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Fünf auf einem Ast
ОглавлениеDie verwitwete »Wirkliche Staatsrätin Frau Professor« Veronika Erdmann und ihre fünf unmündigen Kinder führten in Blankenburg ein auskömmliches Leben. Sie bezogen zunächst eine Mietwohnung, dann ein eigenes, für sie erbautes Haus im vornehmen Westen der Stadt, bestehend aus Parterre, erstem Obergeschoss und einem Dachgeschoss darüber, umgeben von einem Garten.6 Die Ostseite schmückt eine gemütliche Loggia mit einem Altan darüber. Es gibt imposantere Gebäude in der Umgebung; doch vor keinem musste sich die erdmannsche Villa verstecken: bürgerliche Gediegenheit, die man ihr heute noch ansieht.
Die Adresse: Sedanstraße 4 gibt zu erkennen, dass die Familie in einem Neubauviertel wohnte. Der Straßenname erinnerte – so wie die jährliche Sedanfeier – an den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg und die Reichsgründung von 1871. Patriotische Begeisterung steckte in ihm. Zweimal wurde er geändert: nach dem Zweiten Weltkrieg in Walter-Hartmann-, 1990 in August-Winnig-Straße. Jedes Mal kam der Zeitgeist zum Zug, zuletzt um an einen sozialdemokratischen Arbeiterführer zu erinnern, der einmal einen Maurerstreik in Blankenburg organisiert hatte, mittlerweile aber ebenfalls in die Kritik geraten ist.7 Womit Veronika Erdmann die Kosten für Hausbau und Lebensunterhalt bestritt, ob sie ein Vermögen mitbrachte, wie viel Pension oder Rente sie aus Russland erhielt, ob sie über Einkünfte in Deutschland verfügte – das alles wissen wir nicht. Insgesamt ist die Quellenlage sehr spärlich, sodass sich nur wenig über die Lebensverhältnisse der Familie und über Carl Erdmanns Kindheit aussagen lässt.
Wohnhaus der Familie Erdmann in Blankenburg.
Der Mangel wird ausgeglichen durch ein besonders reizvolles, weil literarisches Zeugnis. 1936, also drei Jahrzehnte später, publizierte Erdmanns älteste Schwester ein schmales Büchlein mit dem merkwürdigen, aber auch ansprechenden Titel: »Fünf auf einem Ast«. Die Verfasserin gebrauchte nicht ihren bürgerlichen Namen als mittlerweile verheiratete Vulpius, sondern ihren Mädchennamen, zudem in Verbindung mit ihrem zweiten Vornamen Yella. Sie wählte also – wenn man so will – ein doppeltes Pseudonym. Der Verlag, K. Thienemann in Stuttgart, bewarb das Buch zusammen mit anderen, die sich an junge Mädchen als Leserinnen wandten: Erzählungen einer dänischen Schriftstellerin Erna Heinberg und der Berliner Adligen Eleonore von Heeringen. Schon die Titel ihrer Bücher sind bezeichnend: »Estrid und Karen«, »Das Wunderkind«, »Die fünf Dehn und ihre Mutter«. Sie wenden sich an die heranwachsende weibliche Jugend und thematisieren deren Probleme. Man spricht von »Backfischliteratur«.8
»Fünf auf einem Ast« handelt von der Kindheit der fünf Erdmann-Kinder, umsichtig behütet von ihrer treu sorgenden Mutter. Alle Namen wurden geändert; aber es fällt nicht schwer, die Personen zu identifizieren:
−Aurelie, geboren 1893, hatte ihren ersten Vornamen nach der verstorbenen ersten Frau ihres Vaters erhalten, wurde aber von ihren Geschwistern nur Yella genannt. In ihrem Buch heißt sie Isa.
−Ihre nur ein Jahr jüngere Schwester Veronika, benannt nach der leiblichen Mutter, hatte den Spitznamen Lalli. Daraus wurde jetzt Anni.
−Der älteste Bruder Guido, geboren 1896, trug einen in der Familie seltenen Namen, der sich leicht zu Günther abändern ließ.
−Eberhard, Jahrgang 1897, hatte einen noch selteneren Vornamen; er wurde zu Erhard verkürzt.
−Carl schließlich, der Nachgeborene, der den Namen des Vaters weitertragen sollte, heißt im Buch seiner Schwester: Alfred. Als Nesthäkchen ruft man ihn »Dachs«. Da kein einfacher Weg von Carl zu Alfred führt, kann man nur vermuten, welche Assoziationen hier am Werk waren. Als das Buch publiziert wurde, beschäftigte sich Carl Erdmann – wie noch zu zeigen sein wird – geradezu leidenschaftlich mit Karl dem Großen. Das gleiche Attribut wird dem angelsächsischen König Alfred zuerkannt, der ein halbes Jahrhundert später regierte. Von Karl dem Großen zu Alfred dem Großen war es – vielleicht – nur ein gedanklicher Sprung.
Auch einen anderen Familiennamen ließ sich die Verfasserin einfallen: Aus Erdmann wurde Ebeling. Der Vater habe als Arzt und Naturforscher die Tropen bereist, sei aber (nicht vor, sondern) kurz nach der Geburt des Jüngsten verstorben. Er spielt nur als »fernes, liebes Bild« eine Rolle. Die Mutter dagegen hält die Fäden der Erziehung in der Hand, lässt jedem der Kinder zuteilwerden, was ihm zusteht, und rückt zurecht, was sie anrichteten, wenn sie beim Spielen über die Stränge schlugen. Sie steht für ein pädagogisches Ideal: Unmerklich finden die Kinder ihr Maß.
Yella (Vulpius)-Erdmann, Fünf auf einem Ast (1936).
Die fünf Geschwister bilden eine Spielgemeinschaft, die auch altersmäßig zusammengehört. Außenstehende haben es schwer, in sie aufgenommen zu werden. Im Mittelpunkt der Gemeinschaft und auch der Erzählung steht Isa/Yella. Die Autorin spricht von sich selbst, von ihrer Entwicklung vom Kind zum »Backfisch«, wie man damals sagte. Sie ist die temperamentvollste, leidenschaftlichste, unternehmendste unter den fünf Geschwistern. Sie denkt sich Spiele aus, verteilt die Aufgaben und nimmt für sich selbst die beste in Anspruch. Sie besitzt einen »Flitzbogen« und ist es gewohnt, über die anderen zu herrschen. Das macht sie erpressbar, wenn diese nicht mitspielen wollen. Aber ob als Amazonenkönigin, als Raubritter oder Polizist: Immer fällt ihr die interessanteste Rolle zu. Sie liest viel, lebt in ihren Büchern und entnimmt ihnen Anregungen für ihre Streiche. Später wolle sie selbst einmal ein Buch schreiben. Außerdem hat sie vor, Griechisch und Latein zu lernen und dann einen Brotberuf zu ergreifen. In ihren Taten wie in ihren Wünschen scheint sie mehr ein Junge als ein Mädchen zu sein. Besorgt und geduldig beobachtet die Mutter die Entwicklung ihrer ältesten Tochter und nimmt kaum merklich Einfluss auf sie.
Veronika Erdmann mit ihren fünf Kindern (zweiter von rechts: Carl).
Am ehesten kann der älteste Bruder Günther/Guido mit Isa mithalten. Auch er besitzt einen »Flitzbogen«, verfügt über einen wachen und klaren Verstand und ist bereit zu jedem abenteuerlichen Spiel. Die Schwester Anni/Lalli dagegen ist eher träumerisch veranlagt, spielt gerne mit Papierpuppen, die sie aus den Modeheften der Mutter ausschneidet, und gilt für Isa als die »geborene Squaw«. Die beiden Jüngsten schließlich nimmt keiner für ernst. Sie haben sich mit Nebenrollen zu bescheiden, müssen die Überlegenheit der älteren Geschwister hinnehmen und heulen viel. Alfred/Carl erscheint als ängstliches und weinerliches Kind, das sich gelegentlich auflehnt, sich dann beleidigt zurückzieht und nie recht mithalten kann. Als Schauspieler ist er linkisch, draußen hilflos, mit den Händen ungeschickt. Nicht einmal ein Buchzeichen kann er richtig kleben. Doch er hat feste Gewohnheiten und einen klaren Berufswunsch: Pfarrer will er werden. Das scheint ihm ein würdiger, ein »heiliger« Beruf. Wir erinnern uns, wie oft er in den Familien Erdmann–Neander–Walter schon vorkam.
Alle Kinder genießen eine fürsorgliche Erziehung: Sie gehen zur Schule, wohnen in einem geräumigen Haus mit »vielen Zimmern«. Wohnzimmer, Wirtschaftszimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer werden erwähnt, im Garten gibt es eine Laube. Der Mutter geht ein Dienstmädchen zur Hand. Sie sprechen Hochdeutsch (Dienstboten und einfache Leute Dialekt); man sieht ihnen die Herkunft aus gutem Haus an. Es wird gelesen und vorgelesen, was man damals für wertvoll, kindgerecht und förderlich hielt: »Robinson Crusoe«, »Lederstrumpf«, Karl May, Walter Scotts »Ivanhoe«, »Die Hosen des Herrn von Bredow« von Willibald Alexis usw. usf. Der Trojanische Krieg und die griechische Götterwelt sind allzeit präsent. Gustav Schwabs »Schönste Sagen des klassischen Altertums«, damals als »Vorschule der höheren Bildung« betrachtet,9 standen wahrscheinlich auch bei den Erdmanns im Bücherregal. Der bildungsbürgerliche Horizont einer gut situierten Familie im wilhelminischen Deutschland setzte die Traditionen des livländischen Literatentums umstandslos fort.
Der Inhalt des Buchs verweist auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort. Es hat keine fortlaufende Handlung, sondern setzt sich aus Szenen und Anekdoten zusammen, die jeweils Licht auf Heranwachsen und Erziehung der Kinder werfen. Es setzt im Herbst 1905 ein, widmet sich ausgiebig dem Winter und endet mit den Sommerferien 1906. Das Leben der Kinder spiegelt sich im Lauf eines Jahres. Eng umgrenzt ist auch der Schauplatz: ein Städtchen mit einem Marktplatz, zu dem eine Breite Straße hinführt; ein Schloss, bei dem man rodeln kann; Wald und Teiche in der Nähe; eine Eisbahn, die im Sommer als Badeanstalt genutzt wird, auf einem Gelände namens »Thie« – es fällt nicht schwer, die Stadt Blankenburg als Schauplatz zu identifizieren. Einige Namen wurden nur geringfügig verändert oder lassen sich leicht ergänzen. Den Pächter der Eisbahn im Winter, der Badeanstalt im Sommer, den bärbeißigen »Herrn Klaus«, gab es tatsächlich!10
Man kann also davon ausgehen, dass Yellas Erzählungen aus ihrer und ihrer Geschwister Kindheit nicht völlig fiktiv, sondern in ein reales Ambiente gestellt sind und die familiären Verhältnisse widerspiegeln. Der bildungsbürgerliche Hintergrund, die Zukunftswünsche der Kinder und deren charakterliche Eigenheiten geben die Wirklichkeit wieder: Willibald Alexis hatte schon der Vater gerne gelesen, Carl wollte tatsächlich zunächst Geistlicher werden und seine jüngere Schwester, die verträumte »Lalli«, schrieb später Gedichte. »Alles fällt mir nach innen«, sollte sie einmal von sich sagen und sprach sich »schwerflüssig Blut«, also Schwermut von Geburt an, zu: »Am Allerseelen-Morgen / Kam ich zur Welt. / So sind mir meine Sorgen / Schon zugezählt.« Sie nannte es einen »Defekt im Motor«.11 Viel später veröffentlichte sie selbst einen autobiographischen Schlüsselroman, der allerdings keine heile Welt abbildet, sondern das gerade Gegenteil davon: familiäre Konflikte und eine »vielbelastete Heredität«. Die Mutter erscheint dort als strenger »Kirchenfürst«, über alles in der Welt klagend und richtend, die Schwester Yella (hier Marthe) als gefallsüchtige, immer geschäftige Konkurrentin. Carl (hier Walter) versuchte offenbar zu vermitteln. Die schwermütige Veronika (hier Caroline) nahm aber Reißaus, zuerst nach München, dann nach Jena. Je nach Standpunkt nahm sich das Innenleben der Familie Erdmann ganz unterschiedlich aus. Als dann noch politische Zerwürfnisse dazukamen, wurde der Zusammenhalt brüchig.12
Doch zurück zu »Fünf auf einem Ast«. Das Buch wurde in großem zeitlichen Abstand von den Geschehnissen geschrieben und verklärt sicher manches. Die Absicht, ein vorbildliches Familienleben vorzustellen, trug dazu wesentlich bei. Es ist eine »gute alte Zeit«, die vor den Augen des Lesers ersteht. Die Empfindungen von Behaglichkeit und Sicherheit ließen sich – wenigstens im Rückblick – mit ihr verbinden. Dennoch hat sich die Verfasserin, schon um glaubwürdig zu wirken, nur wenig von den tatsächlichen Umständen entfernt. Eine Frage jedoch, eine Frage von Bedeutung, kann auch das sonst so gesprächige Buch nicht beantworten: Was hat die Familie Erdmann überhaupt dazu gebracht, nach Blankenburg zu ziehen? Blankenburg, ausgerechnet Blankenburg!
Zwar werden Verwandte in dem Buch erwähnt. Aber entweder können sie nicht ermittelt werden oder sie sind erst später zugezogen. Es gibt keinen einzigen Hinweis, kein Argument und erst recht keinen Beleg dafür, dass Veronika Erdmann mit ihren fünf Halbwaisen nach Blankenburg zog, weil hier schon andere Familienmitglieder lebten. Im Gegenteil: Lange blieben sie fremd. Die Vermutung geht also ins Leere. Andere Gesichtspunkte müssen den Ausschlag gegeben haben. Sie sind nicht in der Verwandtschaft, sondern in der Biographie des Ehemanns zu suchen. Offensichtlich kannte er die Gegend. Noch kurz vor seinem Tod erinnerte er sich begeistert an die Bergwanderungen, die ihn, den Berliner Studenten, nicht nur in Schwarzwald, Riesengebirge und Spessart, sondern auch in den Harz geführt hatten: »Mit dem Eintritt in das Bergland« lasse man »die Erde hinter sich« und betrete ein Land der romantischen Märchen und Mythen.13 Damit kann er verschiedene Örtlichkeiten gemeint haben. Aber er hätte sich nicht mit seiner Frau auf Blankenburg als deren künftigem Wohnsitz verständigt, wenn er die Vorzüge des Städtchens am Harz nicht gekannt hätte, vermutlich aus eigenem Erleben.