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Vom Gelehrten zum Rekruten

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Carl Erdmann war ganz sicher nicht für den Krieg geschaffen, sondern als Soldat deplatziert. Das wusste jeder, der ihn kannte, und als er eingezogen wurde, musste man sich Sorgen um ihn machen. Nach dem Abitur – das war 1916 – war er als untauglich ausgemustert worden.4 Jetzt, 27 Jahre später, sollte er den »Endsieg« erringen helfen. Nur einmal in seinem Leben hatte er mit militärischen Dingen, politischer Gewalt oder Ähnlichem zu tun gehabt. In Lebensläufen und Fragebögen hielt er fest, dass er sich 1919 an den »Anti-Spartakus-Kämpfen« in Berlin beteiligt habe.5 Da war er 20 Jahre alt und hatte einige Semester Theologie studiert. Genaues erfahren wir nicht. Worin seine Rolle bei den Berliner Straßenkämpfen bestand, wie aktiv er an den blutigen Geschehnissen im Januar und den noch blutigeren im März 1919 mitwirkte, ob er gar selbst gewalttätig wurde, das alles bleibt völlig unklar. Man kann sich aber nicht vorstellen, dass er dabei irgendwelche militärische Kenntnisse erwarb. Die ganze Angelegenheit dauerte jeweils nur wenige Tage und danach kam Erdmann mit Waffen nicht mehr in Berührung. Martialischer Geist blieb ihm grundsätzlich fremd.6


Dolmetscherkompanie, Straßburg Mai 1944 (Erdmann hinten links).

Als er im Herbst 1943 zur Wehrmacht eingezogen wurde, stand er kurz vor der Vollendung seines 45. Lebensjahrs und war im Grunde zu alt für den Krieg. Der Bildhauer Ernst Barlach erlebte im Ersten Weltkrieg, dass Rekruten über 40 wie »Lausbuben« traktiert wurden, und der Komponist Arnold Schönberg verlor alle Illusionen, als er – 42 Jahre alt, aber militärisch ein »Lehrbub« – »sich von Idioten befehlen lassen« musste.7 Im Zweiten Weltkrieg war das nicht anders. Doch nach dem Desaster von Stalingrad, weiteren schweren Verlusten an der Ostfront und der Landung der Alliierten in Süditalien wurden die letzten legalen Reserven mobilisiert und immer höhere Jahrgänge eingezogen, bis schließlich der sogenannte Volkssturm noch die 16- und 60-Jährigen in sinnlosen Abwehrkämpfen verheizte. »Heldenklau« sagte man im Volksmund dazu. Bei der Musterung »kv«, also »kriegsverwendungsfähig«, geschrieben, aber bei der Einstellungsuntersuchung als »z. u. Feld«, also für den Felddienst »zeitlich untauglich«, klassifiziert,8 setzten Erdmann die ungewohnten körperlichen Belastungen, verbunden mit Drill und Schikanen, erheblich zu. In dienstfreien Zeiten fühlte er sich so müde, dass er nicht einmal mehr Briefe schreiben konnte. Arthritische Beschwerden machten ihm nach Abschluss der Grundausbildung zu schaffen.9

Vielleicht hätte er das alles leichter ertragen können, wenn er sich früher sportlich oder anderweitig körperlich betätigt hätte. Doch beruflich hatte er sich nur mit geistigen Dingen beschäftigt und Sport kam für den langen, ungelenken, immer auch kränkelnden Mann überhaupt nicht infrage. Das sprach sich schnell bei den Vorgesetzten und Kameraden herum. Er galt als »Gelehrter«, als »Professorchen« gar, und wurde mit »Herr Doktor« angesprochen. In der Männerwelt einer Kompanie verschafft man sich damit keinen Respekt, bei den Vorgesetzten vielleicht noch weniger als bei den einfachen Soldaten. Ein Professor in der Grundausbildung wurde immer als eine Mischung aus Ärgernis und Gaudium betrachtet. Am Schießstand, wo das Geschrei des Ausbilders mit der Unfähigkeit des Anfängers kollidierte, konnte die Situation leicht eskalieren. Wehe dem, der einem Schleifer in die Hand fiel!10

Auch Erdmann schoss schlecht und mit zittrigen Händen, in der Gefechtsausbildung versagte er völlig und stellte sich beim Putzen des ihm anvertrauten Gewehrs ungeschickt an. Doch er nahm es gelassen und wunderte sich, wie wenig es ihm ausmachte, in fortgeschrittenem Alter »vom zerstreuten Professor zum Rekruten« zu avancieren. Es amüsierte ihn, dass der »tierische Ernst«, mit dem er alle Dienstanweisungen befolgte, jeden noch so grimmigen Unteroffizier zu beruhigen vermochte. Er legte sich ein dickes Fell zu und ertrug so das »Geschimpfe«.11

Dass er zum Soldaten nicht taugte, war ihm dabei schmerzlich bewusst. Er war – in seinen eigenen Worten – ein »miserabler Soldat«,12 den Vorgesetzten ein Ärgernis und für die Kameraden eine Last. Er bemühte sich, »bescheiden in der Menge zu verschwinden«, aber es gelang ihm nicht, den ihm eigenen »gelehrten Habitus« zu unterdrücken. Den »militärischen Kram« (Exerzieren zum Beispiel) konnte er beim besten Willen nicht ernst nehmen.13 Als er schließlich bei der kämpfenden Truppe zum Einsatz kam, wurde er gleich am ersten Tag wegen seines unmilitärischen Auftretens »angeknurrt« und ein andermal vor versammelter Mannschaft als »Idiot« beschimpft, den man vor ein Kriegsgericht stellen müsste, wenn er nicht »so dämlich« wäre. Bei den Kameraden hat ihm der ›Anschiss‹ »weniger geschadet als genützt«. Damit konnte er sich trösten und die öffentliche Demütigung als »interessante« Erfahrung verbuchen. Aber gewurmt hat sie ihn doch.14

Es hätte schlimmer kommen können. So wenig Erdmann zum Soldaten taugte und sich nie mit seiner Leistung zufriedengeben wollte, so hat er doch auch Verständnis, Sympathie und sogar Anerkennung erfahren. Schließlich war er nicht der Einzige in seiner Einheit, der in höherem Alter noch in der Grundausbildung dienen musste. Entsprechend langsam ging es deshalb zu. Die ganze Kompanie zeichnete sich durch ihre geringe Leistungsfähigkeit aus und im Dolmetscherlehrgang hieß es, dass es »so einen Haufen wie diesen nicht zum zweiten Mal gibt«. Sogar Erdmann, der ja als untauglich galt, konnte »einigermaßen« mithalten. An einen Einsatz an der Front war nach seiner Meinung nicht zu denken. Im Nahkampf würden sie alle versagen.15

Auf ihn selbst wurde sogar besondere Rücksicht genommen, was er mit ungläubigem Staunen verfolgte. Das ging so weit, dass er den Auftrag erhielt, seiner Kompanie historische Vorträge zu halten. Selbstverständlich hatten die Themen, die ihm gestellt wurden: »Kämpfe bei Lyck 1914«, »Stürme aus dem Osten«, »Reichsgedanken«, nichts mit seinen früheren Forschungen zu tun und die Vorträge erfüllten nicht einmal einen allgemeinbildenden Zweck, sondern sollten die Erinnerung an die Vergangenheit für das Handeln in der Gegenwart aktivieren. Denn so wie 1914 ging es gegen zahlenmäßig überlegene Russen, angeblich im Namen eines Reichs, das seiner europäischen Verantwortung gerecht wird. Wie Erdmann sich aus der Affäre zog, wissen wir nicht. Aber immerhin erhielt er auf diese Weise Gelegenheit, sich militärisch nützlich zu machen und sogar etwas Ansehen bei der Truppe zu erwerben. Am Ende der Grundausbildung kam er zu dem für ihn ganz unerwarteten Ergebnis, »dass auch der rein-geistige und unpraktische Mensch«, für den er sich hielt, »selbst bei einer Einrichtung wie dem Kommiss Respekt und Sympathie erfahren kann« (nicht muss).16

Alles sprach gegen seinen Einsatz an der Front. Erdmann hatte sich vorsorglich für die Dolmetschertruppe gemeldet und dabei auf die Italienischkenntnisse hingewiesen, die er in Rom während seiner sechsjährigen Tätigkeit am Preußischen Historischen Institut erworben hatte. Tatsächlich wurden Italienischdolmetscher zu diesem Zeitpunkt geradezu händeringend gesucht. Denn man brauchte sie, um nach dem Ausscheiden Italiens aus dem Krieg mit der Konkursmasse des Bündnisses umgehen zu können. Die Kommunikation mit den unter deutschem Kommando verbliebenen Streitkräften stellte ihre wichtigste Aufgabe dar. Dass Erdmann trotzdem wie alle anderen Rekruten auch an der Waffe ausgebildet wurde, hielt er für »unglaublich«.17 Für die Zeit danach aber hatte er die Aussicht, als Dolmetscher einen besonderen Status einnehmen und vielleicht sogar geistig anspruchsvollere Aufgaben übernehmen zu können. Zeitweise hat sich seine Hoffnung tatsächlich erfüllt.

Erdmanns militärische ›Karriere‹ war kurz und unspektakulär. Auf die infanteristische Grundausbildung in Lyck in Ostpreußen (dem heutigen Ełk in Polen) folgten ein Dolmetscherlehrgang in Berlin und schließlich ein paar Monate später der erste »Einsatz«: jener Ausbildungslehrgang für italienische Unteroffiziere, zu dessen Abschluss das Foto entstand, das Heinrich Sproemberg erhielt. Mit einiger Zufriedenheit blickte er gerade auf die Zeit im Elsass zurück. Denn die Italiener waren für seine Übersetzungen des schwierigen Stoffs dankbar (das Foto scheint ein unausgesprochenes Einverständnis zum Ausdruck zu bringen) und am Ende wurden die Unterrichtsmaterialien für weitere Verwendung von den Dolmetschern schriftlich ins Italienische übertragen. Erdmann fand das eine »geradezu akademische Beschäftigung«, die ihn beglückte.18 Fast war er wieder bei sich und auf vertrautem Terrain. Nur seine eigentliche Aufgabe, das Dolmetschen, stellte ihn nicht wirklich zufrieden. Schon in der Ausbildung litt er an Selbstzweifeln, die er im ersten Einsatz bestätigt zu sehen glaubte. Die verschiedenen italienischen Dialekte machten ihm zu schaffen und das militärisch-technische Vokabular fehlte ihm völlig. Seine Leistungen fand er denn auch sehr »ungleich«: Im Schriftlichen übertraf er fast alle, selbst den Durchschnitt der Italiener. Auch mündlich konnte er sich noch helfen; doch im Hörverständnis hatte er Defizite (dass er unter fortschreitender Schwerhörigkeit litt, erfährt man hier ganz nebenbei). Einer schnellen Unterhaltung konnte er kaum folgen. Offenbar rächte es sich, dass in seiner Schulzeit mehr auf die toten als auf die lebendigen Sprachen Wert gelegt worden und er selbst in seinen sechs römischen Jahren einer rein akademischen, fast ausschließlich schriftgebundenen Tätigkeit nachgegangen war. Sprache wurde hier wie dort vor allem als Schriftsprache verstanden. Mangelnde (nach Erdmanns anspruchsvollem Selbstverständnis mangelhafte) Sprachfertigkeit war dafür der Preis.

Immerhin ermöglichte ihm die Dolmetschertätigkeit, so unvollkommen er sie auszufüllen glaubte, den Rang eines »Sonderführers« zu erlangen. »Sonderführer« waren Soldaten im Sinne des Wehrgesetzes, die aber keine oder nur eine unzureichende militärische Ausbildung erhalten hatten und auch nicht zum Dienst mit der Waffe vorgesehen waren, sondern wegen besonderer fachlicher Kenntnisse als Ingenieure, Ärzte, Verwaltungsfachleute, Kriegsberichterstatter oder eben auch als Dolmetscher in der Wehrmacht dienten. Sie hatten Offiziers- oder Unteroffiziersrang, wurden aber nicht mit ihrem Dienstgrad, sondern als »Herr Sonderführer« angesprochen und trugen eigene Rangabzeichen (Kragenspiegel, Mützenkordel und Ähnliches mehr), die sich von denen der Offiziere und Unteroffiziere deutlich unterschieden.19 So besonders war ihre Stellung, dass sie – später – sogar zur literarischen Verwertung einlud.20 Sonderführer genossen bestimmte Privilegien, standen aber außerhalb der militärischen Hierarchie und zogen nicht unbedingt die Sympathie der kämpfenden Truppe auf sich. Erdmann erhielt einen Eindruck davon, als er bei seinem ersten Einsatz in Frontnähe zunächst »sichtlich mit Missfallen« betrachtet wurde. Eine Dienststellung mit Offiziersrang (Sonderführer Z = Zugführer) war für ihn nie infrage gekommen, was bei den Offizieren seiner Einheit Verwunderung erregte. Vielmehr wurde er als Sonderführer G = Gruppenführer eingestuft; dadurch aber war er Unteroffizieren und Mannschaften suspekt. Wieder einmal saß er zwischen den Stühlen.21

Fackel in der Finsternis

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