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Russifizierung, Nationalisierung, Unifizierung
ОглавлениеErdmann ließ aber auch keinen Zweifel daran, dass das von ihm beschriebene Idyll in Gefahr war. Sogar dessen Untergang hielt er für denkbar. In diesem Fall müsse man seine Penaten (also sein Heim) an einen anderen Ort tragen und sich dort eine neue Heimat aufbauen. Eine gewisse Resignation scheint beim späten Erdmann anzuklingen. Anlass dazu gaben ihm sowohl die allgemeine politische Situation als auch die eigene, ganz persönliche Erfahrung. Er wurde nämlich als Jurist und Universitätsprofessor in den Streit um die sogenannte Russifizierung hineingezogen, die nicht nur, aber doch in erheblichem Maße und schließlich mit gravierenden Folgen die Deutschbalten und die Universität Dorpat in Unruhe versetzte. Es ging dabei um die Angleichung jener Provinzen, in denen nichtrussische Minoritäten lebten, an russisches Recht, russischen Sprachgebrauch und russische Kultur. Denn Russland schickte sich an, ein nationales Selbstbewusstsein zu entwickeln, das sich an der begrifflichen Trias Orthodoxie, Autokratie und »Volkstum« (narodnost’) orientierte. Überlieferte Ansprüche auf Autonomie, Selbstverwaltung und religiöse Eigenständigkeit wurden zunehmend als unpassend empfunden.
Hinzu kam, dass in Europa Nationalstaaten entstanden, deren Vorbild auch jene Völker animierte, die in übernationalen Reichsverbänden wie dem russischen lebten. Je mehr sich dort die nationalen Empfindungen regten, umso größer wurde der russische Druck. Der Verdacht des Separatismus machte sich breit und gerade in den Ostseeprovinzen wurde der Aufstieg Preußens und des Deutschen Kaiserreichs ebenso aufmerksam wie sorgenvoll beobachtet. Man sprach von Russifizierung (obrusenie) und schuf damit einen Kampfbegriff, der von beiden Seiten verschieden interpretiert wurde: hier als notwendige Reform, die dem Reich und der Nation zugutekommen sollte, dort als willkürlicher Eingriff in erbliche Rechte. Auf staatlicher Seite war vom reichsweiten Nutzen die Rede. Bei den Betroffenen dagegen ging die Furcht um, ihr kulturelles Umfeld zu verlieren, also einer förmlichen Dekulturalisierung ausgesetzt zu werden. Statt von Russifizierung sollte man von Nationalisierung oder Unifizierung sprechen, also von dem Versuch einer Vereinheitlichung der Rechts- und Lebensverhältnisse in einem gegebenen imperialen Rahmen, der die Züge eines Nationalstaats annehmen sollte.46
Man kann das ganze, höchst vielgestaltige Verfahren als eine damals notwendige und auch zeitgemäße Modernisierung begreifen. Würde man eine Skala der Maßnahmen erstellen, dann würden Weißrussen, Ukrainer und Polen (die sich erneut gegen die russische Herrschaft erhoben hatten und deshalb einer forcierten Integration unterworfen wurden) am oberen Ende, Finnländer (bei denen die Unifizierung allmählich verebbte) und zentralasiatische Muslime (die weitgehend in Ruhe gelassen wurden) am unteren Ende zu stehen kommen. Die Deutschbalten würden einen Platz unterhalb der Mitte einnehmen.47 Obwohl ihnen gegenüber das Misstrauen zunahm, wurden sie weniger als andere behelligt. Aber auch sie bekamen die Veränderungen zu spüren. Wurden sie lange Zeit als kulturelles Vorbild und als Brücke nach Europa betrachtet, so sah man sie jetzt als einen Fremdkörper an und setzte auf die angebliche Verwandtschaft von Russen, Letten, Esten und Liven.
Dort, in den Ostseeprovinzen, wurde die Debatte, eben weil sie sich um kulturelle Fragen drehte, zunächst nicht politisch, sondern publizistisch ausgetragen und die Familie Erdmann war von Anfang an daran beteiligt: Carl Eduards Großonkel Ferdinand Walter, Generalsuperintendent und evangelisch-lutherischer Bischof, hatte sich in einer Predigt zur Eröffnung des livländischen Landtags dafür ausgesprochen, Letten und Esten (»aus der Geschichte verschwindende Volksstämme«) auf die Seite der deutschen Kultur zu ziehen, diese also zu germanisieren. Da zur gleichen Zeit noch in Polen gegen die Herrschaft des Zaren gekämpft wurde, wurde die Rede in der russischen Presse als Versuch bewertet, die Stellung der Deutschen in den Ostseeprovinzen zu stärken und deren Bindung an den Reichsverband zu lockern. Der Vorwurf des Separatismus stand im Raum und verband sich mit der Abwehr eines überheblichen Anspruchs: Wenn Letten und Esten in eine andere Kultur überwechseln sollten, dann könne das nur die des Reichsvolks, also die russische, sein. Die Staatsnation fühlte sich diskriminiert. Die Reaktion fiel so heftig aus, dass Ferdinand Walter von seinen kirchlichen Ämtern zurücktreten musste. Er war das erste Mitglied der Familien Erdmann–Walter–Neander, das eine Amtsstellung aus politischen Gründen verlor.48 Carl Erdmanns Vater und er selbst sollten diese ›Tradition‹ einmal fortsetzen.
Wenige Jahre später kam die Universität Dorpat ins Spiel. Dieses Mal ging die Initiative von der russischen Seite aus. Wieder wurde den Deutschbalten vorgeworfen, Esten und Letten germanisieren zu wollen. Die drei Provinzen seien aber kein Vorposten Deutschlands, sondern ein Teil Russlands. Die Privilegien des Adels seien keine dauerhaft gültigen Rechte, sondern Gunsterweise, die mittlerweile als antiquiert und wertlos betrachtet werden müssten. Die Antwort gab Carl Schirren, Professor für russische Geschichte an der Universität Dorpat. Er gab sie in Form einer Kampfschrift, die einerseits mit historischen Argumenten die besondere Rechtsstellung der drei Provinzen zu erweisen versucht, andererseits der russischen Seite jeden Anspruch auf Herrschaft bestreitet: Denn dort finde man »nichts, was zu herrschen berechtigte, weder Ernst, Maaß, Ausdauer, noch eine gewisse Übung, Erfahrungen zu nutzen«. Das russische Volk sei »nicht reif und nicht werth, über uns zu herrschen«; es solle erst einmal lernen, »sich selber zu beherrschen«.49
Schirrens »Livländische Antwort« war so polemisch formuliert und so sehr von antirussischem Ressentiment durchtränkt, dass sie mehr dadurch als durch ihren sachlichen Gehalt Aufsehen erregte. Ihre Wirkung in Dorpat soll »tiefgreifend« gewesen sein und ganz wesentlich zur ideologischen Versteinerung unter den Deutschbalten beigetragen haben.50 Lange blieb sie in der Erinnerung präsent. Das »Festhalten« und »Ausharren«, das sie beschwor, wurde, wie Schirren verlangt hatte, zur »Summe« deutschbaltischer Politik. Doch die Strafe folgte auf den Fuß. Beide Seiten wurden zensiert und gerügt, aber nur die deutsche sanktioniert. Schirren musste seinen Lehrstuhl räumen und tat, was später auch andere taten: Er ging nach Deutschland, wo er wenige Jahre später eine historische Professur erhielt. Carl Eduard Erdmann war zur gleichen Zeit schon Syndikus in Dorpat. Die ganze Affäre spielte sich vor seinen Augen ab.
In besonderem Maße sah sich die Universität in den 1880er- und 1890er-Jahren herausgefordert, als nämlich staatlicherseits durchgeführt wurde, was 20 Jahre lang in Presse und Öffentlichkeit diskutiert worden war. Alexander III. wurde zum Feindbild der Deutschen, weil er Maßnahmen verfügte, die deren Vorrechte beschnitten und sich an der symbolisch bedeutsamen Sprachenfrage festbissen. Die russische Kultur wurde zur »Leitkultur des Imperiums« erhoben, die russische Sprache als alleinige Verwaltungs-, Gerichts- und Unterrichtssprache im Bildungswesen durchgesetzt.51 Bis dahin hatte sie in Dorpat nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt. Von den deutschbaltischen Professoren wurde sie möglichst gemieden, von manchen gehasst. Wer längere Zeit in Sankt Petersburg gelebt hatte, galt als »verrusst«.52 Karl Bücher erinnerte sich an den Besuch des russischen Revisors, bei dem eine ganze Reihe von Professoren ihre durchaus vorhandenen Russischkenntnisse einfach verleugnete und es vorzog, mit dem hohen Gast über einen Dolmetscher zu kommunizieren. Er fand es befremdlich, dass Professoren an einer russischen Universität behaupten durften, die Landessprache nicht zu beherrschen. In Deutschland sei dergleichen nicht denkbar.53 Etwas von der »versteinerten« Haltung der Deutschbalten kam dabei zum Vorschein. Bücher selbst versuchte – wie schon erwähnt – Russisch zu lernen, machte sich damit aber keine Freunde unter seinen Kollegen.
Carl Eduard Erdmann dürfte zu denjenigen gehört haben, die sich eines Dolmetschers bedienten. Er verfügte zwar über »sehr gute« bis »ziemlich gute« Russischkenntnisse,54 weigerte sich aber beharrlich, seine Vorlesungen auf Russisch zu halten. Er stellte sich also auf die Seite derer, die alle Aufforderungen der Regierung in den Wind schlugen. Mit deren Wortführer, Johannes Engelmann, stand er auf gutem Fuß und dieser mit Carl Schirren. Erdmann musste erleben, wie sein Fach zurückgefahren wurde und schließlich ein Dasein als Nebenfach fristete. Seine Kollegienhefte wurden noch Jahre später für Privatkurse in seiner Verbindung verwendet. Stattdessen wurde den Bedürfnissen russischer Studenten Rechnung getragen, vor allem durch die Berufung russischer Professoren, die an die Stelle der deutschen traten. Die Juristische Fakultät änderte zügig ihr Gesicht, bald auch die ganze Universität. Im Februar 1893 wurde ganz offiziell aus der deutschsprachigen Universität Dorpat die russische Universität Júrjev.55 In einer Münchener Zeitung erschien ein »Nekrolog«.56 Im selben Jahr beendete Erdmann seine Lehrtätigkeit. Seine letzte Vorlesung hatte noch einmal die Rechtsgeschichte Livlands, Estlands und Kurlands zum Gegenstand, in deutscher Sprache versteht sich.57