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Deutschbalten unter den Zaren

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Tartu/Dorpat gehört heute zu Estland. Doch das war nicht immer so, sondern ergab sich erst aus den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, als die drei baltischen Staaten entstanden und die Grenzen neu festgelegt wurden. Estland wurde nach Süden, Lettland nach Osten erweitert. Ethnische Zusammengehörigkeit wurde zum Thema. Davon war früher nicht keine, aber nicht so grundsätzlich die Rede. Vielmehr lebten in dem Raum, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeinhin als Baltikum bezeichnet wird,1 verschiedene ethnische Gruppen, die miteinander auskamen, ohne sich zu nahe zu treten. Dafür sorgte nicht nur deren unterschiedliche Rechtsstellung und politischer Status, sondern auch das soziale Gefälle, das sich daraus ergab. Man lebte beieinander und trotzdem getrennt. Die Gemeinsamkeit hatte Grenzen. Die Geschichte des nordöstlichen Europa ist auch als eine Geschichte ungleicher Chancen und ethnischer Spannungen zu begreifen.2

Den schwersten Stand hatten die alteingesessenen Völker, die Esten, Liven, Kuren, Semgallen und Letten. Einwanderung und Landnahme, rechtliche, wirtschaftliche und sprachliche Verdrängung, Krieg, Eroberung und häufige Herrschaftswechsel ließen sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu Objekten fremder Mächte werden. Den Anfang machten Dänen, Schweden und Russen; aber dauerhaft, über 700 Jahre hinweg, hatten vor allem die Deutschen Erfolg. Gewaltsame Eroberung, christliche Mission und ökonomische Überlegenheit (sichtbar etwa in der Gründung von Städten) griffen dabei Hand in Hand. Der Schwertbrüderorden, eigens dazu ins Leben gerufen, schuf im »Land der Liven« ein Territorium, das aber schon bald im werdenden Deutschordensstaat aufging. Bistümer bzw. Erzbistümer entstanden in Riga (1201), Dorpat (1224) und Kurland (1251). Regelmäßig war der Amtsinhaber ein Deutscher. Die Städte Riga, Dorpat und das dänische Reval wurden Mitglieder der Hanse, später auch Pernau, Wolmar und andere, kleinere Orte.

So eng waren die Beziehungen zu Deutschland im ganzen Mittelalter und sie blieben es bis ins 20. Jahrhundert hinein. Auf den Deutschen Orden und seinen livländischen Zweig folgten wenige Jahrzehnte polnisch-litauischer Herrschaft, ein langes schwedisches Jahrhundert, zunächst nur in Estland, dann auch in Livland und Kurland, und schließlich die Einverleibung des gesamten Raums in Gestalt der drei (als getrennt anerkannten, aber als zusammengehörig behandelten) Ostseeprovinzen in das Russische Reich nach dem Nordischen Krieg (1721). Doch (fast) immer behaupteten die Deutschen ihre bevorzugte Rechtsstellung, der ritterliche Adel seine ererbten, angeblich auf ewig verbrieften ständischen Rechte. Er entwickelte eine Geisteshaltung, die auf unbedingter Wahrung des Status quo bestand. Den einen erschien sie konservativ, den anderen reaktionär. Man verstand sich als doppelt peripher: als Vorposten der deutschen Kultur im Osten und gleichzeitig als westlichen Außenposten des zarischen Regimes. Man hielt an deutscher Sprache und Tradition fest (auch die protestantische Konfession spielte eine Rolle, zumal in Abgrenzung von der Orthodoxie) und wahrte gleichzeitig eine unverbrüchliche, dienstethisch begründete Loyalität gegenüber der herrschenden Dynastie (weniger gegenüber dem Russischen Reich oder gar der russischen Nation). Deutsches Nationalgefühl, liv- oder kurländisches Provinzialbewusstsein und die Treuebindung an die Romanows gingen eine merkwürdige Verbindung miteinander ein. Zumal den Baronen wurde nachgesagt, sie ließen sich in ihrer Verachtung der Russen und ihrer Verehrung des Zaren von niemandem übertreffen.3

Konzessionen an die Interessen der unteren Schichten, also an Esten, Liven, Letten usw., kamen schon gar nicht infrage. Das sprach sich herum und rief sogar in Deutschland Kritik hervor. Max Weber soll einmal einer Besucherin aus dem Baltikum den unsanften Umgang ihrer deutschen Landsleute mit der einheimischen Bevölkerung vorgehalten haben, als sie über den »lettischen Pöbel« herzog. Sie aber bestand auf dem zivilisatorischen Abstand zu diesem und hielt an der historischen Mission der Deutschen als »Kulturträgern« fest.4 Überhaupt besaßen die Deutschbalten einen zweifelhaften Ruf in Deutschland. Zwar bemühten sie sich, den Kontakt zur alten Heimat aufrechtzuerhalten; die Söhne wurden zum Studium oft an deutsche Universitäten geschickt. Dort aber wurden sie für unzuverlässig und spitzfindig, für intrigant und übertrieben selbstbewusst gehalten. Dass sie sich selbst ganz anders sahen, nämlich als liebenswürdig und gewandt, geistreich und aufgeschlossen, das liegt auf der Hand, hatte jedoch auf die allgemeine Meinung keinen Einfluss.5

Gerade von den deutschen Universitäten sind zahlreiche Zeugnisse überliefert, die maßloses Befremden zum Ausdruck bringen. Paul Fridolin Kehr sprach von einer »baltischen Camorra«, die ihr Beziehungsnetz auswerfe, Fritz Hartung von »aristokratischer Anmaßlichkeit«.6 Friedrich Meinecke ereiferte sich über »Typen wie [Theodor] Schiemann und [Johannes] Haller«: Erst vor Ort, in diesem Fall in Riga, lerne man Bescheidenheit und »rührende Gastlichkeit« kennen. Die nach Deutschland ausgewanderten »Balten« dagegen hätten »oft einen Zug zu abenteuerlichem Strebertum«, verbänden »Herrenbewußtsein« mit Egozentrik und neigten zu überheblicher Härte in ihren Urteilen.7 Von Haller hieß es, er sei der Meinung, »die Welt müßte ihm zu Füßen liegen oder müßte froh sein, ihm zu Füßen liegen zu dürfen«; das aber sei baltische Art. Selbst wer ihm nahestand, führte sein scharfes und kantiges Wesen nicht auf persönliche Eigenarten, sondern auf seine Herkunft zurück.8 Noch in den 1950er-Jahren wurde geraunt, dass man sich vor »Balten« (also vor Deutschbalten) in Acht nehmen müsse.9 Man hielt sie für »Giftmichel«, mit denen man nichts zu tun haben wollte.10 Dabei handelte es sich um ein Stereotyp, das auf der persönlichen Beobachtung einzelner Beispiele beruhte, dann auf eine ganze Volksgruppe übertragen wurde und den Anspruch erhob, deren Wesen zu erfassen, ein Stereotyp freilich, das so weit verbreitet war, dass es sich scheinbar plausibel auf historische Ursachen (Isolation, Randlage, bedrängtes »Volkstum«, Elitenbewusstsein oder Ähnliches) zurückführen ließ11 und in der akademischen Konkurrenz zur Grundlage harscher Urteile werden konnte. Wir werden sehen, dass auch Carl Erdmann damit konfrontiert wurde.

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