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Familiengeschichten
ОглавлениеDie Familie Erdmann gehörte keineswegs zu den seit langer Zeit in Livland ansässigen Deutschen, schon gar nicht zu den vornehmen Geschlechtern. Erst ganz zu Ende des 18. Jahrhunderts ließ sich Johann Wilhelm Erdmann, Carl Erdmanns Urgroßvater, hier nieder. Er stammte aus Lyck in Masuren, sein Vater war dort als preußischer Steuereinnehmer tätig. Der Sohn studierte in Königsberg und legte die Grundlagen dafür, dass seine männlichen Nachkommen über mehrere Generationen hinweg eine akademische Ausbildung erhielten und einige davon Professoren an verschiedenen Universitäten werden konnten. Was ihn von Preußen nach Livland verschlug, wissen wir nicht. Er selbst hinterließ nur undeutliche Angaben dazu: »Vaterland, Verwandte, und was Alles überwiegt, einen Freund« habe er verlassen müssen, um sich »in fremden Gegenden Brod und Freunde und Gönner« zu suchen, um also eine berufliche Stellung finden und neue soziale Verbindungen aufbauen zu können. Religiöse Auseinandersetzungen in der Familie scheinen eine gewisse Rolle gespielt zu haben.12 Wolmar (heute: Valmiera) nordöstlich von Riga mit damals nur ein paar Hundert Einwohnern betrachtete er nicht als das Ziel seiner Wünsche; aber er nahm die kleine Landstadt als den Endpunkt seiner »Wanderschaft« hin. Zunächst fand er eine Stelle als Lehrer, dann wurde er von der evangelischen Gemeinde zum Pastor primarius gewählt und es gelang ihm, durch die Eheschließung mit Elisabeth Walter in das örtliche Honoratiorentum einzuheiraten. Zwar gingen die Meinungen über den Schwiegersohn auseinander (man hielt ihn für »nett, aber unbedeutend«); doch der Erfolg seiner Nachkommen gab ihm recht. Die Familien Walter und Erdmann gehörten zu jener schmalen Schicht zwischen Adel und städtischer Oberschicht einerseits, (deutschen) Handwerkern und (nichtdeutscher) Unterschicht andererseits, die sich durch Bildung, Selbstdisziplin und Leistungsbereitschaft definierte und familiären Zusammenhalt mit politischer Loyalität verband. Man kann darin eine frühe, spezielle Form von Bildungsbürgertum sehen. Zeitgenössisch sprach man in den baltischen Ländern von den »Literaten«. Dazu zählten Pastoren, Ärzte, Juristen, Lehrer an höheren Schulen und alle, deren berufliche Tätigkeit eine akademische Bildung voraussetzte, die also ihren Lebensunterhalt mit geistiger Arbeit bestritten.13
Um bei den Familien Walter und Erdmann zu bleiben:14 In Johann Wilhelms Generation exzellierten die Walters. Einer seiner Schwäger brachte es zum Generalsuperintendenten der evangelischen Kirche und Bischof in Livland, zwei andere wurden Professoren in Dorpat. In der nächsten Generation zogen die Erdmanns gleich: Johann Wilhelms ältester Sohn, Johann Eduard, wurde einer der prominentesten Philosophen des 19. Jahrhunderts, Hegelianer in Halle und »preußischer Staatsphilosoph«, von dessen Schriften allerdings nur ein Essay über die Dummheit noch zeitlose Gültigkeit besitzt.15 Dessen jüngerer Bruder Johann Julius Friedrich studierte Medizin und wurde zum ordentlichen Professor der Therapie und Klinik an der Universität Dorpat berufen. Auch in der dritten Generation gab es herausragende Karrieren. Eine davon durchlief Carl Eduard Erdmann, der Vater Carl Erdmanns. Auch er führte die Traditionen des Literatentums in den beiden Familien fort. Juristischen Studien in Dorpat und Heidelberg folgte eine Tätigkeit als erster Stadtsekretär in Mitau (Jelgava/Lettland), bevor er – nun auf Dauer – an seine Heimatuniversität zurückkehrte. Er amtete als deren Syndikus, lehrte als Privatdozent und wurde schließlich zum ordentlichen Professor »des in den Gouvernements Livland, Estland und Kurland geltenden Provinzialrechts und der gerichtlichen Praxis« berufen, und zwar »sowohl wegen seines hervorragenden Lehrtalents als auch wegen seiner schriftstellerischen Leistungen«.16
Nur Letzteres lässt sich überprüfen: Erdmann publizierte nicht nur in Fachzeitschriften und bei Fachverlagen, nicht nur für den kleinen Kreis jener Leser, die sich für die akademisch-systematische Behandlung juristischer Fragen interessierten. Doch in seinen mittleren Jahren, als es darum ging, sich Stellung, Rang und Ansehen zu erwerben, musste er – neben seinen Vorlesungen – gerade darin seine Hauptaufgabe sehen. Provinzialrecht, also das in den russischen Ostseeprovinzen geltende Recht, seine Ursprünge, Systematik und praktische Anwendung, war der Gegenstand, den zu behandeln er berufen worden war. Dafür hatte er sich schon mit seinen Qualifikationsschriften ausgewiesen und gleichzeitig deutlich gemacht, worum es ihm und der ihn vorschlagenden Fakultät ging: um den Nachweis, dass die baltischen Länder ein eigenständiges Rechtsgebiet darstellten, das auf den Traditionen des älteren deutschen Rechts aufruhte. Andere, »fremde« Rechtssysteme hätten zwar ihre Spuren hinterlassen, aber am »Wesen« der einzelnen Rechtsinstitute nichts ändern können. Denn »trotz der frühen Ablösung vom deutschen Reich und der mannigfachen politischen Veränderungen und Einflüsse« habe das baltische Provinzialrecht »die Grundsätze der ältesten deutschen Rechtsperiode bis in unsere Tage treu bewahrt«.17 Daraus geht hervor, wie wichtig die Professur für die Region, die Stadt und die akademische Korporation war: Sie brachte die Besonderheit der Ostseeprovinzen im russischen Reichsverband zur Anschauung und das Selbstverständnis der Universität Dorpat als einer deutschen und deutschsprachigen Universität zum Ausdruck. Als Instrument im politischen Streit wurde die Erforschung und Vermittlung des Provinzialrechts bezeichnet.18 Über die Jahre erweiterte Erdmann seine Expertise und konnte am Ende seiner akademischen Tätigkeit ein monumentales »System des Privatrechts der Ostseeprovinzen Liv-, Est- und Curland« vorlegen. Er sah die vier Bände als sein »Lebenswerk« an.19 Da sich aber die Rechtsverhältnisse in wenigen Jahrzehnten vollständig änderten, war ihnen keine dauernde Geltung beschieden. Bald hatten sie nur noch antiquarischen Wert.
Doch vorerst wurde Erdmann viel Anerkennung zuteil. Schon 1874, nach nur fünfjähriger Tätigkeit an der Universität Dorpat, durfte er bei der Stiftungsfeier die Festrede halten und dabei für sein Fach werben, für dessen Schönheit, Sinn und praktischen Nutzen.20 Zweimal wurde er zum Dekan der Juristischen Fakultät gewählt, von den weniger wichtigen Ämtern ganz zu schweigen. Von Staats wegen bekam er drei Orden verliehen: den des heiligen Stanislaus, den der heiligen Anna und den des heiligen Wladimir. Nebenher wurde er zum Wirklichen Staatsrat ernannt.21 Lange also genoss er das Vertrauen der kaiserlichen Regierung. Das sollte sich ändern.
Der Vater: Carl Eduard Erdmann (1841–1898).
Erdmann war mit dem Erreichten zufrieden, und zwar in dreierlei Hinsicht: mit Blick auf die Universität, die Stadt und auch sein persönliches Dasein. Dorpat besaß keine alte und auch keine Universität von hohem Prestige.22 Eine erste, schwedische Gründung war im Nordischen Krieg untergegangen. Die Neugründung von 1802 hatte andere Aufgaben und Ziele. Der Modernisierung des Russischen Reichs sollte sie dienen. Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich eine leistungsstarke Lehr- und Forschungsanstalt, die sich – was Ausstattung und Studentenzahlen angeht – nicht mit Berlin, Wien, Leipzig oder München, wohl aber mit mittelgroßen Universitäten wie Göttingen, Heidelberg oder Jena messen konnte. Allerdings konnte sie schon deshalb nicht mit diesen konkurrieren, weil es nicht als besonders attraktiv galt, einem Ruf an eine deutschsprachige Universität auf russischem Boden zu folgen. Wer es tat, verließ sie wieder, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Deutschland blieb das Maß, an dem man sich orientierte, und Dorpat nahm eine Mittlerfunktion zwischen Ost- und Mitteleuropa wahr. Reichsdeutsche Professoren hielten eine solche Tätigkeit nicht für ihr vorrangiges Ziel, sondern betrachteten die Universitas Dorpatensis als eine Anfänger- oder Durchgangsstation. Bei der Besetzung von Lehrstühlen gab es daher immer wieder Diskussionen, ob deutschbaltische Kandidaten den reichsdeutschen nicht grundsätzlich vorgezogen werden sollten. Nur von ihnen konnte man erwarten, dass sie lange Zeit blieben.