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Alma Mater Dorpatensis

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Dabei hatte Dorpat nicht wenig zu bieten. Die Erinnerungen einiger Wissenschaftler, die hier ihre erste Professur erhielten, geben davon einen lebendigen Eindruck. Sie machen aber auch deutlich, was ihnen fehlte und weshalb sie es vorzogen, Livland nach ein paar Jahren wieder zu verlassen. Sowohl der klassische Philologe Ludwig Schwabe als auch der später berühmte Nationalökonom Karl Bücher und schließlich der nicht weniger erfolgreiche Psychiater Emil Kraepelin (dem wir den Begriff des »manisch-depressiven Irreseins« verdanken) nutzten ihre Tätigkeit in Dorpat als Sprungbrett, um ihre Karrieren an anderem, prestigereicherem Ort fortsetzen zu können.23

Was ihnen allen sehr zusagte, war die Überschaubarkeit der Verhältnisse. Denn dadurch lernte man sich rasch kennen und trat in engen persönlichen Verkehr miteinander. Die Hilfsbereitschaft der Dorpater Kollegen war notorisch und wurde gerade von Neuankömmlingen sehr geschätzt. Rangunterschiede – etwa zwischen Ordinarien und Extraordinarien – spielten offenbar weniger eine Rolle als an den Universitäten in Österreich oder Deutschland. Der Umgang miteinander war »frei von allem Formel- und Titelkram«.24 Orden und Titulaturen wurden »mit bewusster Missachtung« behandelt,25 die Vielzahl der russischen Rangstufen – vom Kaiserlichen Hofrat bis zum Wirklichen Staatsrat – eher als Kuriosum betrachtet. Karl Bücher glaubte, einen »demokratischen Zug« erkennen zu können, hatte allerdings nur die sogenannte bessere Gesellschaft und davon vor allem die Universität im Auge. Dort aber komme man sich vor wie in einer »großen Familie« und lebe »wie auf einer einsamen Insel«.26 Dass sich Adel und Kaufleute »wie die Hindus« separierten und die estnische Unterschicht von all dem wie durch eine »chinesische Mauer« getrennt war,27 hat auch Bücher nicht thematisiert.

Zum Wohlbefinden trugen auch die Lebensverhältnisse in der immer noch kleinen Stadt bei. 1881 zählte sie 30 000, 1897 wenig mehr als 42 000 Einwohner. Zwar entsprach die Kanalisation nicht dem europäischen Standard und die Fäkalwirtschaft spielte noch lange eine Rolle (was Karl Bücher zu amüsierten Kommentaren veranlasste);28 aber die schmucken Holzhäuser hatten nicht nur großen ästhetischen Reiz, sondern erwiesen sich mit ihren mächtigen, die Temperatur tagelang konservierenden Öfen als ideale Behausung im ungewohnt strengen Winter. Die Küchenschaben (in Dorpat »Preußen«, in Berlin »Russen« genannt) musste man als natürliche Beigabe verstehen.29 Die Wege am Embach (dem heutigen Emajõgi) luden zu Spaziergängen ein und die Ruinenschönheit der (1624 ausgebrannten) Domkirche glaubten zumindest die Einheimischen irgendwie mit Heidelberg vergleichen zu können. Auch die wuchtige Steinbrücke aus dem späten 18. Jahrhundert trug dazu bei. Wirtshäuser, Kneipen mochte man vermissen. Ludwig Schwabe beklagte deren Fehlen.30 Doch umso reger war das gesellige Leben. Man lud sich gegenseitig ein, speiste in Klubhäusern, traf sich zu Musik, Theater und Tanz.31

Die Universität hatte ihre Eigenheiten. Es gab fünf Fakultäten, Lehrfreiheit und korporative Autonomie, sogar in disziplinarrechtlichen Fragen. Doch anders als in Deutschland wurden die Professoren nicht auf Lebenszeit berufen, sondern mussten sich nach 25 Jahren zwei Abstimmungen (zunächst in der Fakultät, dann im Plenum, dem sogenannten Conseil) stellen, um eine Verlängerung um jeweils fünf Jahre zu erhalten. Das Verfahren konnte wiederholt werden, sodass eine Dienstzeit von maximal 35 Jahren heraussprang. Wem sie nicht verlängert wurde, der musste ein spürbar geringeres Ruhegehalt hinnehmen. Man mochte das sachdienlich finden, weil es – theoretisch – zu dauernder Leistung anspornte und einer Überalterung der Professorenschaft entgegenwirken konnte. Aber dass die Lehre trotzdem gravierende Mängel aufwies, wissen wir durch Carl Erdmanns späteren Kontrahenten Johannes Haller, der in Dorpat studierte und kein gutes Haar an den Vorlesungen ließ, die er dort hörte.32 Außerdem wurde der kollegialen Intrige ein weiter Spielraum eröffnet. Schwabe sprach von »Quertreibereien« und »Schikanen«. Er erlebte, wie verdiente Gelehrte auf demütigende Weise nicht »abgewählt«, sondern »abgeschlachtet« wurden. Das hat ihn empört.33

Diese drei aus Deutschland stammenden, nach Dorpat berufenen Professoren kamen zu je eigenen, aber auch nicht völlig verschiedenen Resultaten. Sie alle machten sowohl angenehme als auch weniger erfreuliche Erfahrungen. Allein der Mediziner Kraepelin beklagte sich über sprachliche Schwierigkeiten, die er mit polnischen und russischen Studenten hatte (von den estnischen Patienten ganz zu schweigen). Da er das Leben in Dorpat als eintönig empfand, weit entfernt von ernst zu nehmenden Anregungen, betrachtete er die fünf Jahre, die er hier verbrachte, bis er endlich nach Heidelberg wechseln konnte, als »eine Art Verbannung«.34 Schwabe hatte der Universität Dorpat viel zu verdanken: erste berufliche Anerkennung und persönliches Glück. Doch da zur gleichen Zeit das Zweite Deutsche Kaiserreich entstand und die patriotischen Empfindungen hochflogen, zog es ihn mit Macht in die Heimat zurück. Außerdem schreckte ihn die Aussicht, nach 25 Jahren von seinen Fakultätskollegen »abgeschlachtet« zu werden. Nur Bücher konnte sich vorstellen, auf Dauer in Dorpat zu bleiben. Er lernte sogar etwas Russisch, um die Verhältnisse besser zu verstehen. Doch die Prominenz, die er sich erwarb, nachdem er Rufen nach Basel, Karlsruhe und vor allem Leipzig gefolgt war, wäre ihm in Dorpat, der »einsamen Insel«, versagt geblieben.

Für Carl Eduard Erdmann kam eine Berufung ins Ausland nicht in Betracht. Sein Fach, das baltische Provinzialrecht, konnte nur in Dorpat gelehrt und studiert werden; nur in den russischen Ostseeprovinzen hatte es gesellschaftspolitischen Sinn, nämlich die Aufrechterhaltung des rechtlichen Status quo. Erdmann hatte in Deutschland studiert und Reisen bis nach Italien unternommen. Zeitlebens schwärmte er von ihnen, von den romantischen Wanderungen in den deutschen Mittelgebirgen wie vom Kunstgenuss in italienischen Museen. Doch zu Hause war er in Livland, in Dorpat, am Embach. In einem späten Vortrag beschrieb er, wie sehr es ihn reizte, ins Ausland zu reisen und von dort – als einem »Jungbrunnen« – neue Anregungen und Einsichten mitzubringen. Neulich in Nürnberg habe sich ihm und seiner Tochter die Welt des Mittelalters, die Kunst Albrecht Dürers und Peter Vischers erschlossen. Doch er bestand darauf, dass nur derjenige richtig reise, der stets die Heimat mit sich führe, der den »Wandertrieb« als »Heimattrieb« verstehe und die unterwegs erworbenen Kenntnisse nicht nur zur Veredelung des eigenen Ichs, sondern auch zur Verbesserung der heimatlichen Zustände verwende. Nur so verstanden, seien Reisen »das höchste rein irdische Geschenk, das wir hier empfangen«.35 Er hätte auch sagen können: Reisen bildet, aber wirklicher Nutzen stellt sich erst nach der Heimkehr ein.

Heimat war für Carl Eduard Erdmann zunächst einmal das eigene Heim. Gleich nach Antritt seiner ersten festen Stelle heiratete er Aurelie Neander aus Mitau, um mit ihr zusammen eine eigene, bald vielköpfige Familie zu gründen. Die Braut entstammte einer ursprünglich hessischen, aber schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Kurland nachgewiesenen Familie, die ebenfalls – wie die Walters und die Erdmanns – zum baltischen Literatentum gehörte. Schon der Name Neander, eine Gräzisierung von Nauwmann bzw. Neumann, machte eine höhere, das heißt humanistische Bildung sichtbar. Vor allem Pastoren und Juristen gingen aus den Neanders hervor.36 Aurelie schenkte in 21 Ehejahren zehn Kindern das Leben, starb aber bald nach der Geburt des jüngsten im Alter von nur 41 Jahren. An Aurelies Stelle trat schon nach wenigen Jahren deren jüngere Cousine, Veronika Neander. Ein Ehehindernis stellte die enge Verwandtschaft nicht dar, auch nicht im baltischen Provinzialrecht, dessen Eigenheiten der Ehemann selbst dargelegt hatte.37 Aber der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern betrug jetzt immerhin 22 Jahre. In sieben Ehejahren brachte die junge Frau fünf Kinder zur Welt. Wie schon bei Eltern und Großeltern der Fall, wurde auch in Carl Eduard Erdmanns Generation eine große Kinderschar nicht als Last, sondern als Segen, jeder neue Erdenbürger als »göttliches Geschenk« betrachtet.38 Denn Kinder verbanden die Gegenwart mit der Zukunft und erfüllten das Haus der Eltern mit Leben. Leider wissen wir nur wenig darüber, wie dieses aussah, und noch weniger, wie es im Inneren genutzt wurde. Es lag in der Peplerstraße nahe beim Domberg, wo auch andere Professoren (und zumal die prominenteren von ihnen) ihr Domizil hatten. Die große räumliche Nähe gab den engen Zusammenhang der Dorpater Professorenschaft wieder. Auch nachbarschaftliche Hilfe gehörte dazu.39

Erdmann stand nicht an, seine Kenntnisse und Fähigkeiten seiner Wahlheimat, der Stadt Dorpat, zugutekommen zu lassen. Als 1877 die reformierte russische Stadtordnung auch in den Ostseeprovinzen in Kraft trat und den Kommunen völlig neue Gestaltungsspielräume eröffnete,40 ließ sich Erdmann in die Versammlung der Dorpater Stadtverordneten wählen. 18 Jahre gehörte er ihr an. Sechs Jahre amtierte er als Stellvertreter des Stadthaupts, beteiligte sich also an der Regierung der Stadt. Sein Heimatbegriff ging von dem »Orte unserer Ansässigkeit« aus. Zu dessen Verbesserung etwas beizutragen, hielt er für seine selbstverständliche, wenn auch anstrengende Pflicht.41

Wie weit sein Verständnis von Heimat darüber hinausreichte und welche Loyalitäten sich damit verbanden, geht aus einem allgemeinverständlichen Vortrag hervor, den er kurz vor seinem Tod erneut publizierte. »Das Wesen der Heimat« lautet sein programmatischer Titel.42 Er beschreibt das Selbstverständnis der Deutschen in Livland, ihre Bindung an ein Land, in dem sie nicht von Anfang heimisch waren, dessen Namen sie aber seit dem späten 16. Jahrhundert gerne als »Blivland«, »Bleibeland«, interpretierten.43 Zu ihm habe sich über die Jahrhunderte eine emotionale Beziehung entwickelt, die man auch als Verpflichtung zur »Treue« verstehen konnte. Gleichzeitig blieb eine feste Bindung an Deutschland als »Mutterland« und dessen Kultur erhalten, eine Bindung, die sich vor Ort als leidenschaftlicher Patriotismus artikulierte, aber im »reichsdeutschen« Alltag regelmäßig enttäuscht wurde.44 Davon ist hier nicht ausdrücklich die Rede. Aber die Bezugnahmen auf die deutsche Literatur sprechen eine deutliche Sprache. Hier sind es Ludwig Tieck, Adelbert von Chamisso und – seitenlang – Willibald Alexis, den heute kaum noch jemand kennt, dessen »vaterländische Romane« aber seinerzeit sehr viele Leser ansprachen. In anderen von Erdmanns Vorträgen und Schriften werden E. T. A. Hoffmann, Matthias Claudius, Joseph von Eichendorff, Jean Paul, Georg Büchner, Goethe, Schiller und natürlich Martin Luther angeführt. Seine Zuhörer und Leser werden es zu schätzen gewusst haben. Klassiker und Romantiker standen bei einem konservativ gestimmten Publikum hoch im Kurs. Deren Werke wurden von ihm aufgenommen, als wären sie eben erst erschienen.45 Zitate aus den Schriften englischer, französischer oder gar russischer Autoren hätten es wohl weniger erfreut. Deutschsein war für die allermeisten Deutschbalten zuerst und vor allem eine kulturelle Option.

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