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Pensionopolis am Harz
ОглавлениеBlankenburgs Geschichte reicht bis ins Hochmittelalter zurück. Die Burg »auf dem blanken Stein« wird 1123 zum ersten Mal erwähnt. Ein gräfliches Geschlecht nannte sich nach ihr, ebenso die ansässige Ministerialität (aus deren Reihen Jordan von Blankenburg, Truchsess Heinrichs des Löwen, besonders bekannt wurde). Unterhalb des Burgbergs entstand eine Siedlung, die nach einer ersten Zerstörung planmäßig (kreisförmig, das Leitersystem der Straßen bis heute erkennbar) wiederaufgebaut und folglich als Stadt (civitas) bezeichnet wurde. Stadtmauer, Stadtsiegel und ein städtischer Rat sind allerdings erst im 14. Jahrhundert bezeugt.14
Die Grafen waren Vasallen der Welfen. Nach dem Aussterben der Familie wurde die Grafschaft als heimgefallenes Lehen behandelt. An die Stelle der mittelalterlichen Burg trat ein weitläufiges Renaissanceschloss, das den Wolfenbütteler Welfen als Nebenresidenz oder als Residenz einer Nebenlinie diente. Damit waren eine aufwendige Hofhaltung, umfangreiche Baumaßnahmen, glanzvolle Jagden und Feste verbunden. Eine Äbtissin von Quedlinburg soll die mittlerweile zum Fürstentum erhobene Grafschaft als »Sonnenkönigtum en miniature« bezeichnet haben.15 Sogar eine Hofkapelle (bestehend aus zwölf Musikern), ein Theater (in dem die berühmte »Neuberin« öfters auftrat) und eine Bibliothek (die auch der Bürgerschaft offenstand) beherbergte das Schloss.16
Im 19. Jahrhundert verblasste der höfische Glanz. Gleichzeitig mauserte sich die bescheidene Residenzstadt zu einem aufstrebenden Zentrum des Fremdenverkehrs. Schon Goethe, Herder, Klopstock und Gleim hatte der Aufenthalt in Blankenburg gefallen,17 später kamen Touristen in wachsender Zahl. Denn das Klima zwischen Berg und Ebene galt als frisch, mild und gesund. So gesehen, durfte man sich mit Baden-Baden vergleichen. Durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes wurde die Anreise erleichtert und die Fahrt über Blankenburg hinaus in den Harz ermöglicht. Um die Jahrhundertwende gab es 21 Hotels und mehrere Sanatorien. 3500 Sommergäste wurden verzeichnet. Die Stadt mit ihrem reizvollen Umland war ein beliebtes Ziel all jener geworden, die es sich leisten konnten, während der Sommermonate vor der Hitze, dem Lärm und der Enge der Großstädte in die sogenannte Sommerfrische auszuweichen. Dass sie nach wie vor abseits der Verkehrsströme lag und als ein Stück »winkliges Welfentum« die Geschehnisse im Reich »immer im Nachtrab« mitbekam, hat ihr mehr genützt als geschadet.18
Andere wollten Blankenburgs Annehmlichkeiten nicht nur für wenige Wochen, sondern auf Dauer genießen. Wurden 1873 nur 4000 Einwohner gezählt, so waren es 30 Jahre später schon mehr als 10 000. Vor allem zahlungskräftige Rentiers und Pensionäre ließen sich für Blankenburg als Ruhewohnsitz einnehmen. Die Stadt gehörte zu jenen Gemeinden im kaiserlichen Deutschland, die um eine solche Klientel warb, weil sie sich davon ein höheres Steueraufkommen, eine Hebung des Bildungsniveaus und eine Steigerung ihres Ansehens versprach. Nicht nur demo-, sondern auch topographisch veränderte sich dadurch ihr Gesicht: Das Schloss mit den zugehörigen Anlagen blieb das herrschaftliche Zentrum der Stadt, auch wenn der Herzog meistens nicht anwesend war. In der pittoresken Altstadt mit Marktplatz und Rathaus waren wie bisher die Geschäfte, das Handwerk und überhaupt die sogenannten kleinen Leute präsent. Doch hinzugekommen war ein eigenes, weiter westlich gelegenes Viertel mit den großzügigen Villen der Zuzügler. Es veränderte so sehr den Charakter der Stadt, dass sie von den Zeitgenossen als »Stadt der Pensionäre«, als »Pensionopolis« bezeichnet wurde.
Was Blankenburg für vermögende Neubürger attraktiv machte, geht aus einer schmalen, im Namen des »Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs« geschriebenen Broschüre aus dem Jahr 1907 hervor:
−Die Schönheiten der Landschaft, die man sich auf weiten Spaziergängen oder mithilfe moderner Verkehrsmittel erschließen könne.
−Das angenehme Klima, dessen heilsame Wirkungen durch die große Zahl von Kur-, Bade- und Heilanstalten unterstützt würden. Industriebetriebe gebe es nur in geringfügiger Zahl.
−Gute Geschäfte, in denen man standesgemäß einkaufen könne.
−Trinkwasserversorgung direkt aus den Bergen, eine moderne Kanalisation sei im Bau.
−Günstige Steuerverhältnisse, zumal im Vergleich mit dem benachbarten »Ausland« (also Preußen).
−Reichlich vorhandener Wohnraum bei relativ wenigen Bewohnern je Wohnhaus.
−Freundliche Gärten und Parkanlagen im Villenviertel, große Grünflächen und einen üppigen Bestand an Obstbäumen, was zur Zeit der Obstbaumblüte zahlreiche Besucher nach Blankenburg locke. Braunschweig und Wolfenbüttel, die eigentlichen Zentren des Herzogtums, würden in dieser Hinsicht weit übertroffen.
−Und schließlich: ein reges Kulturleben, das sich in einer großen Zahl von Konzerten, Vorträgen und Theateraufführungen manifestiere. Die vielfältigen Aktivitäten der wissenschaftlich-künstlerischen Gesellschaft »Literaria«, des »Harzer Geschichtsvereins« und des »Harzklubs«, aber auch das »Harzer Volkswetturnen« würden für jedermann, selbst für den gehobenen Geschmack, jederzeit etwas bieten.19
Summa summarum: Der Leser konnte erfahren, »welch ein prächtiges Fleckchen Erde unser Blankenburg ist«. Wer sich dauerhaft hier niedergelassen habe und das Privileg genieße, »in Muße die weiten Buchenwälder durchwandern, an den murmelnden Bächen der stillen Täler träumen, den Vögeln lauschen und das Wild im Freien und an den Futterplätzen beobachten« zu können, der werde sich »schwer entschließen, sich nach einer anderen Heimat umzuschauen«.20 Zahlreiche vermögende Neubürger hätten deshalb beschlossen, ihren Ruhewohnsitz in Blankenburg zu nehmen. Der Verfasser zählt auf, wer in den letzten Jahren zuzog, und macht gleichzeitig deutlich, welcher Art Zuzug er – in charakteristischer Rangfolge – für eine gutbürgerlich-kleinstädtische Gesellschaft für erstrebenswert hielt: »77 inaktive Offiziere, 32 höhere Staatsbeamte a. D., 32 pensionierte Professoren, Oberlehrer, Geistliche, Sanitätsräte, Militärärzte, Apotheker etc., 14 Volksschullehrer a. D., Subalternbeamte usw. Ferner 130 Rentner, Privatbeamte, Ingenieure usw., 81 Witwen von höheren Beamten und Offizieren, 98 Witwen von Rentnern etc. etc.«.21 Zu den Witwen gehörte auch Veronika Erdmann aus Dorpat in Livland mit ihren fünf unmündigen Kindern.
Ein angenehmes Klima in einer reizvollen Landschaft, steuerliche Vorteile, die (an Dorpat erinnernde) Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse, die Aussicht auf ein standesgemäßes gesellschaftliches Umfeld – das alles sprach für Blankenburg und hatte den Entschluss herbeigeführt, sich am Harz anzusiedeln. Hinzu kam der Wunsch der Eltern, den Kindern eine schulische Bildung in Deutschland zu ermöglichen. Auch in dieser Hinsicht konnte Blankenburg »punkten«: Sieben öffentliche Schulen zählt die Broschüre auf, an der Spitze das Herzogliche Gymnasium, das auf eine mehrhundertjährige Tradition zurückblicken konnte.22 1537 als gräfliche Lateinschule gegründet, wurde es nach der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Schule primi ordinis ausgebaut, die ihren Absolventen die Studierfähigkeit bescheinigen konnte. 1877 erhielt das Gymnasium, das bis dahin in der Altstadt bei der Bartholomäuskirche untergebracht war, ein neues, prächtiges Gebäude am »Thie«, dem ehemaligen Festplatz und jetzigen Kurpark im Norden der Stadt. Die von Linden gesäumte Promenade führt direkt zu ihm hin. Hoch über dem Eingangsportal inmitten antikisierenden Ornaments ist die Devise »Humanitati [et] sapientiae« zu lesen. Denn man bekannte sich zu den Zielen der humboldtschen Bildungsreform und des sogenannten Zweiten Humanismus. Dem Studium der Antike wurde überragende Bedeutung zugeschrieben, dem Erwerb der klassischen Sprachen Latein und Griechisch breiter Raum gegeben. Französisch wurde ebenfalls als Pflichtfach, Englisch zunächst (wie Hebräisch) nur als Wahlfach gelehrt. Die Naturwissenschaften spielten keine große Rolle. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besuchten weniger als 300 Schüler (Schülerinnen waren nicht vorgesehen) das Gymnasium »Am Thie«. Aus Adel und gehobenem Bürgertum stammend, verstanden sie sich als die schulische Elite der Stadt. Mit den Schülern der ersten und zweiten Bürgerschule (die von den Kindern der Mittel- und Unterschichten besucht wurden) kam es regelmäßig zu Prügeleien.23
Eine Fotografie aus dem Jahr 1905 zeigt die drei Erdmann-Brüder im modischen Matrosenanzug, also nicht in irgendeinem präsentablen Gewand, sondern einem »Gesinnungskleid«, das Teilhabe an den viel beschworenen Tugenden der »blauen Jungs« symbolisierte und Zustimmung zu den Zielen des Deutschen Flottenvereins signalisierte.24 Ein Bekenntnis (nicht der Söhne, sondern der Mutter) zur Machtpolitik des Kaiserreichs war damit verbunden. Deren nicht bezweifelter Zweck, Deutschlands »Platz an der Sonne«, wurde dadurch den Kindern vermittelt. Das Bild bezeugt eine Erziehung im Sinne des wilhelminischen Zeitgeists. Um dieselbe Zeit traten alle drei Brüder in das Blankenburger Gymnasium ein: Guido zu Ostern 1905 (durfte aber die Sexta wiederholen), zwei Jahre später der erst neunjährige Eberhard und gleichzeitig der noch jüngere Carl. Gemeinsam und nur durch einen Jahrgang getrennt, strebten sie dem Abitur entgegen. Als es dann so weit war, fielen zwei von ihnen »in den Rachen der Welt«.25