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Sterben wie ein Philosoph

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Mitte November war es dann so weit. Am 3. Oktober hatte die Heeresgruppe E den Befehl erhalten, das besetzte Griechenland und die gesamte südliche Balkanhalbinsel zu räumen. Eine zweite »Anabasis« hat man den Abzug im Rückblick genannt und so ohne Not heroisiert. Auch Albanien ließ sich nun nicht mehr halten. Die dort stationierten Truppen hatten zunächst die südwestliche Flanke des Rückzugs abzusichern und setzten sich dann von Süden, von Vlora her, nach Norden ab. Tirana wurde im Häuserkampf aufgegeben.43 Erdmann erlebte hautnah, wie sich eine »planmäßige Räumung« vollzog: keineswegs planmäßig und geordnet, sondern unter chaotischen Umständen und ständigem Beschuss. Zahlreiche Fahrzeuge blieben im Feuer liegen. 2000 Mann verloren ihr Leben. Erdmann verließ nachts zu Fuß die Stadt, konnte dann aber einen Platz auf einem Lastwagen ergattern und traf nach 30-stündiger, immer wieder unterbrochener Fahrt in Shkodra (Skutari) an der albanisch-montenegrinischen Grenze ein, wo sich die geschlagenen Reste der Besatzungstruppen einfanden. Vor ihnen lagen noch 300 Kilometer Berg- und Talfahrt durch zwar »wildromantisches«, aber eben auch unwegsames Gelände. Denn erst in Sarajevo bestand Aussicht, Anschluss an die deutschen Linien zu finden. Immer drohte Gefahr, durch jugoslawische Partisanenverbände abgedrängt und abgeschnitten zu werden.

Dessen war sich auch Erdmann schmerzlich bewusst. Längst hatte er sich damit abgefunden, Heimat und Familie nicht wiedersehen zu können. Das Leben in der Wissenschaft, früher die ihm allein angemessene Existenz, hatte sich zur fernen Erinnerung verflüchtigt. Mit einem Schreiben an seine Schwester Yella gab er seiner Haltung Ausdruck. Jedes Wort war ihm wichtig. Alles erscheint auf die grundsätzlichen Fragen gerichtet. Nichts Nebensächliches stört den stoischen Duktus. Denn es geht um letzte Dinge, um den Abschied von der Familie, von den Freunden und auch vom eigenen Leben. Er machte sich Sorgen um seine zwei Schwestern und seinen Neffen und er bedauerte es, nicht mehr von sich selbst preisgegeben zu haben. Er hänge an seiner Familie, habe aber seine »Gefühlskälte« nie verbergen können. Selten sprach er so offen von seiner Person.

Für Deutschland sah Erdmann »eine sehr schwere Zeit« anbrechen. Das war ihm »seit Jahren« bewusst. Aber selbst die Ereignisse des letzten Kriegsjahrs, das Desaster an allen Fronten, hatten ihn nicht völlig entmutigt. Mit einem »Gefühl der Hoffnung« nehme er Abschied und dafür sei er dankbar; denn »mehr als die Möglichkeit einer Hoffnung darf man vom Schicksal wohl überhaupt nicht verlangen«. Damit meinte er sicher nicht den Ausgang des Krieges, sondern das Leben danach. Er für sein Teil habe »abgeschlossen« und stehe »für den noch verbleibenden Lebensrest schon jenseits von Furcht und Hoffnung«. Mit einer Rückkehr nach Deutschland rechne er nicht. Tod und Gefangenschaft wären für ihn »annähernd das Gleiche«. Sibirien werde er schwerlich überstehen. Wenigstens könne er »mit Befriedigung« auf seine wissenschaftliche Arbeit zurückblicken. Jetzt komme es nur noch darauf an, die letzten Tage zu bestehen: »Als rechter Humanist muss man ja auch das Lebensende zu bejahen vermögen und ›en philosophe‹ zu sterben wissen.« Letztlich zeige es sich nur »dem Tode gegenüber, ob man an seine Ideale wirklich glaubt oder nicht. So will ich denn ohne Hass in aller Heiterkeit scheiden, das Schicksal wenigstens für meine Person bejahen.«44

Carl Erdmann war mit sich und seinem Leben ins Reine gekommen. Die Zeit auf dem Balkan, in Albanien, in Tirana betrachtete er als Gewinn. Er hatte – bei allen Widrigkeiten – viel Interessantes gesehen und dabei immer den Blick auf das große Ganze gerichtet. Die wissenschaftliche Neugier war ihm nicht abhandengekommen. Aber er wusste: Hier kommst du nicht mehr heraus! Zweierlei spendete ihm Trost: zum einen der Rückblick auf die eigene Leistung, seine Beiträge zu der Wissenschaft, mit der er sich identifizierte; zum anderen die Beispiele der Philosophen und Dichter. »Philosopher, c’est apprendre à mourir«: So hatte Michel de Montaigne einen seiner »Essais« überschrieben; denn »das Ziel unserer Laufbahn ist der Tod« und es komme darauf an, mit ihm Umgang zu pflegen, sich an ihn zu gewöhnen. Novalis nannte das Sterben einen »echtphilosophischen Akt«, den Tod »eine Selbstbesiegung, die, wie alle Selbstüberwindung, eine neue, leichtere Existenz verschafft«. Und Schiller, den Erdmann sehr schätzte, hielt das Leben für »der Güter höchstes nicht«.45 An all das mag er gedacht haben; doch mindestens ebenso gut kannte er die antiken Philosophen: Sokrates, der die Befreiung der Seele von ihrer körperlichen Existenz zum Geschäft der »wahrhaft Philosophierenden« erklärt hatte; Marc Aurel, der dazu geraten hatte, den Tod nicht zu verachten, sondern sich mit ihm zu befreunden, »da auch er eines von den Dingen ist, die die Natur will«; Seneca, der es für »ein unschätzbares Gut« hielt, »sein eigener Herr zu werden«, und deshalb vom Weisen verlangt hatte, stets darauf zu achten, »von welcher Art sein Leben ist, nicht, wie lange es währt«; Boëthius, der, von der Philosophie getröstet, gelassen in den Tod ging.46 Erdmann folgte ihrem Beispiel, dachte über den Tod nach und fasste sein Ende ins Auge. Aber er berief sich auf Friedrich Schiller, vielleicht weil es in dem von ihm zitierten »Reiterlied« um Soldatentum geht, sicher weil auch hier Tod und Freiheit einander bedingen.47

Erdmann akzeptierte sein Schicksal und fand sich mit ihm ab. Mit dem Leben hatte er abgeschlossen. Nur auf ein würdiges Sterben kam es noch an. Dadurch gewann er eine innere, geistige Freiheit, eine heitere Gestimmtheit, über die keiner seiner Kameraden verfügte. Diese meinten, er habe das seinem Junggesellentum zu verdanken. Das ließ er nicht gelten. Auch er sorgte sich um seine Familie. Vielmehr war es der geschulte Blick auf die Realitäten, der ihm Seelenruhe bescherte. Sie half ihm, Schikanen und Demütigungen zu ertragen, und sie half ihm, auch die Anerkennung, die ihm schließlich zuteilwurde (sogar vom Kriegsverdienstkreuz war die Rede!), nicht weiter wichtig zu nehmen. Sie half – paradoxerweise – sogar dabei, die Strapazen des Rückzugs zu überstehen und wider Erwarten sein und seiner Kameraden »fernes Ziel« Sarajevo zu erreichen.48

Mit stoischem Gleichmut ertrug er nämlich all die Widrigkeiten, die sich ihm und der Truppe in den Weg stellten. Im Oberkommando der Wehrmacht fand man schöne Worte dafür: »Mit verbissener Energie arbeitet und kämpft sich der deutsche Soldat dennoch weiter vorwärts.«49 Doch die Wirklichkeit war alles andere als heroisch, sondern ein Desaster, keine gelungene Absetzbewegung, wie es hieß, sondern ein fluchtartiger Rückzug unter Bedingungen, die gerade dem einfachen Soldaten ein Übermaß an Leistungs- und Leidensfähigkeit abverlangten. Es ging auf den letzten Kriegswinter zu. Die Nächte waren kalt und nass, die Pässe vereist. Starke Schneefälle lösten Hochwasser aus. Quälend langsam ging der Rückzug voran. Die ursprünglich vorgesehene Route in Küstennähe über Mostar war in feindlicher Hand, man musste sich also in nordöstlicher Richtung mühsam durch das Karstgebirge durchschlagen. Nur Erdmann genoss den Anblick der »wildromantischen« Berglandschaften in Montenegro, Bosnien und im Sandschak und nahm alle Eindrücke »gierig« in sich auf.50

Vor Angriffen englischer Flieger musste man auf der Hut sein; doch in Bodenkämpfe wurde seine Einheit nicht verwickelt. Überhaupt kam er mit dem Feind so gut wie nie in Berührung. Seine »Feuertaufe« in den albanischen Bergen war soldatisch ein Fiasko, bei dem er keinen einzigen Schuss abgab und einen Teil seiner Ausrüstung verlor. Auch später hat er offenbar niemals ernsthaft von der Waffe Gebrauch machen müssen. Hätte er auch nur einen einzigen Feind erschossen, hätte er es sicher in seinen Briefen erwähnt. Er nahm in den verschiedensten Funktionen am Krieg teil und wurde von der einen Einheit zur anderen geschickt – »fünftes Rad am Wagen« nannte er sich einmal.51 Weltfern, aber schrittsicher wie der brave Soldat Schwejk bewegte er sich durch die Kriegsläufte und begleitete die Geschehnisse eher als ein allzeit interessierter Beobachter denn als Akteur. Neu und lehrreich war fast alles, was er erlebte.

Doch Erdmanns Geschichte nahm kein gutes Ende. Seine wundersame Errettung aus dem Wirrwarr des Rückzugs kommentierte er – ganz Bildungsbürger – mit einem Zitat aus »Faust I«: »Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.«52 Wie zu neuem Leben erweckt kam er sich vor. Eine Leihbibliothek mit Werken von Theodor Storm, Theodor Fontane, E. T. A. Hoffmann, Knut Hamsun befriedigte seinen geistigen Nachholbedarf. Er fischte heraus, was er gebrauchen konnte, die politischen und Kriegsbücher ließ er liegen.53 Sogar die Rückkehr nach Deutschland schien wieder möglich. Aber alle Hoffnungen zerschlugen sich. Der Krieg ließ ihn nicht mehr aus seinen Fängen, und nachdem er die Strapazen des Rückzugs überraschend gut verkraftet hatte, ereilten ihn nun auch gesundheitliche Probleme.

Zunächst klagte er über eine »gewöhnliche« Erkältung und »leichte« Frosterscheinungen an den Füßen, dann über Fieber und geschwollene Unterschenkel mit großen roten Flecken. Er konsultierte mehrere Militärärzte und erhielt mehrere Diagnosen, von »Purpura rheumatica« bis zum »Marschödem«. Nichts davon wollte er glauben. Seine Nichte, eine angehende Ärztin, sollte sich kundig machen und ihm das Ergebnis durch die Feldpost mitteilen. Auch unter diesen Umständen ließ er sich nicht jenen Eigensinn nehmen, der ihn immer auszeichnete und oft genug in Schwierigkeiten gebracht hatte. Einer der Ärzte wollte ihm einen längeren Kuraufenthalt verschreiben, wenige Wochen vor Kriegsende und nachdem die meisten deutschen Soldaten sich schon weiter nach Norden abgesetzt hatten. Erdmann redete es ihm aus, weil er – mehr denn je – Realist war. Immerhin tat es ihm gut, ein paar Tage in der »Krankensammelstelle« zu verbringen. Die roten Flecken waren ohnehin fast verschwunden. In seinen Briefen gab er sich Mühe, das Problem herunterzuspielen. Niemand sollte sich Sorgen um ihn machen.54 In Zagreb, wohin Erdmann seiner Einheit gefolgt war, wurde er zunächst zu einem Durchgangslager für Kriegsgefangene abgeordnet und dann an das örtliche Lazarett ausgeliehen, das dringend einen Dolmetscher für Italienisch brauchte.55 Es war das letzte Lebenszeichen, das er von sich gab. Acht Tage später war Carl Erdmann tot.

Niemand kennt die Ursache seines Todes. Todesanzeigen und Nachrufe gehen nicht darauf ein oder sprechen ganz allgemein von einer Krankheit.56 Nur ein kurzer Nachruf, der in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, nennt sie mit Namen: »Typhus«.57 Gemeint war wohl »Flecktyphus«. Der medizinisch korrektere Begriff »Fleckfieber« findet sich erst in Friedrich Baethgens Lebensbild von 1951.58 Er hat seine Logik: Die roten Schwellungen an Erdmanns Beinen lassen sich vielleicht damit erklären, und dass Fleckfieber (Typhus exanthematicus) gerade in Kriegszeiten grassierte, lehrt schon ihr zeitweiliger Name: Pestis bellica, Kriegstyphus oder ähnlicher Schmutz, Verlausung und überhaupt der kriegsbedingte Mangel an Hygiene boten den idealen Nährboden dafür.59 Unter den chaotischen Umständen des Rückzugs durch Montenegro und Bosnien gab es auch für Erdmann genügend Gelegenheit, sich mit dem Erreger zu infizieren. Mit der üblichen Inkubationszeit von acht bis zwölf Tagen und anschließenden vier bis sieben Tagen, nach denen die Krankheit sichtbar wird, könnte man ebenso wie mit der Jahreszeit argumentieren: Fleckfieber tritt bei kalten Temperaturen eher auf als bei warmen.

Zu all dem passt jedoch nicht, dass Erdmann augenscheinlich nicht unter Hals-, Kopf- oder Gliederschmerzen litt und auch nicht von so auffälligen Symptomen wie aufgedunsenem Gesicht (»Fleckfiebergesicht«), Benommenheit, Bewusstseinstrübung oder Verwirrungszuständen berichtet. Oder hat er das alles verschwiegen, um seinen Verwandten Aufregung zu ersparen? Vollends wäre schwer zu erklären, weshalb die Krankheit zunächst abklang und dann erst nach sechs bis sieben Wochen zu seinem Tod geführt haben soll. Als Yella Vulpius-Erdmann die Nachricht erhielt, stellte sie Vermutungen an: »Ob er sich nun dort mit irgendeiner Krankheit angesteckt hat oder ob sein Herz die schweren Strapazen des Rückzuges doch nicht hat aushalten können, oder ob er womöglich in Agram von einem Partisanen angeschossen worden ist, weiß ich nicht.«60 Genaueres lässt sich auch (oder gerade) im Abstand von mehr als 70 Jahren nicht sagen. Sogar der genaue Ort seines Sterbens – im Lazarett, im Gefangenenlager oder anderswo – bleibt völlig im Dunkeln.

Yella Vulpius-Erdmann erfuhr vom Tod ihres Bruders nicht durch eine militärische Dienststelle, sondern durch die »Abteilung für Familienunterhalt« beim »Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Zehlendorf der Reichshauptstadt Berlin«. Denn Carl Erdmann hatte eine Mietbeihilfe von monatlich 12 Reichsmark erhalten. Diese kam nun – mit Wirkung zum 30. April 1945 – »in Fortfall«.61 Es wird der Tag sein, an dem sich Adolf Hitler das Leben nahm; im Rundfunk hieß es, der »Führer« sei »in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen«.62 Ein »tausendjähriges« Reich schnurrte zusammen, die Rote Armee stand an der Oder. Doch die Bürokratie in Zehlendorf tat unerbittlich ihr Werk.

Nach Erhalt der Nachricht verständigte Yella die Verwandten, Freunde und früheren Kollegen und sie setzte eine Anzeige in die Zeitung, die unter der Rubrik »Für Führer, Volk und Reich gaben ihr Leben« erschien und den Leser wissen ließ, ihr Bruder sei irgendwo »im Südosten« gefallen.63 Ein Ort wird nicht genannt. 22 andere Tote umgeben, dicht gedrängt, den Namen Carl Erdmann, acht Soldaten, vierzehn Bombenopfer, Frauen und Kinder. Die Zeitungen hatten kein Papier mehr, auch wenn der Bedarf für die Traueranzeigen zunahm. Sie mussten sich auf das Nötigste beschränken. »Wie in einem Massengrab lagen die Toten in einem einzigen schwarz umzogenen Viereck eng zusammengepackt.« Anzeigen wie diese gehörten zur Lingua Tertii Imperii in dessen finaler Phase.64

Außerdem schrieb Yella eine »Totenklage« in 14 reimlosen, stilistisch eher anspruchslosen Versen nieder. Familiäres Leid ist ihr Thema. Denn auf den Tod der Mutter war nun der des einzigen noch lebenden Bruders gefolgt: »Verschwistert schweben nun die Schatten beide, der Mutter und des Sohnes, durch den Raum, den sie so liebten.«65 Mit dem einen hatte man rechnen müssen, den anderen befürchten. Die folgenden 13 Kapitel werden zeigen, dass der Verlust nicht nur Carl Erdmanns Familie betraf.


Todesanzeige in der Deutschen Allgemeinen Zeitung.

Fackel in der Finsternis

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