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Hermann Christern, Opportunist und Profiteur
ОглавлениеHermann Christern (1892–1941) war sechs Jahre älter als Erdmann und wenig erfolgreich.10 Zwei Jahre verlor er durch den Weltkrieg, zwei Jahre, die drei militärische Auszeichnungen nicht aufwogen. Die Promotion erfolgte im Alter von 28 Jahren, also für damalige Verhältnisse relativ spät. Und so ging es dann weiter. Christerns akademische Laufbahn schleppte sich dahin. Für die Habilitation brauchte er weitere elf Jahre. Die sofortige Drucklegung verhinderte Hermann Oncken, der einem teilweisen Abdruck nicht zustimmte. Erst 1939, acht Jahre nach Abschluss des Habilitationsverfahrens, konnte das Buch erscheinen, dann allerdings dem Zeitgeist entsprechend ergänzt. In den Zeugnissen und Gutachten über Christern wird immer öfter auf sein fortgeschrittenes Alter und seine schwierige Situation hingewiesen. Vor allem zwischen Promotion und Habilitation habe er sich beruflich »sehr zersplittert«.11 Er hatte Frau und Kind zu ernähren und drohte, ein Sozialfall zu werden. Zeitweilig stand ihm das Wasser bis zum Hals. Zwischenzeitlich legte er die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab, unterrichtete an Volkshochschulen und Schulen und war als Bibliothekar des Historischen Seminars der Friedrich-Wilhelms-Universität tätig. Schließlich fand er als Schriftleiter des Deutschen Biographischen Jahrbuchs ein bescheidenes Auskommen. Dafür ließ er sich über mehrere Jahre hinweg vom Schuldienst beurlauben.
Doch auf die Dauer war auch das keine Lösung, zumal das Biographische Jahrbuch bald eingestellt werden sollte. Gleichzeitig wurde Christerns Beurlaubung vom Oberpräsidium Berlin-Brandenburg als der zuständigen Behörde widerrufen und seine Überstellung in den Schuldienst betrieben. Christern wollte unbedingt an der Universität bleiben, beschaffte sich ein Stipendium vom Reichserziehungsministerium und wehrte sich mit allen Mitteln gegen eine Versetzung nach Minden. Dort, in der westfälischen Provinz, hätte er nicht nur einen sichtbaren Statusverlust, sondern auch gravierende Veränderungen an seinen persönlichen Lebensumständen hinnehmen müssen. Er gehörte zu denjenigen Universitätsdozenten, die dringend eine feste Stelle suchten und aus den sich rapide wandelnden Verhältnissen im nationalsozialistischen Deutschland Kapital schlagen wollten.
Hermann Christern (1892–1941).
Spätere Nachrufe versuchten, einen Bogen von den frühen Werken zu späteren Einstellungen zu schlagen und Christern als frühen Nationalsozialisten hinzustellen.12 Doch Christern trat der NSDAP erst am 1. Mai 1933, wenig später auch der SA bei. Das Datum sagt in diesem Fall alles: Er gehörte zu den sogenannten Maiveilchen, die so wie etwas früher die »Märzgefallenen« massenhaft in die Partei eingetreten waren, nachdem diese in den ersten Monaten nach der »Machtergreifung« eine geradezu »erdrutschartige Veränderung der politischen Szene« bewirkt und außerdem deutlich gemacht hatte, dass sie das Heft nicht so bald aus der Hand geben werde. Beide Begriffe waren spöttisch gemeint und dienten den »Alten Kämpfern«, ihre Vorzugsstellung fürs Erste zu behaupten. Hans Frank sprach von »Revolutionsschmarotzern«, manch anderer von »Konjunkturrittern«, die in die NSDAP drängten und sich anschickten, aus der Kader- eine Volkspartei werden zu lassen. Wer wie Hermann Christern bis zum 1. Mai einen Aufnahmeantrag stellte, der hatte die letzte Möglichkeit genutzt, bevor ein Aufnahmestopp verfügt wurde. Auch nach Alter (über 35 Jahre), Herkunft (bürgerlich) und Ausbildung (Akademiker) entsprach Christern dem Profil derer, die die sprunghafte Zunahme des Mitgliederstands bewirkten, weil sie am Erfolg der »Bewegung« teilhaben wollten.13 Er war kein früh überzeugter Nationalsozialist, sondern nach allem, was wir wissen, schierer Opportunist. Mit seiner Arbeit am Deutschen Biographischen Jahrbuch behauptete er, dem Volk, der Gemeinschaft und jetzt auch dem nationalen Aufbau zu dienen. Auch damit hängte er seinen Mantel nach dem Wind.14
Das Feld, auf dem er sich hervortat, war allerdings nicht die Forschung und wohl auch nicht die Lehre, sondern die politische Arbeit in Fakultät und Seminar, sprich: die Beobachtung und Beurteilung von Kollegen im Auftrag von Dozentenschaft und Dozentenbund. Carl Erdmann blieb keineswegs der Einzige, über den er sich ausließ. Otto Meyer zum Beispiel, Klassischer Philologe und Assistent am Kirchenrechtlichen, Lehrkraft für Mittellatein am Historischen Seminar, musste sich »mangelnde Einsatzbereitschaft«, also Distanz zum Nationalsozialismus, nachsagen lassen. Im Seminar sprach sich Christerns Verhalten herum. Seine Wahl zum Vertrauensmann der Dozentenschaft wurde für »unzweckmäßig«, er selbst für »missgünstig« gehalten. Die Sympathien der Seminarleitung lagen eindeutig bei Meyer.15
Doch am Ende war Christern erfolgreich und erhielt Unterstützung von den maßgeblichen Stellen. Willy Hoppe, der Rektorstellvertreter, stellte einen Antrag auf Erteilung eines vergüteten Lehrauftrags. Dekan Bieberbach, der ohnehin »alles selbständig« machte und seine Kollegen nicht fragte, rechnete aus, dass auch soziale und wirtschaftliche Gesichtspunkte für Christern sprächen. Dabei legte er ähnliche Zahlen wie im Fall Erdmanns zugrunde, nur das Ergebnis war diesmal ganz anders. Sah er dort üppige Einkünfte, stellte er hier Bedürftigkeit fest. Zwar werde Christern noch für die Redaktion des Deutschen Biographischen Jahrbuchs bezahlt, obwohl dessen Fortführung infrage gestellt sei; aber gerade deshalb müsse er es »für untragbar empfinden, dass er für eine Arbeitsleistung bezahlt wird, die er tatsächlich nicht ausführen kann«.16 Rektor und Dozentenschaft befürworteten den Antrag im Eilverfahren, das Ministerium spielte mit. Es waren somit dieselben Personen und Stellen, die kurz vorher Carl Erdmann aus der Universität gedrängt hatten und nun den Verfasser des ersten denunziatorischen Gutachtens begünstigten: Hoppe, Bieberbach, Krüger, die Dozentenschaft und das Reichserziehungsministerium in Person Theodor Vahlens. Bei Erdmann war Geld gespart worden, das jetzt dem Komplizen und Mittäter zugewandt wurde. Ein Schelm, wer einen Zusammenhang, ein Komplott, eine Intrige vermutet.
Doch bevor der Lehrauftrag wirksam wurde, hatte das Reichserziehungsministerium eine andere Lösung parat, mit der Christern sogar eine Dauerstellung verschafft wurde. Er wurde nach Greifswald an die kleinste preußische Universität versetzt, getreu dem alten Grundsatz: Wer in der Hauptstadt nicht mehr gebraucht wurde, konnte für die Peripherie noch taugen.17 Von Berlin aus gesehen, war das natürlich ein Abstieg, aber in Christerns Lebenslauf ein Gewinn. Sein Gehalt fiel höher aus als erwartet; gleichzeitig ging an der Ostsee alles gemächlicher zu.18 Er konnte sich ein bescheidenes eigenes Haus leisten und war in die Universität rasch integriert. Schon drei Jahre später wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Die fachlichen Gutachten, die dabei über ihn angefertigt wurden, fielen fast alle halbherzig aus: Er habe nicht viel veröffentlicht, aber immerhin gründliche Forschung betrieben (Adolf Hofmeister); er sei noch nicht »so scharf« in das »Gesichtsfeld« des Gutachters getreten und seine Urteile könnten noch etwas »plastischer« sein (Otto Scheel); er sei hinter früheren Erwartungen zurückgeblieben, habe wenig »produziert« und leide vielleicht unter einer »inneren Hemmung« (Arnold Oskar Meyer); der Gutachter wisse wenig über Christern, über seine Fähigkeiten als Lehrer schon gar nichts, aber die Verleihung des Professorentitels sei durchaus berechtigt (Wilhelm Schüßler); seit der Habilitation habe er keine besondere Leistung erbracht, aber »wenn Sie den Eindruck haben, dass Christern im Lauf der Zeit zu einem Dozenten gereift ist, wie ihn die heutige Zeit brauchen kann, dann würde ich die geringe literarische Produktion als kompensiert betrachten« (Fritz Hartung). Allein der Dozentenbund und der Königsberger Ordinarius Kleo Pleyer, (noch) kein Parteigenosse, aber nationalsozialistischer Aktivist seit Langem, legten Stellungnahmen voller Lob und Zustimmung vor. Beide hoben Christerns persönliche Qualitäten und politische Leistungen hervor. Er sei »in jeder Hinsicht zuverlässig« und »einsatzbereit«, »ein anständige[r] Charakter und gute[r] Kamerad«.19 Damit meinte man keine Verdienste im beruflichen Alltag, sondern seine politische Verlässlichkeit im Interesse von Partei und »Bewegung«. Der Begriff »anständig« gehörte zum Vokabular des nationalsozialistischen Selbstverständnisses und wurde in allen möglichen Zusammenhängen gebraucht, berüchtigt in Heinrich Himmlers Posener Rede am 4. Oktober 1943. Er brachte eine Prinzipientreue zum Ausdruck, die über Leichen gehen konnte.20
Damit ist nichts über Christerns Verhalten gesagt, aber unbedingte Zustimmung wurde von ihm erwartet. Er gehörte mehreren nationalsozialistischen Formationen an (NSDAP, SA, NSD-Dozentenbund, Nationalsozialistischer Lehrerbund, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), ging in seinen Lehrveranstaltungen (zur »Geschichte des tschechoslowakischen Staates«, zur »Geschichte des deutschen Ostens«, über »Ostdeutschland in der gesamtdeutschen Geschichte der Neuzeit«) auf die aktuellen Themen der Ostpolitik ein, unternahm sogenannte Ost- oder Grenzlandfahrten mit seinen Studenten und arbeitete in dem von Kleo Pleyer geleiteten »Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis« mit. Dessen organisatorisches Dach, der »Verein für das Deutschtum im Ausland« (VDA), 1908 aus dem Allgemeinen Deutschen Schulverein hervorgegangen, hatte 1919 die Aufgabe übernommen, die Belange der nunmehr außerhalb der Reichsgrenzen lebenden »Volksdeutschen« im öffentlichen Bewusstsein wachzuhalten und den anstehenden »Volkstumskampf« argumentativ zu forcieren. Der Volkswissenschaftliche Arbeitskreis verstand sich seit seiner Gründung im Jahr 1934 als Plattform aller volkswissenschaftlich orientierten Disziplinen, von der aus dem »Volksgedanken« in der universitären Forschung zur Geltung verholfen und eines nicht allzu fernen Tages die politische und ethnische Neuordnung Europas wissenschaftlich beeinflusst werden sollte. Volkskundler, Rechtswissenschaftler und Soziologen, vor allem aber Geographen und Historiker nahmen an den regelmäßigen Zusammenkünften des Arbeitskreises teil, um über »völkische Geographie«, den Volksbegriff, das Verhältnis von »Volk« und »Staat« oder von »Volk« und »Nation« zu diskutieren. Es gab prominentere Mitglieder als Hermann Christern. Aber auch er glaubte, im Rahmen seiner Möglichkeiten dem von Kleo Pleyer ausgegebenen Anforderungsprofil des Volkstumswissenschaftlers gerecht werden zu können: »gesamtvölkisch« denkend, »kämpferisch« handelnd, im »Grenzkampf« bewährt.21
Sich daran zu beteiligen, war in Greifswald doppelt begründet, einmal durch die geographische Nähe zum deutschen Osten, zum anderen aufgrund der inneren Entwicklung einer Universität, die sich 1933 nach Ernst Moritz Arndt benannt hatte, um ihre nationale Zuverlässigkeit zu dokumentieren. Gleichzeitig wurde der Mathematiker und frühere Rektor Theodor Vahlen, der 1927 wegen seines öffentlichen Bekenntnisses zum Nationalsozialismus entlassen worden war, auf seinen Lehrstuhl zurückgeholt und sogar zum Ehrensenator ernannt. Die Universität Greifswald geriet nie völlig in den Griff der NSDAP und auch die Zahl der Entlassungen aus politischen oder rassischen Gründen hielt sich in Grenzen. Aber durch die Einführung des Führerprinzips, die Besetzung der zentralen Stellen (Rektorat, Kuratorium) durch Parteigenossen und einige strategische Berufungen trat ein allmählicher Wandel ein. Der NSD-Dozentenbund tat das Seine dazu. Auf diesem Wege wurde eine schleichende, wenn auch oberflächliche Nazifizierung bewirkt. Die bis dahin eher deutschnational dominierte Universität tat sich schwer damit, klare Grenzen zu ziehen, und bot der nationalsozialistischen Hochschulpolitik eine »offene Flanke«. Entsprechend ausgeprägt war die Bereitschaft, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren.22
Hermann Christern fügte sich beflissen in das sich wandelnde Profil der Alma Mater und setzte sich »freudig« »für die restlose Verwirklichung des Programms der NSDAP« ein.23 Hatte ihn jemals eine »innere Hemmung« (A. O. Meyer) am Schreiben gehindert, so war sie nun verflogen. Zu keiner Zeit seines Lebens publizierte er so viel wie in Greifswald. Drei Werke stellte er in den Dienst der Nation, wie man ihn damals verstand. Als Erstes brachte er endlich nach achtjähriger Wartezeit seine Berliner Habilitationsschrift zum Druck. Sie befasste sich mit Verfassungs- und politischer Ideengeschichte und knüpfte damit an Forschungsrichtungen an, die die Berliner Historiker Otto Hintze und Friedrich Meinecke, nicht aber Christerns Doktorvater Erich Marcks vertraten. Dieser hatte sich schon 1928 emeritieren lassen und wollte nur noch an seinem letzten Werk schreiben, einer groß angelegten Biographie Bismarcks, die er freilich nie abschließen sollte. Vielleicht trug die Wahl des Themas von Christerns Habilitationsschrift, die Neuausrichtung seiner Interessen, den geänderten Verhältnissen an der Berliner Universität Rechnung und vielleicht zeigte sich schon darin jene Fähigkeit zur Anpassung, die ihn auch später so oft auszeichnen sollte.
Vor allem im Schlusskapitel ist davon eine Menge zu spüren. Denn dieses wurde nachträglich in den späten 30er-Jahren geschrieben und sollte die Darstellung bis an die Gegenwart heranführen.24 Ursprünglich ging es um den Vergleich der deutschen mit der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, des Ständestaats in Reich und Territorien mit dem frühen Parlamentarismus, wie er in England praktiziert und von John Locke, Edmund Burke und anderen theoretisch grundgelegt wurde. Christern stellte die Frage, inwieweit das englische Verfassungsmodell auf die deutschen Zustände ausstrahlen konnte. Im Mittelpunkt stehen die Überlegungen, die von vier Hannoveraner Staatstheoretikern (A. L. von Schlözer, L. T. Spittler, E. Brandes, A. W. Rehberg) angestellt wurden. Denn im Königreich Hannover waren die Stärken und Schwächen der englischen Verfassung am besten bekannt. Ob sich daran allgemeine Urteile knüpfen ließen, schien schon den Gutachtern im Habilitationsverfahren zweifelhaft. Aber Christern scheute sich nicht, in der um das Schlusskapitel erweiterten Fassung aus seinem beschränkten Material Schlüsse zu ziehen, die weit über die fachhistorische Fragestellung hinausgingen und den nunmehrigen Zeitgeist bedienten.
Im Blickpunkt der Arbeit steht England, freilich nicht nur als Vorbild für Deutschland, sondern auch in seinem Verhältnis zu Frankreich. Denn die englische Verfassung habe während des 19. Jahrhunderts Gedankengut der Französischen Revolution rezipiert und sich dadurch erheblich, nämlich im Sinne einer »gleichen liberalen Allerweltsverfassung« verändert. England sei »von den Ideen von 1789 besiegt worden«. Deutschland dagegen habe zunächst leidenschaftlich (»angloman«) die politischen Verhältnisse in England bewundert, sei dann Kompromisse eingegangen, die auf eine Vermischung von monarchischem Prinzip, parlamentarischer Verfassung und demokratischen Gedanken hinausliefen, und habe schließlich erfahren müssen, wohin das alles führte: zur Niederlage im Weltkrieg, zum Ausbruch der Revolution und zum Untergang der Monarchie. Das liberale Verfassungsmodell sei den Deutschen immer »lebensfremd« geblieben, sodass ihnen einerseits das nötige Vertrauen zu diesem abging und es andererseits an eigenen Vorstellungen fehlte, »die man der demokratischen Idee der Welt hätte entgegensetzen können«. Diese erwies sich – so Christern – als »zersetzende Propaganda«. Die »Überdemokratisierung der Weimarer Verfassung« sei dann auch nichts weiter gewesen als »die völlige geistige Unterwerfung unter die Ideologie, mit deren Hilfe die Feinde das deutsche Volk besiegt hatten«. Erst der nationalsozialistische Staat habe die »verfassungspolitische Überfremdung« überwunden und, indem er an die »lebendige Kraft des Volkstums« anknüpfte, eine eigene, eine »deutsche Verfassung« implementiert. Sein Prinzip sei nicht der »formale Mechanismus einer Organisation«, sondern »die souveräne Verkörperung des Selbsterhaltungstriebes eines Volkstums auf Erden«; in ihm gebe es keinen Gegensatz zwischen Regierung und Volk mehr, weil der Staat »den lebendigen Organismus eines Volkes vorstellt«.25
Die letzten Passagen stammen aus Adolf Hitlers »Mein Kampf«. Christern zitierte sie, um vorzuführen, dass der Gegenstand seines Buchs, obwohl in der sogenannten Systemzeit konzipiert, auch in den neuen Machtverhältnissen von Belang war. Er wollte »eine geistige Brücke schlagen von den politischen Entscheidungen um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts zu unserer eigenen Zeit und ihrer völkischen Geschichtsauffassung« und sich selbst als politisch anschlussfähig präsentieren.26 Dass ihm das gelungen war, bezeugt Kleo Pleyers Stellungnahme, der zufolge das Buch »ein gutes Stück politischer Wissenschaftsarbeit« darstelle, »wissenschaftlich und politisch wertvoll«.27 Christern erhob den Anspruch, als Historiker am »Lebenskampf« seines Volkes teilgenommen zu haben,28 und empfahl sich für künftige Aufgaben.
Gelegenheit ergab sich im Rahmen des »Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften«, der sogenannten Aktion Ritterbusch.29 Dieses »Gemeinschaftswerk« der Gesellschafts-, Kultur- und historischen Wissenschaften war an der Universität Kiel ausgedacht worden, und zwar noch vor Ausbruch des Weltkriegs. Die geistige Urheberschaft beanspruchte der Kieler Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrechtler Paul Ritterbusch, seit 1937 auch Rektor der Universität. Bis 1944 lag die Leitung des gesamten Unternehmens in seinen Händen. Seinem Geschick und Einsatz war es zu verdanken, dass zwischen 1941 und 1944 mehr als 300 Gelehrte aus zwölf Disziplinen 67 Monographien und Sammelbände zu (mehr oder weniger) kriegswichtigen Themen publizierten. Sie alle sollten: erstens sich mit dem »Geist Westeuropas« auseinandersetzen und die von ihm geschaffene Ordnung analysieren, zweitens demgegenüber »das eigene geistige Wesen«, »die eigene, artgemäße geistige Ordnung« darstellen und drittens die – so schien es – sich abzeichnende »neue geistige Ordnung Europas« zur Anschauung bringen. Wenn die Natur- und Ingenieurwissenschaften die Mittel zur Kriegführung bereitstellten, so sollten die Geisteswissenschaften die Ziele des Krieges begründen und gedanklich vertiefen. Indem sie beanspruchten, mit ihren Mitteln einen wesentlichen Beitrag zur Kriegführung leisten zu können, traten sie in Konkurrenz zu den angewandten Wissenschaften und durften nicht nur Unabkömmlichstellungen, sondern auch Fördermittel im entsprechenden Umfang verlangen. Denn wer sich am Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften beteiligte, konnte sich als »Soldat des Geistes« begreifen, der der »Volksgemeinschaft« diente, den Primat der Politik auch in den Wissenschaften akzeptierte und – endlich – Wissenschaft nur für das Leben produzierte. Der Begriff des »totalen Kriegs«, 1935 von Erich Ludendorff in die Welt gesetzt, scheint Ritterbuschs Konzept umfassender geistiger, wirtschaftlicher und militärischer Kriegführung beeinflusst zu haben.
Von den zwölf beteiligten Disziplinen kam der Anglistik besondere Aufmerksamkeit zu.30 Denn schon vor der Niederlage Frankreichs im Frühjahr 1940 wurde England als der wichtigste, dann als der einzig verbleibende Gegner betrachtet.31 Die »Englandwissenschaft« sollte dessen Stärken und Schwächen erkunden und schließlich die Überlegenheit des deutschen Wesens beweisen. Allerdings wurden von den zahlreichen geplanten Werken nur wenige verwirklicht. Forschungen zur englischen Sprache, Wirtschaft und Kultur, zum englischen Deutschlandbild, zum Einfluss Hegels auf die englische Philosophie oder Niedersachsens auf England in vorgeschichtlicher Zeit verschlangen nur Geld, Ergebnisse wurden angekündigt, jedoch nie publiziert. Immerhin konnte schon 1942 ein zweibändiges Sammelwerk über »die englische Kulturideologie« erscheinen, dessen vierzehn Beiträge das vorgegebene Rahmenthema »England und Europa« durchdeklinierten und, indem sie »Wesenskunde« betrieben, vielfachen Aufschluss über den englischen »Volkscharakter« versprachen. Der Kampf gegen die »Anglomanie« seit dem 18. Jahrhundert war ihr gemeinsames Anliegen.32 Den umfangreichsten Aufsatz durfte Hermann Christern beisteuern. Denn er galt unter den Historikern als Englandexperte, außerdem – wie schon gesagt – als linientreu, »anständig« und »politisch […] einsatzbereit«.33
Sein Thema war – wie in der Habilitationsschrift – der Einfluss der englischen Verfassung auf Deutschland, nun aber in ganzer Breite und nicht konzentriert auf ein bestimmtes Jahrhundert.34 Gerne zitierte er frühe Stimmen, die wie der sächsische Rechtsgelehrte Johann Gotthelf Beschorner oder der Englandreisende Hermann von Pückler-Muskau auf die Schwachstellen im englischen Gesellschaftsleben hinwiesen. Denn bei aller Wertschätzung der »englischen Freiheit«, des hohen Entwicklungsstands von Industrie und Technik und auch der romantischen Landschaft gab es immer auch kritische Einwände gegen Wettbewerb und Egoismus, soziale Missstände und die angebliche Treulosigkeit der Engländer. Bis ins 12. Jahrhundert reicht das Stereotyp vom »perfiden Albion« zurück.35 Manchmal musste der Verfasser freilich nachhelfen, um die »Abwehr englischer politischer Ideologie« als einen Grundzug der neueren deutschen Geschichte erscheinen zu lassen. Mit Karl Larenz, einem der maßgeblichen »NS-Theoretiker im Zivilrecht«,36 interpretierte er Hegel als frühen Zeugen der deutschen »Volksgemeinschaft«, der dem »Geist des Individualismus, des Privatinteresses und der ständischen Selbstsucht […] den auf der Gemeinschaft des gesamten Volkes gegründeten deutschen Staat« entgegengehalten habe.37 Bismarck zog Christern auf seine Seite, indem er aus dessen engstem Umfeld den Vortragenden Ministerialrat Lothar Bucher mit seiner englandkritischen Haltung zu Wort kommen ließ. Der Reichskanzler selbst hatte sich nicht hinreichend deutlich geäußert. Friedrich Julius Stahl dagegen, konservativer Parteifreund Bismarcks und dessen verfassungspolitischer Ideengeber, musste aus dem Chor deutscher Stimmen ausscheiden, da er als Jude nur »dürre Deduktionen«, »trockene Abstraktionen« und »jüdische Spitzfindigkeit« beizutragen wusste. Stahl, von Christern konsequent – unter Beifügung seines Geburtsnamens – Stahl-Jolson genannt, habe mit seinem Konzept einer »deutschen konstitutionellen Monarchie« das monarchische Prinzip zersetzend und auf Dauer verhängnisvoll gewirkt. Das Verständnis für die Gemeinschaft der Deutschen habe ihm als Juden gefehlt.38
Wie vom »Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften« gefordert, wollte Christern abschließend die europäische Ordnung der Zukunft aufleuchten lassen. Er referierte die nationalökonomischen Visionen Friedrich Lists, mit denen er sich schon lange beschäftigt hatte, beschrieb die Wandlung seines Doktorvaters Erich Marcks vom Englandfreund zum Englandskeptiker und zitierte gläubige Nationalsozialisten und notorische Antisemiten wie Johannes Heckel, Gerhard Kittel oder Karl Heinz Pfeffer, die den ideologischen Rahmen seiner Darstellung absteckten.39 Selbstredend konnten ihm auch Werner Sombarts »patriotische Besinnungen« über »Händler und Helden« von 1915 etwas geben. Zwar wusste er, wie »übersteigert« die Antithese war. Aber sie half ihm, die (angeblichen) nationalen Charaktere, deutsche Kriegshelden von englischen Krämerseelen zu unterscheiden: hier Pflichten, dort Rechte, hier Opfermut und Treue, dort Geschäftssinn und Verrat, hier Ideale, dort nur das Streben nach weltlichem Glück.40
Schon daraus hätte sich ergeben können, wie wenig man von England erwarten durfte. Doch erst die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit – Englands Desinteresse am Schicksal der Deutschen und schließlich der neuerliche Verrat an den germanischen Brüdern – hätten die Augen aller geöffnet und so dazu beigetragen, dass »der lebendige Funke völkischen Selbstbewusstseins von der Wissenschaft zur Politik und von ihr zur Wissenschaft« hinübergesprungen sei. Christerns Selbstverständnis als Mitarbeiter am »Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften«, einer Wissenschaft für das »Leben«, ist damit beschrieben. Erst »die nationalsozialistische Revolution und die Schaffung des Großdeutschen Reiches« hätten »wieder ein natürliches politisches Selbstvertrauen und die Erkenntnis geweckt, daß das deutsche Volk bereits jahrhundertelang als Träger des Reichsgedankens Ordner Europas gewesen ist und wieder sein wird«. England dagegen sei »europafremd« geworden.41 Bis zuletzt (das zeigen noch deutlicher die postum von seiner Frau publizierten Aufsätze und Vorträge) wirkte Christern willfährig an der Politisierung seines Fachs mit. Sein letzter Vortrag verglich den Einfall der Mongolen im Jahr 1241 mit dem Krieg gegen das »asiatische« Russland genau 700 Jahre später.42
Hermann Christern erlebte das Kriegsende nicht. Nach einem Vortrag vor Offizieren erhielt er die Erlaubnis, ein sowjetisches Kriegsgefangenenlager zu besichtigen, musste allerdings versprechen, über alles, was er sah, Stillschweigen zu bewahren. Denn im Stammlager II B bei Hammerstein war aufgrund der miserablen hygienischen Bedingungen eine Fleckfieberepidemie ausgebrochen. Man ließ die Gefangenen krepieren, ohne Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Christern infizierte sich und starb wenige Wochen später. Die Witwe, unterstützt durch die Universität, wollte den Vortrag ihres Mannes als »Diensteinsatz«, seinen Tod als »Dienstunfall« anerkannt sehen, hatte aber keinen Erfolg damit.43