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Der schönste Tag

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Erdmann durfte damit rechnen, in Italien als Dolmetscher eingesetzt zu werden. Doch dazu kam es nicht. Er wurde auf den südosteuropäischen Kriegsschauplatz geschickt, wo noch Reste der italienischen Truppen, nun als Teile der Wehrmacht und der Waffen-SS, stationiert waren. Sie galten als »Hilfswillige« oder »Bündniswillige«, was aber nur eingeschränkt zutraf. Da man sie als potenzielle »Verräter« beäugte, kamen sie nur in untergeordneten Tätigkeiten oder in der Partisanenbekämpfung zum Einsatz.22 Dass es mit der deutschen Herrschaft auf dem Balkan nicht mehr lange weitergehen würde, ließ sich ohnehin immer deutlicher erkennen. Erdmann geriet in den Sog des allgemeinen Untergangs hinein und wurde selbst ein Teil des Verderbens. Wir erfahren davon durch eine Serie von Feldpostbriefen, die er an seine Schwester Yella und an seinen besten Freund Gerd Tellenbach schickte. Es müssen noch mehr gewesen sein. Erdmann spricht einmal von mehreren Freunden, denen er schrieb. Die Berliner Professoren Robert Holtzmann, Friedrich Baethgen und Eugen Meyer gehörten zu ihnen.23 Manche Briefe gingen verloren, als die Balkan-Front implodierte, andere im Laufe der Zeit. Doch auch die erhaltenen zeichnen – dank der Regelmäßigkeit ihres Eingangs – das Bild einer unaufhaltsamen Bewegung nach unten.

Die Stationen seiner »Reise« durfte Erdmann nicht unverhüllt nennen. Sie unterlagen der militärischen Geheimhaltung. Er umschrieb sie so deutlich, wie er konnte, ohne einen der Namen aussprechen zu müssen. Das Land, in das er geschickt wurde, sei klein und liege östlich von Italien. Seine Dienststelle sei im ehemaligen Königspalast untergebracht. Das Land muss also vor nicht allzu langer Zeit ein Königreich gewesen sein. Italienisch werde dort »sozusagen als zweite Landessprache« gebraucht.24 Gemeint war Albanien, das sich seit 1926 eng an Italien angeschlossen hatte und schließlich – als König Zogu nicht mehr spurte – von faschistischen Truppen besetzt worden war. Einen ganzen Tag verbrachte Erdmann bei einem See an der östlichen Grenze in einer Stadt gleichen Namens, in der eine gemischt muslimischorthodoxe Bevölkerung lebe. Deren Name erinnere ihn an Eduard Mörikes Gedicht »Du bist Orplid, mein Land! Das ferne leuchtet« (den Namen des Märchenlandes hatte er durch drei Punkte ersetzt).25 Nahm die Adressatin einen Atlas zur Hand, konnte sie leicht sehen, dass es Ohrid am Ohrid-See war, das den Schreiber so sehr fasziniert hatte. Deutsche Dichtung fungierte hier als eine Art Geheimcode. Deren Kenntnis half dabei, die militärischen Vorschriften zu unterlaufen. Später beim fluchtartigen Rückzug nach Norden kam Erdmann zu einer größeren Stadt, deren Name man aus bestimmten Buchstaben im Vor- und Familiennamen seiner anderen Schwester, Veronika Czapski, zusammensetzen könne.26 Folgt man der Anweisung, ergibt sich: Sarajevo, damals im deutschen Schutzstaat Kroatien gelegen. Dort konnte man sich noch im Januar 1945 einigermaßen sicher fühlen. Die Stadt besaß strategische Bedeutung für die Front im Südosten und sollte laut ›Führerbefehl‹ unter allen Umständen gehalten werden. Noch im Februar 1945 wurde sie zur Festung erklärt und erst Ende März von deutschen und kroatischen Truppen geräumt.27

In den Monaten zuvor hatte Erdmann sich wie ein »Wanderer zwischen zwei Welten« gefühlt. Er zitierte ein Kultbuch seiner Generation, um seine unwirkliche Situation zwischen Bangen und Hoffen, zwischen Erinnerung, Zusammenbruch und Flucht zu beschreiben. Hatte man sich am Anfang des Krieges bevorzugt auf die heroisch-mitreißenden Elemente des Buchs bezogen, so erinnerte man sich am Ende der melancholischen Stimmung, die in ihm vorherrscht.28 Eine solche Stimmung konnte empfinden, wer wie Erdmann die desaströse Niederlage auf dem Balkan als Augenzeuge erlebte. Es war eine Reise durch den Krieg in seiner finalen Phase. Von Berlin nach Tirana in sieben Tagen: Das war – gemessen an den Umständen – eine ordentliche Leistung. Nur in Wien wurde Erdmann durch »Papierkrieg« und das damit verbundene »organisationelle Herumstehen« aufgehalten. Bürokratie und Organisation funktionierten also noch. Feindliche Flieger machten sich am Tag bemerkbar, vom Partisanenkrieg war noch wenig zu spüren. Nur »gelegentlich fiel ein Schuss«.29

Erdmann fand sogar Zeit und Muße, sich für den äußeren Rahmen seiner Reise, für die Landschaften, die Siedlungen und die Bevölkerungsverhältnisse, zu interessieren. Er wunderte sich über die sanften Hügel in Nordserbien, die fruchtbaren Felder und mäßig hohen Berge, »niemals felsig, schroff oder kalt«. Vom »Balkan« hatte er anderes erwartet, nämlich unwirtliche Landschaften und kriegerische Völker in einer grausamen Natur. Karl Mays enorm einflussreiche Bücher, von den »Schluchten des Balkan« bis zum »Schut«, hatte wahrscheinlich auch Erdmann gelesen. Das durch sie verbreitete Bild eines europäischen Orients stand sicher auch ihm vor Augen. Doch Vorstellung und Wirklichkeit stimmten nicht überein. Erst in Mazedonien kam der Reisende auf seine Kosten und sah zerklüftete Gebirge mit kahlen Hängen, tiefe Schluchten und »Dörfer, seltsam gedrückt in der Landschaft, die Leute vielfach noch in Tracht«: »echter Balkan«, wie Erdmann meinte. In Skopje bestieg er eine Anhöhe und zählte 14 Minarette sowie einen griechisch-katholischen Kirchturm. An das Europa, das er kannte, erinnerte nicht viel. Umso mehr faszinierten ihn die kulturell-religiöse Vielfalt und die Dichte der Eindrücke, die er auf der Durchreise erhielt. Er genoss die abenteuerlichen Nachtfahrten durch eine »hochromantische Landschaft« und bedauerte es, von ihr so wenig zu sehen.30

Geradezu glücklich wurde Erdmann am Ohrid-See, in jener Gegend, die er als sein »Orplid« ausgab. Denn sie erschien ihm »traumhaft schön«. Seiner Unterkunft, von der er auf den See blicken konnte, hätte er, stünde sie im »Baedeker«, zwei Sterne geben wollen. Wie ein »Vergnügungsreisender« kam er sich vor. Vom heiligen Clemens (Kliment) von Ohrid, einem Schüler der Slawenapostel Method und Kyrill, dessen Reliquien in der jetzt nach ihm benannten Kirche aufbewahrt werden, hatte er noch nie etwas gehört. Denn mit der Geschichte der Orthodoxie hatte er sich nicht näher beschäftigt, schon gar nicht mit der christlichen Mission in Mazedonien und der Berufung des Missionars zum »ersten Bischof bulgarischer Zunge« im späten 9. Jahrhundert, von der sich daraus entwickelnden bulgarischen Autokephalie ganz zu schweigen. Nichts davon gehörte zu seinen bisherigen Arbeits- und Interessengebieten, nicht einmal die Via Egnatia, die von Dyrrhachion (Durrës) an der Adria-Küste über Ohrid nach Konstantinopel führte und in der Geschichte der Kreuzzüge eine gewisse Rolle gespielt hatte. Doch neu- und wissbegierig, wie er war, empfand er die Lücke. Er hatte Neues erfahren und unvergessliche Eindrücke empfangen. Unter die »schönsten Reisetage« (wenn nicht sogar zu den »schönsten Tagen«) seines Lebens wollte er diesen einen rechnen. Dieser Heilige habe ihn durch seinen Brunnen erquickt; ihm wolle er künftig seine Devotion widmen. Das historische Ensemble in einem fremdartigen Ambiente, die sommerliche Stimmung in einer Bilderbuchlandschaft: Das alles hat ihn dermaßen inspiriert, dass er ins Schwärmen geriet. Keiner der Kameraden verstand, was er meinte.31

Auch in Tirana, dem Ziel der »Reise«, ging es Erdmann nicht schlecht. Das »Land der Skipetaren« war nicht so wild, wie er es sich vorgestellt hatte, und mit kriegerischen Geschehnissen kam er zunächst nicht in Berührung. Das hatte mit der besonderen Situation des Landes zu tun. Albanien war sofort nach der italienischen Kapitulation von zwei deutschen Divisionen besetzt worden. Es sollte im deutschen Machtbereich bleiben, erhielt aber formell die Unabhängigkeit zurück, die es durch die italienische Besatzung verloren hatte. Man einigte sich auf eine »relative Neutralität«: Die deutschen Truppen genossen »Gastrecht«, ansonsten wurde die Eigenständigkeit der nationalen Regierung betont – gegenüber dem Deutschen Reich wie gegenüber den Alliierten. De facto freilich war Albanien ein deutscher Satellitenstaat, der durch ein Kollaborationsregime verwaltet wurde. Spürbarer Widerstand blieb vorerst auf entlegene Bergregionen beschränkt.32

Erdmanns Stellung in Tirana war – wie er selbst schrieb – »sehr wechselnd und zwiespältig«: Mal musste er im Geschäftszimmer aushelfen und hatte »minderwertige Schreibarbeit« zu erledigen, mal wurde er mit der Rechnungsführung beschäftigt. Sein Hauptmann hatte ihn gar als seinen Stellvertreter während einer bevorstehenden Abwesenheit auserkoren. Doch da hätte er mit dessen Damenbekanntschaften flirten müssen, was sich Erdmann überhaupt nicht vorstellen konnte. Er war froh, dass dieser Kelch an ihm vorbeiging. Als Dolmetscher, der eigentliche Zweck seines Daseins, hatte er nur gelegentlich zu tun. Im Grunde gab es keine Verwendung für ihn. Er kam sich deshalb überzählig, überflüssig und nutzlos vor und war mit der ganzen Situation nicht zufrieden. Am Ende landete er in der Abteilung »Verwaltung« und konnte so wenigstens im Verkehr mit dem »Publikum« einige interessante Eindrücke gewinnen. »Ich werde mir Mühe geben wie immer«, schrieb er in für ihn charakteristischer Weise.33

Wahrscheinlich galt das am wenigsten für die eigentlich soldatischen Belange. Obwohl es nicht zu seinen Aufgaben gehörte, musste Erdmann an Schießübungen teilnehmen und sogar an schweren Waffen sollte er ausgebildet werden.34 Doch ein Soldat wurde auch jetzt nicht aus ihm. Ein Foto zeigt ihn in der »Tropenuniform«, die man ihm in Tirana verpasst hatte:35 ungelenk und linkisch, wenig sportiv, in guter Stimmung immerhin. Doch die Kameraden neben ihm machen ebenso wenig den Eindruck, dass sich mit ihnen ein Krieg gewinnen ließe.

Erdmanns Stärken lagen auf einem anderen Gebiet. Wo immer sich ihm die Möglichkeit geistiger Betätigung bot, nahm er sie bereitwillig an. Als solche verstand er seine Ausbildung zum Dolmetscher und die Übersetzung deutscher Texte ins Italienische hatte ihm ein geradezu akademisches Vergnügen bereitet.36 Später, auf dem Rückzug von Albanien nach Norden, wurde er als Funker eingesetzt. Das verschaffte ihm nicht nur das Privileg, die nasskalten Dezembertage in einem trockenen Raum verbringen zu können, sondern befriedigte ihn zugleich intellektuell.37 In Tirana aber war es die albanische Sprache, die ihn anzog. Auch damit konnte er sich nützlich machen und gleichzeitig seinen Heißhunger auf geistige Nahrung stillen.

Freilich war die Mühe erheblich. Er kaufte ein kleines Heft, um Vokabeln zu notieren, und trieb ein albanisch-italienisches Wörterbuch auf, um mit dessen Hilfe die örtliche Zeitung lesen zu können. Noch nie habe er mit so primitiven Hilfsmitteln eine Sprache erlernen müssen. Außerdem sei das Albanische »abscheulich schwer«, mit keiner anderen Sprache verwandt, schon gar nicht mit einer von denen, die er gelernt hatte, weder mit Französisch, Englisch, Latein oder Griechisch noch mit Spanisch, Portugiesisch, Italienisch oder Hebräisch. Nur langsam kam er voran, hatte aber Freude an den Fortschritten. Nicht ohne Stolz ließ er die Familie wissen, er habe nun seine zehnte Sprache erlernt.38


Carl Erdmann in Tirana (zweiter von rechts), im Sommer 1944.

Der Aufwand hat sich gelohnt. Schon nach sechs Wochen konnte Erdmann gelegentlich als Dolmetscher in der Landessprache aushelfen und die albanische Zeitung mithilfe seines Wörterbuchs lesen. Dafür investierte er einen Teil seines Solds, und da in Albanien die Inflation galoppierte, war die Zeitung so teuer, dass er sich deren Anschaffung nicht alle Tage leisten konnte. Aber auch so verschaffte er sich einen merklichen Vorteil. Da Albanien formell einen neutralen Status beanspruchte, wurden in den Zeitungen nicht nur die deutschen, sondern auch die alliierten Heeresberichte publiziert. Erdmann war also über den Kriegsverlauf und die internationale Politik besser informiert als alle anderen Soldaten, die nur die deutschen Verlautbarungen kannten. Sogar der Nachrichtenoffizier ließ sich täglich durch ihn unterrichten und auch die einfachen Kameraden dürften an seinem Wissen partizipiert haben. Sein Ansehen bei ihnen wurde dadurch merklich gesteigert.39 Beharrlichkeit und Scharfsinn, Fleiß und Pfiffigkeit gehörten zu seinen persönlichen Stärken und machten sich – das wird ihn überrascht haben – sogar im Krieg bezahlt.

Erdmann wusste also, was an den Fronten und in der Heimat geschah. Er erfuhr von den schweren Niederlagen im Osten, hatte Kenntnis von den Bombenangriffen auf die deutschen Städte und machte sich Sorgen um seine Schwestern, deren Kinder und die anderen Familienmitglieder. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 nahm er »verwirrt«, aber schweigend zur Kenntnis. Dazu wollte er sich brieflich nicht äußern. Seine Feldpostbriefe nahmen auf die Zensur nicht allzu viel Rücksicht. Aber dieses Eisen war ihm zu heiß und seine eigene Lage wurde durch das Geschehen in der Wolfsschanze nicht berührt. Er ahnte, dass der »Kessel« um Tirana bald platzen, dass aber der Abzug der Deutschen kaum gelingen würde, weil die Schlinge um Albanien sich langsam zuzog. Alles, was er sah und erlebte, fand er »hochinteressant«, aber gesetzt »den Fall, dass die Ereignisse hier ins Rollen kommen: werden wir dann noch von hier wegkommen?«40

Auch der Partisanenkrieg rückte näher heran. Immer weniger ließ sich Albanien als »die letzte romantische Ecke Europas« bezeichnen.41 Zweimal kam Erdmann in den Bergen bei Tirana zum Einsatz, einmal als Dolmetscher in der Landessprache (!), einmal zur sprachlichen Betreuung italienischer Milizionäre (»Schwarzhemden«), mit denen er sich ausgezeichnet verstand. »Carlo« nannten sie ihn der Einfachheit halber und gebrauchten damit eben jene Namensform, die sich in Familie und Freundeskreis längst eingebürgert hatte. Erdmann empfand diese eine Woche als den »Höhepunkt« seiner Zeit in Albanien: »beschwingte Tage, inmitten einer herrlichen Natur«, Tage, »die ich nicht vergessen könnte, und wenn ich 80 Jahre alt würde«. Wie in einer »Sommerfrische« kam er sich vor. Schließlich aber wurde das Zeltlager nachts von Partisanen überfallen. Ein langer, »interessanter« Brief, den Erdmann nebenher für seine Schwester geschrieben hatte, ging ebenso verloren wie seine Brille. Da er aber ohne Brille nicht schießen und mit den italienischen Maschinengewehren sowieso nicht umgehen konnte, versteckte er sich im Gebüsch und überstand so die Gefahr. Wenn nicht vier Kameraden ums Leben gekommen wären, hätte er auch dieses Erlebnis als »dankenswerte Bereicherung« angesehen. Obwohl er sich wenig soldatisch verhalten und sich auch nicht weiter aufgeregt hatte, betrachtete er das Gefecht als seine »Feuertaufe«, als seine erste militärische Bewährung.42


Tirana, Sommer 1944 (Erdmann ganz rechts).

Fackel in der Finsternis

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