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TOD EINES MEDIÄVISTEN
ОглавлениеEnde Mai 1944 erhielt Heinrich Sproemberg ungewöhnliche Post, keinen Brief, keine Büchersendung, nur eine Postkarte, abgeschickt in Straßburg, zugestellt durch die Feldpost. Absender war der Schütze Carl Erdmann, »Dolmetscher eines Sonder-Lehrgangs für Italiener«.1 Sproemberg wird sich gefreut haben. Denn die beiden kannten sich seit längerer Zeit, tauschten ihre Publikationen und verstanden sich auch persönlich recht gut. Ihre Arbeitsschwerpunkte lagen in der Geschichte des Mittelalters, unterschieden sich aber so weit voneinander, dass sie nie miteinander konkurrierten. Beide gehörten zum Umfeld des emeritierten Berliner Ordinarius Robert Holtzmann und beide waren Außenseiter im akademischen Betrieb, der eine als Privatgelehrter ohne Habilitation und ohne feste Anstellung, der andere als schlecht bezahlter Mitarbeiter im »Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde«. Sproemberg ging es damals nicht gut. Mit Holtzmanns Emeritierung hatte er einen Förderer und Fürsprecher verloren. Mit Fritz Rörig, dem anderen Mediävisten an der Friedrich-Wilhelms-Universität, verstand er sich nicht. Aus einer Tätigkeit für den »Hansischen Geschichtsverein« wurde er hinausgedrängt, einmal auch wegen »jüdischer Versippung« denunziert. Dass er gläubiger Protestant war und der Bekennenden Kirche angehörte, erleichterte seine Situation nicht. Ende 1943 – in einem der nun zahlreichen, verheerenden Luftangriffe auf die Reichshauptstadt – wurde Sproembergs Familie ausgebombt. Im Klostergut Badersleben nördlich von Wernigerode fand sie Zuflucht. Auch Sproembergs Bücher wurden gerettet. Doch abgeschnitten von fachlichen Gesprächen und der Bibliothek des Reichsinstituts, musste er seine Arbeitsmöglichkeiten als »beschränkt« empfinden.2 Schon eine schlichte Postkarte, geschrieben von einem Vertrauten, konnte seinen Alltag ein wenig aufhellen.
Sproemberg hatte sich Sorgen gemacht und wollte wissen, wo Erdmann steckte. Hatte es ihn etwa nach Italien verschlagen? Das aber war jetzt – nach Mussolinis Sturz, der Invasion durch die Alliierten im Süden und der Besetzung des restlichen Lands durch die Wehrmacht – »auch keine ruhige Gegend mehr«.3 Sproembergs Sorgen wurden durch die Postkarte zerstreut, durch den kurzen Text auf der einen, mehr noch durch das Foto auf der anderen Seite: Es zeigt den gesamten Lehrgang in Straßburg, 30 Mann in Uniform, locker aufgestellt für den Fotografen, Italiener, die zu »Gerät-Unteroffizieren« ausgebildet wurden, deutsche Dolmetscher, die den schwierigen Unterrichtsstoff übersetzten. Kaum einer macht einen martialischen Eindruck, am wenigsten Carl Erdmann. Man erkennt ihn sofort: lang, schlaksig, die Arme etwas linkisch gestreckt, freundlich lächelnd, der einzige Brillenträger in der Gruppe, sichtbar ein Gelehrter. Auch die Stelle, an der er steht, scheint charakteristisch für ihn: in der zweiten Reihe ganz links, Außenseiter auch hier.