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FACKEL IN DER FINSTERNIS
ОглавлениеBerlin, am 1. Januar 1939: Wie zu jedem Jahreswechsel schreibt Carl Erdmann seinem Freund Gerd Tellenbach einen Brief.1 Von der Post, die er seinerseits bekam, ist nichts erhalten geblieben. Man muss (und kann) sich deren Inhalt erschließen. Immer ging es um persönliche Dinge, berufliche Aussichten, wissenschaftliche Pläne, gute Wünsche trotz lastender Sorgen. Zunehmend kam die Politik ins Spiel; schon bald überwog das Öffentliche das Private. Im Januar 1939 steht sie – buchstäblich – an erster Stelle. Denn Erdmann hatte Grundsätzliches mitzuteilen. Zu viel war gegen Ende des abgelaufenen Jahres geschehen: Ein europäischer Krieg wurde mit knapper Not noch einmal vermieden; mit der Reichspogromnacht kündigten sich weitere, immer schärfere Judenverfolgungen, aus heutiger Sicht: der Holocaust, an. Alle Aussichten trübten sich ein. Erdmann wagte keine Prognose, sah aber ein »Zeitalter der Finsternis« anbrechen.
Der Begriff hat seine Geschichte. Seit dem 14. Jahrhundert, seit Francesco Petrarca verstand man darunter jenes mittlere Zeitalter zwischen Antike und Neuzeit, das Humanisten und Aufklärer als verlorene Zeit diffamierten, als eine Epoche des Stillstands und der Dunkelheit, aetas tenebrarum, saeculum obscurum, nichts weiter.2 Weder Erdmann noch Tellenbach hätten sich den Begriff, das Schlagwort oder gar die Auffassung zueigen gemacht. Beide hatten sich der Erforschung des Mittelalters verschrieben, um dessen Eigenart und Wert noch deutlicher hervortreten zu lassen, als es die Romantiker, die Philologie und die Geschichtsschreibung schon getan hatten. Doch hatte der Begriff seine Berechtigung, wenn man ihn auf die Gegenwart projizierte, erst recht, wenn man bedachte, was die Heilige Schrift mit dem Wort Finsternis verbindet: die Herrschaft der »Fürsten und Gewaltigen […] mit den bösen Geistern unter dem Himmel« (Eph 6,12 in Martin Luthers Übersetzung). Auch das stand dem studierten Theologen Carl Erdmann sicher vor Augen, und sein gelehrter Freund hat sicher verstanden, was er meinte. Die nationalsozialistischen Machthaber (die »Gewaltigen«) hatten ein Reich der Finsternis aufgerichtet, das ihnen beiden den Atem verschlug. Es blieb nur der Rückzug ins Private, und beide werden gewusst haben, was das im Wortsinn bedeutete: privatus, »abgesondert vom Staate«, abgesondert von diesem Staat.3 Erdmann rechnete nicht mit dessen Dauer, auch nicht im Januar 1939, als sich manch einer durch wirkliche oder scheinbare Erfolge noch beeindrucken ließ. Es kam also darauf an, einen unbestimmten Zeitraum zu überbrücken und jenseits der Gegenwart für die Zukunft aufzubewahren, was von der Vergangenheit wertvoll erschien. Erdmann sprach von einer Fackel, die man durch das gegenwärtige Zeitalter der Finsternis hindurchtragen müsse. Damit meinte er seine Wissenschaft, der er zutraute, den Anmaßungen der Mächtigen zu widerstehen. Fackel in der Finsternis, lux in tenebris: Sein Selbstverständnis hätte Erdmann nicht anspruchsvoller zum Ausdruck bringen können.
Eben davon handelt dieses Buch: von Politik und Wissenschaft im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, von intellektuellen Zumutungen und deren Abwehr, von Bildung, die sich nicht mit Unbildung verträgt, von Selbstbehauptung und persönlichem Mut, aber auch von Rückzug, Resignation und der Würde des Scheiterns, vom Untergang des Protagonisten. Was konnte Wissenschaft im nationalsozialistischen Unrechtsstaat ausrichten? Was konnte die Geschichtswissenschaft ausrichten? Welche Rolle konnte die Erforschung des Mittelalters, akademisch gesprochen: die Mediävistik, dabei spielen? Gab es Handlungsspielräume, die nur Wenige nutzten, richtiges Leben im falschen? Carl Erdmann gehörte zu der kleinen Zahl von Fachhistorikern, die sich den Forderungen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik beharrlich widersetzten und ihr öffentlich widersprachen. Die Folgen nahm er – sehenden Auges – in Kauf. Er riskierte viel, verlangte wenig und verlor alles. Darin liegt das Faszinosum seines Falls.
Es gilt mittlerweile als aussichtslos, jemandes Leben so erzählen zu wollen, dass es als kohärente, »auf etwas zulaufende Folge von Ereignissen« erscheint. Man spricht von der »biographischen Illusion« und unterstellt dem Biographen eine gewisse Komplizenschaft mit seinem Helden. Kein Individuum verfüge von der Wiege bis zur Bahre über eine konstante Identität, die über den Besitz des Eigennamens hinausgeht. Eine teleologische Sichtweise verbiete sich, kein Lebensweg ergebe als solcher einen ›Sinn‹, schon gar nicht in der Art eines Entwicklungsromans. So gesehen, sei es sinnvoller, Biographien nicht chronologisch, sondern thematisch anzulegen.4 Immerhin bleibt es also möglich, sich methodisch kontrolliert einer historischen Persönlichkeit anzunähern und sie aus unterschiedlichen, auch zeitlich definierbaren Blickwinkeln einzukreisen, um schließlich zu einem genauen und differenzierten Gesamtbild zu gelangen.
Vier Gesichtspunkte bieten sich nicht nur für Carl Erdmanns Biographie an.
Erstens seine natürlichen Anlagen: Erdmann war zweifellos ein schwieriger Mensch, und zwar für alle, die mit ihm zu tun hatten, zu Zeiten mehr, zu Zeiten weniger. Als er wissenschaftlichen Aufwind verspürte, wurde sein Ehrgeiz geweckt. Als es abwärts mit ihm ging, wehrte er sich heftig und zeigte sich reizbar. Später, in seinen letzten Lebensjahren, wurde er milder. Immer konnte er sich auf seine hohe Intelligenz, seine rasche Auffassungsgabe und ein blendendes Gedächtnis verlassen. Erdmann gehörte zweifellos zu den Hochbegabten, nach denen jede Wissenschaft Ausschau hält. Hinzu kam ein ausgeprägter Eigensinn, der sich im persönlichen Umgang als Sturheit, in Lebensführung und Lebensplanung als Selbstbeschränkung, in der wissenschaftlichen Arbeit als Fleiß und Hingabe ausdrückte. Davon vermitteln vor allem die Kapitel über seine fachlichen Leistungen einen Eindruck. Sie zeigen ihn als einfachen Mitarbeiter, aber »stillen Direktor« der Monumenta Germaniae Historica sowie als Autor eines mediävistischen Klassikers von mittlerweile weltweiter Wirkung.
Carl Erdmann um 1932.
Zweitens Prägungen und Einflüsse, was sich vor allem auf Erdmanns frühe Jahre bezieht: Obwohl man ihn nicht als Familienmenschen bezeichnen kann, haben ihn familiäre Traditionen und die Herkunft aus dem »Baltikum« nachhaltig beeinflusst. Dadurch wurden ihm deutsche Sprache, Kultur und Bildung als identitätsstiftende Werte vermittelt. Gleichzeitig nahm er als Deutschbalte überall eine Sonderstellung ein, die zwischen zugehörig und außenstehend changierte. Das Schicksal seines früh verstorbenen Vaters als dezidiert deutschsprachiger und deshalb entlassener russischer Staatsdiener stand ihm zeitlebens vor Augen. In Blankenburg am Harz verbrachte er im Schoß einer vaterlosen Familie eine behütete Jugend; aber offenbar wurde schon dort dem Außenseitertum der Boden bereitet, das er bis ans Ende seiner Tage kultivierte. Was er vom Gymnasium mitnahm, war das Interesse an den klassischen Sprachen sowie eine persönliche Beziehung zum Direktor Ernst Witte, die mit den Jahren so eng wurde, dass sie ihm den fehlenden Vater ersetzte. Im Studium fand er den Weg von der Theologie zur Geschichte und ließ sich durch das persönliche Beispiel des »preußischen Juden« Paul Joachimsen beeindrucken. Gleichwohl brachte ihn auch die Universität nicht davon ab, hartnäckig seine eigenen Ziele zu verfolgen und sich, wo immer es ging, als Autodidakt zu versuchen. Erst Paul Fridolin Kehr hat ihn so sehr gefordert, dass er sich ein zunächst leuchtendes, dann ambivalentes und schließlich abschreckendes Beispiel an ihm nahm.
Drittens die Schauplätze: Hält man sich die Orte, an denen Erdmann lebte, mithilfe einer Landkarte vor Augen, dann bekommt man einen Eindruck von der europäischen Dimension seiner Biographie: frühe Kindheit in Livland, Jugend in Blankenburg, Studium in Berlin und München, später in Würzburg, Tätigkeiten in Lissabon und Rom, schließlich wieder in Berlin. Hinzu kamen Forschungsaufenthalte erneut in Portugal, dann in Spanien und Paris, wo er ebenfalls Spuren hinterließ. Die erforderlichen Sprachkenntnisse brachte er mit oder sie »flogen« ihm zu. So gesehen, vervollständigte der Kriegseinsatz auf dem Balkan das Spektrum seines Erlebens. Auch dort nutzte er die Zeit, so gut es eben ging. Nur das Albanische setzte ihm zu. Herausragend wichtig waren die Stationen in Lissabon und Rom. In Portugal fand er den Weg zum Mittelalter und mit der Kreuzzugsgeschichte das Thema, durch das er eines fernen Tages berühmt werden sollte. In Rom öffnete sich sein Blick zur Geschichte des Papsttums und von da zu den klassischen Themen der Kaisergeschichte, die ihn in Berlin beschäftigen sollten. Reisen bildet: so sagt man. Nicht immer trifft der Satz zu. Erdmanns Biographie gehört zu jenen Beispielen, die zeigen, was er wert ist.
Viertens die äußeren Umstände, vor allem Zeitgeschichte und Politik: Krieg, Nachkrieg, Unruhen in Portugal, der Faschismus in Italien – das alles hat Erdmann erschüttert, bewegt oder betroffen. Damit musste und konnte er umgehen. Aber bedrängt, gequält und letztlich in den Untergang getrieben hat ihn die nationalsozialistische Diktatur, mit deren Funktionsträgern und Repräsentanten er sich mehrfach angelegt hatte. Davon handeln die Berliner Kapitel. Denn dort, in der Reichshauptstadt, befand er sich gewissermaßen im Auge des Orkans, inmitten eines politischen und weltanschaulichen Furors, den er nur in seinen Schriften und Briefen überlebte. Auch die Zu- und Wechselfälle seines Nachlebens gehören zu den erhellenden Bestandteilen einer eigensinnigen Biographie.