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Ausgrenzung durch Gutachten
ОглавлениеDen Anlass gab ein Antrag beim Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, den die zuständigen Ordinarien Erich Caspar und Robert Holtzmann gestellt hatten: Erdmann sollte einen »Lehrauftrag für Urkundenwissenschaft und Familienkunde« erhalten und dafür auch eine Vergütung beziehen. Holtzmann hatte das vom Ministerium gewünschte Gutachten geschrieben.18 Erdmann rechnete schon für das Wintersemester 1934/35 mit einer Aufbesserung seiner Einkünfte. Doch die Stellungnahme der Dozentenschaft ließ auf sich warten. Deren »Führer«, der angehende Assistent am Mathematischen Institut Herbert Knothe, Parteimitglied seit 1. März 1933, hatte die Angelegenheit dem Privatdozenten für Physik Wilhelm Orthmann, Parteimitglied seit 1. Mai 1933, dieser zwei Vertrauensleuten in der Philosophischen Fakultät, den Historikern Willy Hoppe und Hermann Christern, überlassen. Von beiden wurde ein fachliches, persönliches und vor allem politisches Urteil über Carl Erdmann erwartet. Christern verfasste ein umfangreiches Gutachten, das auf alle drei Aspekte einging und die Grundlage aller weiteren Stellungnahmen abgab. Es lohnt sich, dessen vollständigen Wortlaut zur Kenntnis zu nehmen. Denn von ihm aus erschließt sich der Charakter des intriganten Verfahrens:
Fragebogen des Berliner Privatdozenten Carl Erdmann, 1933.
Wissenschaftliche Leistungen: Die kritische Richtung macht E. zur Uebermittlung quellenkritischer Probleme der Geschichtswissenschaft vorzüglich geeignet: das erklärt seine Lehrerfolge im Proseminar, soweit es auf die Einführung des jungen Studenten in die technischen und methodischen Fragen des Studiums ankommt. Seine einseitige fachliche und spezialistische Begabung verbergen ihm den Ausblick auf die eigentlich erzieherischen Aufgaben, die der Hochschullehrer heute zu erfüllen hat.
Charakter und politische Haltung: E.s Charakter kennzeichnet sich durch die sehr hohe Meinung, die er von sich und seinen Leistungen hat; seine individualistische Denkweise führt ihn zur Ablehnung des Nationalsozialismus. Wenn auch eine bloss äußerliche Gleichschaltung keineswegs erwünscht sein kann, so darf man doch diese klare Distanzierung E.s von den innen- und außenpolitischen Zielen des Nationalsozialismus ebensowenig übersehen, zumal sie sich mit einem offen zur Schau getragenen Gefühl geistiger Überlegenheit verbindet. E. hat zwar – nach Auskunft der Preussischen Dozentenschaft – im August d. J. »als Gast« an der Dozenten-Akademie teilgenommen, er hat sich aber, obwohl er noch jung genug ist, der Charakterprobe des Gelände-Sportlagers nicht unterzogen: darin ist ein Mangel an freiwilliger Dienstbereitschaft und an Gemeinschaftsgeist zu erblicken.
Gesamturteil: Die Erteilung eines Lehrauftrages, die eine besondere Bevorzugung und Förderung des damit Bedachten bedeutet, erscheint bei einem jüngeren Gelehrten, der erst wenige Semester gelesen hat und sich immer mit speziellen Kollegs begnügt hat, nicht angebracht, der so wenig Hehl daraus macht, dass er dem Nationalsozialismus mit Abneigung gegenübersteht; sein Einfluss auf die Studenten kann nur ungünstig sein, zumal wenn er sich nach Erteilung des Lehrauftrages gesichert fühlt. Am wenigsten ist die Erteilung eines Lehrauftrages für Familienkunde berechtigt, da sie, wenn sie fruchtbar wirken soll, ein tiefes Verständnis für das Wesentliche und Grundsätzliche auf diesem Gebiet voraussetzt. Sollte E. durch Versagung des Lehrauftrages in wirtschaftliche Not geraten, so könnte ihm durch Erteilung eines Privatdozentenstipendiums geholfen werden, besser aber noch durch die Erteilung eines dauernden Auftrages an den Monumentis Germaniae; E.s Begabung weist ihn auf das Gebiet der Quellenedition hin; er kann hier sein Bestes leisten und so an der geeigneten Stelle sehr nützlich Arbeit schaffen. Damit gewinnt er eine feste wirtschaftliche Grundlage für seine Tätigkeit als Privatdozent in der Universität.19
Hoppe fasste sich viel kürzer, kam aber zum gleichen Ergebnis: Erdmanns wissenschaftliche Leistungen seien anzuerkennen; auch sei er »pädagogisch nicht ungeschickt«. Doch »Geschichte in ihrer Bedeutung für die nationalpolitische Schulung und in völkischem Sinne den Studenten nahezubringen«, liege »kaum in seinen Kräften«. »Der nationalsozialistischen Gedankenwelt steht er fern.« Sein Urteil belegte Hoppe mit einer Denunziation: »Er hat mir gegenüber vor einigen Monaten deutlich erklärt, dass er den Beitritt zum NS-Lehrerbund ablehne, weil er Anerkennung nationalsozialistischer Ideen in sich schliesse.«20 Dieser Vorwurf schien so gravierend und auch passend, dass er in eine für das Reichserziehungsministerium bestimmte überarbeitete Fassung von Christerns Gutachten einging.21 Offenbar hatte Erdmann im täglichen Umgang mit den Kollegen aus seiner Gesinnung kein Geheimnis gemacht und sich dadurch eine Blöße gegeben, die sich bei der nächsten Gelegenheit ausnutzen ließ. Denn mit seiner fachlichen Überlegenheit und der sich daraus ergebenden Selbstgewissheit hatte er sich nicht nur Freunde gemacht. Schon der deutlich ältere Ferdinand Güterbock hatte sich ja an Erdmanns zwar scharfsinniger, aber »kühl berechnender« (angeblich baltischer) Art gestoßen. Erst recht unter Gleichaltrigen, die beruflich mit ihm konkurrierten, eckte er an. Sein wissenschaftliches Selbstbewusstsein wurde ihm als Arroganz ausgelegt und diese erschien als völlig unbegründet, wenn man seine Leistungen mit den Zielen der nationalsozialistischen Wissenschaftslehre verglich. Die große Synthese war nie sein Bestreben, schon gar nicht im völkischen Sinn.22 Diese drei Vorwürfe – sein allzu ausgeprägtes Selbstbewusstsein, seine Unlust, Geschichtsforschung für die Gegenwart zu treiben, und natürlich die kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus – wurden früh gegen Erdmann erhoben und kehrten in fast allen späteren Stellungnahmen und Beurteilungen wieder.
Doch vorerst blieb Erdmann unbehelligt. Er konnte es sich sogar leisten, gegenüber dem zuständigen Referenten im Ministerium auf seinem Standpunkt zu beharren und offen seine Distanz zum Nationalsozialismus zu bekunden. Trotzdem wurde ihm der Lehrauftrag erteilt und auch die Vergütung bewilligt. Nur die Familienkunde wurde gestrichen, denn das – Genealogie und Abstammungsfragen – war mittlerweile ein besonders heikles Gebiet.23 Erdmann konnte sich darüber freuen, übersah aber, dass er gleichzeitig jeglichen Rückhalt in der Philosophischen Fakultät verlor. Zwei der vier Professoren, die die Habilitationsschrift und deren Verfasser so gelobt hatten, waren mittlerweile aus dem Weg geräumt worden und der dritte sollte bald nachfolgen. Erich Caspar, Erdmanns eigentlicher Förderer und Betreuer, musste wegen seiner jüdischen Abstammung mit seiner Entlassung rechnen und nahm sich – am Tag nach Erlass des nächsten judenfeindlichen Gesetzes – am 22. Januar 1935 das Leben. Die genauen Umstände seines Todes wurden verschwiegen, sodass sie ein halbes Jahrhundert lang unbekannt blieben. Auch Erdmann glaubte an eine Lungenentzündung, obwohl er wusste, wie schwierig Caspars Lage geworden war.24 Hermann Oncken, der Erdmanns »gediegene Persönlichkeit« empfohlen hatte, war durch einen seiner früheren Studenten öffentlich denunziert, von der Universität im Stich gelassen und zum Rückzug aus allen Ämtern und Funktionen gezwungen worden (Februar/April 1935). Er nahm sich nicht das Leben, resignierte aber zusehends. Ernst Perels schließlich musste ebenfalls befürchten, aus dem Amt gedrängt zu werden; denn er konnte eine arische Abstammung nicht nachweisen. Sein Bruder Kurt, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg, hatte deshalb den Freitod gewählt; ein anderer Bruder wurde in Heidelberg aus dem Universitätsdienst entlassen. Er selbst hielt – »schwer bedrückt« – über den Sommer 1935 aus und kam erst im Oktober um seine Emeritierung ein. Danach wurde er als »Mischling I. Grades« registriert, aber von der Universität als Jude behandelt. Übrig blieb somit nur Robert Holtzmann; der aber stand kurz vor dem Eintritt in den Ruhestand und zog sich weitgehend zurück.25
Außerdem hatten sich die Rahmenbedingungen erheblich verändert. Am 1. April 1935 wurde erstmals nicht ein in der Universität gewählter, sondern ein vom Minister ernannter Rektor in sein Amt eingeführt. Der scheidende Rektor begann seine Abschiedsrede mit den Worten: »Sehr verehrte Gäste, meine geehrten Kollegen, meine Herrn Beamten und Angestellte, liebe Kommilitonen«, sein Nachfolger, der Veterinäranatom Wilhelm Krüger, wählte dagegen die zeitgemäße Anrede: »Kameraden, deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen« und trug unter dem samtenen Talar des Rektors das braune Hemd der SA; sein Vorgänger stand im Frack daneben.26 Zwar war Krüger erst seit Kurzem an der Friedrich-Wilhelms-Universität tätig und hatte auch nur an zweiter Stelle der Vorschlagsliste gestanden, aber er genoss als »Alter Kämpfer« (Mitglied der NSDAP seit 20. Oktober 1932) das Vertrauen des Ministers. Seine Antrittsrede handelte »vom Werden der nationalsozialistischen Universität« und lobte die bisher geleistete »Säuberung der Universitäten von jenen Aposteln der Internationalität, die fortwährend unter dem Deckmantel der Wissenschaft ihre Volk und Moral zerstörenden Ideen der deutschen Jugend einverleibten«. Auch der weitere Umbau sei »ein reines Personenproblem. Es muß gelingen, nach und nach alle an der Universität lehrenden und lernenden Menschen mit der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erfüllen«. Bei den meisten sei die Botschaft schon angekommen, es sei aber noch manches zu tun.27 Wer sich wie Carl Erdmann nach wie vor offen ablehnend verhielt, der durfte sich angesprochen fühlen. Als Stellvertreter des Rektors wurde Willy Hoppe ausersehen, der ihn ein halbes Jahr vorher denunziert hatte.28
Zur gleichen Zeit fand auch im Dekanat der Philosophischen Fakultät ein für Erdmann folgenschwerer Wechsel statt. Auf den Historiker Fritz Hartung folgte – nach zwei kurzen Intermezzi – der Mathematiker Ludwig Bieberbach, SA-Mitglied seit November 1933 und, wie sich zeigen sollte, »einer der eifrigsten Wegbereiter des Nationalsozialismus«.29 Mit einer seiner ersten Amtshandlungen teilte er Erdmann mit, »dass die Erteilung eines Lehrauftrages für ›Familienkunde‹ angesichts Ihrer offen zugegebenen Ablehnung des Nationalsozialismus nicht infrage kommt«.30 Dabei gab er den Wortlaut der ministeriellen Verfügung weiter und verzichtete auf jede verbindliche Form. Erdmann fand das Schreiben »unhöflich«.31 Der Rektor persönlich mischte sich ein, indem er den Dekan anwies, »die Tätigkeit Erdmanns im Auge zu behalten«, und sich vorbehielt, »falls sich Anstände ergeben«, darüber dem Minister zu berichten.32 Das Ministerium hielt zwar fürs Erste an der Erteilung des Lehrauftrags fest, aber die Vergütung geriet ins Wanken. Denn Bieberbach, beauftragt, einen Vorschlag über deren Höhe vorzulegen, und gleichzeitig verwundert, dass ein notorischer Gegner des Nationalsozialismus überhaupt Geld bekommen sollte, zog Erkundigungen ein und kam zu dem Ergebnis, dass Erdmann sich mit seinen diversen Einkünften (einschließlich der schmalen Witwenpension seiner Mutter) »wesentlich besser« stelle »als ein verheirateter außerplanmäßiger Assistent mit einem Kind an einem Universitätsinstitut«. Daraufhin nahm das Ministerium seine Zusage zurück und strich die Vergütung. Verärgert bat Erdmann, für zwei Semester beurlaubt zu werden, um sich anderweitig Ersatz für die ihm entgangenen Einkünfte zu verschaffen. Bieberbach sorgte dafür, dass ihm der Lehrauftrag endgültig entzogen wurde. Im Amtsblatt der Universität wurde der Vorgang öffentlich gemacht.33
Als Erdmann ein Semester später seine Beurlaubung verlängern lassen wollte, wurde erneut ein Gutachten fällig, diesmal des NSD-Dozentenbunds. Im Juli 1935 war nämlich auf Initiative des »Führer-Stellvertreters« Rudolf Heß der NSD-Dozentenbund aus dem Nationalsozialistischen Lehrerbund ausgegliedert und zur eigenständigen Parteiorganisation erklärt worden. Ihr gehörten alle Hochschullehrer an, die Mitglieder der NSDAP waren. »Gemeinsam mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) stellte der Dozentenbund die offizielle Vertretung der Partei an den Hochschulen dar.«34 Er trat damit in begrenzte Konkurrenz zur Reichsdozentenschaft, die ein staatliches Organ war. Denn so wie diese sah er seine Aufgabe vornehmlich in der Durchsetzung nationalsozialistischer Prinzipien in personellen Fragen, also bei Habilitationen und Berufungen. Er tat das mit noch größerer Vehemenz als jene und beschwor vielfach Konflikte mit Fakultäten, Universitäten und dem Reichserziehungsministerium herauf. Sogar Hermann Göring nannte ihn den »Schrecken […] der Hochschule«. Dozentenschaft und Dozentenbund leisteten somit beide ihren Beitrag zum allgemeinen Kompetenzenwirrwarr im sogenannten Dritten Reich, hier: an den Universitäten.35
Im Fall Erdmann wurden beide aktiv. Zur Frage seiner Beurlaubung nahm der »Führer« des Dozentenbunds, der Wehrwissenschaftler Oskar Ritter von Niedermayer, Stellung. Er ließ sich dazu nichts Neues einfallen, sondern machte sich die Wortwahl seiner Vorläufer zu eigen: hohe Meinung von sich selbst, individualistisches Denken, Ablehnung des Nationalsozialismus, ungünstiger Einfluss auf die Studenten. Doch am Ende stand ein Ergebnis, das über alle früheren Gutachten hinausging: »Es wäre darum wünschenswert, wenn Erdmann überhaupt seine Lehrtätigkeit einstellte, und der Dozentenbund schlägt vor, ihm seinen Urlaub zu gewähren, aber es ihm dringend anheim zu stellen, sich endgültig von der Universität beurlauben zu lassen.«36 Erstmals wurde offen ausgesprochen, worum es seit langer Zeit ging: um die Ausgrenzung und Verdrängung eines zwar fachlich respektierten, aber politisch missliebigen Dozenten.
Dass er respektiert wurde, war evident: Als in der Philosophischen Fakultät über die Nachfolge Ernst Perels’ beraten wurde, kam sogar der Name Erdmanns wieder ins Spiel. Als einige Professoren darauf beharrten, »daß die Fakultät ja nur wissenschaftlich zu gutachten hätte«, kam es sogar zu einem begrenzten Konflikt mit dem Dekan. Dieser – immer noch Bieberbach – wurde genötigt, Erdmann auf der Vorschlagsliste zu lassen; doch dem Ministerium teilte er mit, dass eine Berufung nicht »ernstlich in Betracht gezogen werden könne«. Immerhin galt er – so die Stellungnahme der Berufungskommission – nach wie vor als »sorgfältiger Arbeiter«, dessen wissenschaftliche »Produktion […] nach Umfang und Qualität von erheblicher Bedeutung ist«.37 In Heidelberg war er daher erneut im Gespräch38 und aus Halle kam die Anfrage, ob er charakterlich, politisch und pädagogisch geeignet sei, eine Professur zu übernehmen. Die dortige Philosophische Fakultät wollte ihn als Nachfolger von Walther Holtzmann vorschlagen. Das gewünschte Gutachten erstellte der nunmehrige Dozentenschaftsführer, Wenzeslaus Graf von Gleispach. Natürlich fiel es negativ aus: Erdmann sei in der Forschung zu gebrauchen, aber aus den bekannten politischen Gründen könne »seine Verwendung als Lehrer, d. h. seine Betrauung mit einem Lehrstuhl nicht befürwortet werden. Heil Hitler!«39