persönlichkeit«.59 Eine gedruckte Sammlung seiner Vorträge gliederte er in einen ersten Teil »aus dem Grenzgebiet zwischen Rechts- und Empfindungsleben« und einen zweiten mit dem vielsagenden Titel: »Was uns bleibt«. Auch die Überschriften der einzelnen Vorträge sprechen für sich: »Die Familie« – »Das Wesen der Heimat« – »Ewige Personen« – »Die Ehre« – »Das Glück im Winkel«.60 Ihr bevorzugter Druckort war die »Baltische Monatsschrift«, in der sich eine »überprovinziale [also nicht mehr nur estländische, livländische oder kurländische] Öffentlichkeit« artikulierte.61
»Das Glück im Winkel« erlebte Erdmann senior auch selbst. Eine im Studio eines professionellen Fotografen aufgenommene, also repräsentative Fotografie zeigt Carl Eduard Erdmann inmitten seiner vielköpfigen Familie: ein kräftiger, ja korpulenter Mann in nicht allzu hohem Alter, »schubertschöpfig« mit »Kindergesicht« und »Elefantenkörper«; dahinter, hochgeschlossen auf die Schulter des Mannes gestützt, die junge Ehefrau, kaum älter als die älteste (Stief-)Tochter, aber mit gebietendem Blick aus »übergroßen, feurigen Augen«;62 ein erwachsener Sohn, sonst nur Töchter, zwei mit ihren Partnern, die jüngsten noch als Kleinkinder gekleidet. Das Bild muss um 1895/98, nicht lange vor Erdmanns Tod, entstanden sein. Es strahlt eine gewisse Behäbigkeit und familiäre Geschlossenheit, »Glück im Winkel« eben, aus. Doch das Glück hielt nicht lange. Erdmann ereilte kein plötzlicher, aber ein rascher Tod. »Herzlähmung« – so heißt es in der familiären Tradition. Letzte Worte sind überliefert.63 Der Leichnam wurde in der Universitätskirche aufgebahrt, dann zum Marienfriedhof (Maarja kalmistu) gebracht und dort zur letzten Ruhe gebettet. Das Grab scheint es nicht mehr zu geben. Alle Professoren wurden durch ein »Cirkulär« informiert.64 Die Witwe mit fünf eigenen und sieben Stiefkindern musste von da an allein zurechtkommen.
Das jüngste Kind war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren und fehlt auf dem Bild. Es kam vier Wochen nach dem Tod des Vaters zur Welt und erhielt dessen ersten Vornamen: »Carl Erdmann, posthumus« (nachgeboren) heißt es auf dem Geburts- und Taufschein.65 Es verbrachte nur die ersten drei Lebensjahre in Dorpat und wuchs dort nicht auf. Eine seiner Schwestern und seine Mutter kehrten zeitweilig nach Livland zurück, er selbst nie. Was also hatte Carl Erdmann junior mit der Heimat seiner Eltern und Geschwister zu schaffen? Was nahm er von dort mit in sein künftiges Leben?
Carl Eduard Erdmann im Kreis seiner Familie, hinter ihm seine zweite Frau Veronika.
Bestimmt nicht eine spezifische »baltische« Mentalität, wie sie anderen und auch ihm später zugeschrieben wurde. Diese Unterstellung hat weder Hand noch Fuß, nicht in seinem Fall und auch sonst nicht. Nicht einmal seine ausgeprägte Individualität, sein Eigensinn, lässt sich damit erklären. Da er seinen Geburtsort im Grunde nicht kannte, können nur solche Einflüsse dauerhaft auf ihn eingewirkt haben, die familiär vermittelt wurden. Zweifellos gehörte ein ausgeprägtes Familienbewusstsein dazu, bei den Deutschbalten bekanntlich kein seltener Fall. Es war über mehrere Generationen geschärft worden, hatte sich unter schwierigen Umständen zu bewähren und wurde deshalb weiterhin gepflegt, auch an völlig anderem Ort. Nur ein Beispiel: Als ein befreundeter Kollege später einmal etwas Unzutreffendes über einen Großonkel (jenen preußischen Philosophen) publizierte, widersprach ihm Erdmann vehement. Er berief sich dabei auf die familiäre Überlieferung und machte damit deutlich, wie präsent und verlässlich diese ihm war.66
Damit verband sich zweitens die Verpflichtung zur höheren Bildung, die dem Selbstverständnis des deutschbaltischen Literatentums entstammte, also jene Vernunftorientierung, die auch den geistigen Habitus Carl Erdmanns bestimmen sollte. Der Vater und weitere Familienmitglieder waren Universitätsprofessoren geworden. Warum sollte nicht auch der Sohn eine solche Laufbahn anstreben? Die Wahl einer bestimmten Fachrichtung war damit nicht präjudiziert. Aber folgte er familiären Vorbildern, dann studierte er Theologie oder Jura, vielleicht Medizin.
Drittens schließlich wurde ihm sicher vom Schicksal des Vaters, von dessen beharrlichem Festhalten an der deutschen Unterrichtssprache und von den beruflichen Konsequenzen, erzählt. Ein emphatisches Bekenntnis zur deutschen Kultur ließ sich davon herleiten. Man kann es als familiär begründeten Kulturpatriotismus bezeichnen. Jahre später erklärte Erdmann einmal, wie sehr es ihn ärgere, wenn zwischen »reichsdeutsch« und »deutsch« nicht unterschieden werde. Ihm als »Balten« sei eine solche Unterscheidung »gewissermaßen angeboren«. Er sah sich als Deutschen, dessen Wurzeln außerhalb Deutschlands lagen.67
Dies alles – Familienbewusstsein, akademische Orientierung und eine deutsch-patriotische Grundstimmung – ist für die Biographie Carl Erdmanns von Belang. Es wurde ihm durch die familiäre Erinnerung vermittelt und ist darüber hinaus in der komplexen Geschichte seiner fernen, zunehmend fremden Heimat Livland zu verorten.