Читать книгу Fackel in der Finsternis - Folker Reichert - Страница 53
Oskar von Niedermayer, Freibeuter
ОглавлениеMan hat ihn den »deutschen Lawrence« genannt75 und der Vergleich hinkt nicht völlig. Denn so wie der britische Archäologe Thomas Edward Lawrence (»Lawrence of Arabia«) im Ersten Weltkrieg den Aufstand der arabischen Stämme gegen die osmanische Herrschaft entfachte, so hoffte zur gleichen Zeit der bayerische Hauptmann der Artillerie Oskar Niedermayer (1885–1948) die englische Macht in Indien zu erschüttern, indem er den Emir von Afghanistan auf die Seite der Mittelmächte zog. Allerdings waren sie unterschiedlich erfolgreich: Dem einen gelang sein Vorhaben, dem anderen nicht; der eine wurde ein Filmheld, der andere vergessen.
Ursprünglich war ein deutsch-osmanisches Unternehmen geplant. Doch die Gemeinschaft der Interessen reichte nicht weit. Die Deutschen wollten das British Empire im Rücken angreifen, die Türken territoriale Gewinne in Persien und im Kaukasus erzielen. So blieb es bei einer überschaubaren Anzahl deutscher Militärs und indischer Kollaborateure, die sich auf den Weg machten. Das Kommando übernahm Oskar Niedermayer, damals 29 Jahre alt.76 Dazu befähigten ihn seine Sprachfertigkeiten, die er während des Studiums in Erlangen, und die Kenntnisse der Region, die er bei einer abenteuerlichen Forschungsreise unmittelbar vor Kriegsbeginn erworben hatte. Er scheint aber auch ein eigenwilliger Mann gewesen zu sein, der seine Aufträge großzügig auslegte. Ein Bekannter verglich ihn einmal mit einem »starke[n] Motor, dem die Bremse fehlt. Schickt man ihn als Briefträger zur einfachen Überbringung eines Schreibens fort, so ist man nie sicher, ob er sich nicht für bevollmächtigt hält, einen Bündnisvertrag abzuschließen.«77 In Persien baute er ein weitgespanntes Spionagenetz auf und beteiligte sich sozusagen auf eigene Faust am »Great Game«, das die großen Mächte seit Langem in Zentralasien spielten. Geopolitik sollte bald sein Spezialgebiet werden. Erst eine zweite deutsche Expedition brachte ihn dazu, endlich die Weiterreise nach Afghanistan in Angriff zu nehmen. Die Rivalität der beiden Kommandeure (die zudem aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus stammten) sollte das Unternehmen andauernd belasten.
Engländer und Russen waren von Anfang an über die Pläne der Deutschen informiert. Dennoch gelang es der Expedition, durch die feindlichen Kontrollen zu schlüpfen. Dazu mussten sie den gefährlichen und strapaziösen Weg durch die ostiranische Salzwüste nehmen, um schließlich völlig ausgezehrt und erschöpft die Grenze zu Afghanistan zu überschreiten. Dort in dem weiten, aber abgelegenen und noch so gut wie gar nicht erschlossenen Land wurden die Besucher zunächst durchaus wohlwollend empfangen. Das hatte mit Afghanistans inneren Verhältnissen zu tun. Der Emir, Habibullah mit Namen, lavierte zwischen England und Russland, um wenigstens eine formelle Unabhängigkeit zu bewahren, nachdem sie faktisch längst verloren gegangen war. Eine Verbindung mit Deutschland kam ihm entgegen, aber ein Angriff auf Indien nicht infrage. Ein solches Ansinnen wies er brüsk zurück. Sein Bruder Nasrullah dagegen wäre bereit gewesen, sich an die Spitze der afghanischen Unabhängigkeitsbewegung zu stellen und nach zwei verlorenen Kriegen in einem dritten Waffengang gegen Englands lastenden Einfluss vorzugehen. Doch er konnte sich nicht durchsetzen. Erst 1919, nach dem Ende des Weltkriegs und unter Habibullahs Nachfolger, wurde der Heilige Krieg ausgerufen und England gezwungen, Afghanistan seine vollständige Unabhängigkeit zuzusichern. Es war also gar nicht so abwegig, was die deutsche Gesandtschaft dem Emir vorgeschlagen hatte.
Oskar von Niedermayer 1937 (1885–1948).
Man einigte sich schließlich auf einen Vertrag, der alle Vorteile auf der afghanischen Seite beließ und diese zu keinen konkreten Gegenleistungen verpflichtete. Ihren eigentlichen Zweck, den Kriegseintritt Afghanistans, hatte die Gesandtschaft verfehlt. Außerdem hatten sich die Deutschen nicht bei jedermann beliebt gemacht. Da sie sich als kulturell überlegen gerierten und allzeit besserwisserisch auftraten, wurden sie nicht einmal als Berater und Ausbilder gerne gesehen. Es wurde Zeit, dass sie den Schauplatz verließen. Sie bildeten mehrere Gruppen, die zum Zweck der Tarnung verschiedene Wege einschlugen. Einige Mitglieder der Expedition sollten in Südwest-Afghanistan und Ost-Iran bleiben, andere überquerten das Pamir-Gebirge und gelangten schließlich über Shanghai, Tōkyō, Kanada nach Europa. Niedermayer schlug sich, zeitweilig als einheimischer Kaufmann verkleidet, über Mazār-i Sharīf und die Karakum-Wüste nach West-Persien durch, wo sich türkische Truppen befanden. Nach einer Audienz bei Kaiser Wilhelm im Großen Hauptquartier kehrte er in den Nahen Osten zurück und kämpfte u. a. in Palästina gegen die Engländer. Dort stand er dem wirklichen Lawrence gegenüber, dem er in einem Gefecht »seine schwerste Niederlage« beigebracht haben will.78 Wenig später wurde er nach Deutschland zurückbeordert. Damit endete sein nahöstliches Abenteuer. Es sollte nicht das letzte in seiner Biographie bleiben. Darin unterschied er sich dann doch von seinem englischen Pendant.
Oskar Niedermayer wurden zahlreiche militärische Ehrungen zuteil, preußische, österreichische, bulgarische und türkische Auszeichnungen, vor allem aber die Aufnahme in den königlich bayerischen Militär-Max-Joseph-Orden, die ihm den Rang eines »Ritters von Niedermayer« eintrug.79 Ein Fragebogen, den er später ausfüllen musste, hatte nicht genügend Platz für all die Orden, gab aber den »Militärverhältnissen« umso mehr Raum. Nicht nur von Persien und Afghanistan, sondern auch von »verschiedenen Sonderkommandos« ist da die Rede.80 Mehr wollte Niedermayer offenbar nicht von sich preisgeben. Dahinter verbirgt sich die hochbrisante Rolle, die er in der deutschen Militärpolitik der 20er-Jahre spielte. Es war das nächste große Abenteuer, das er bestand.
Noch in Istanbul hatte er General Hans von Seeckt kennengelernt, damals Chef des osmanischen Generalstabs, 1920–1926 Chef der Heeresleitung und höchster Offizier der Weimarer Republik. Dessen Ziel war es, die Reichswehr aus den inneren Konflikten der Nachkriegszeit herauszuhalten und dem deutschen Heer zugleich zu alter Stärke zu verhelfen. Das war nur unter Umgehung der durch den Versailler Vertrag festgelegten Beschränkungen möglich. Kontakte wurden deshalb zur Sowjetunion geknüpft, die sich ja in einer ähnlich isolierten Situation befand. Daraus entwickelte sich eine strategische Partnerschaft, die bis zum Ende der ersten deutschen Demokratie hielt. Die Rote Armee profitierte von den technischen und organisatorischen Kenntnissen der Deutschen, die Reichswehr konnte die ihr verbotenen Waffen auf fremdem Territorium erproben. In Lipezk südöstlich von Moskau entstand eine Schule für Kampfflieger, in der Nähe von Kazan’ wurden Panzer getestet, in Volsk bei Saratov chemische Kampfstoffe produziert. Die Reichswehr sollte auf diese Weise auf künftige Kriege vorbereitet werden.
Koordiniert wurden all diese geheimen Aktivitäten durch eine »Sondergruppe R[ussland]«, die in Moskau domizilierte und in Konkurrenz mit der deutschen Botschaft die Funktionen einer Militärmission ausübte. Oskar von Niedermayer durfte als Vertrauter Seeckts an den vorbereitenden Gesprächen teilnehmen und konnte sogar Lenin, Trotzki und andere Granden der sowjetischen Nomenklatura persönlich kennenlernen. Sieben Jahre verbrachte er in Moskau, zunächst als Stellvertretender Leiter, dann als Leiter der Sondergruppe. Zwar galt er als »abenteuerlicher Charakter«, der »sich bei jeder Gelegenheit in persönlichem Ehrgeiz« vordränge. Mit dem Botschafter Ulrich von Brockdorff-Rantzau verband ihn deshalb eine herzliche Feindschaft.81 Doch auch nach von Seeckts Rücktritt und nachdem bekannt geworden war, was sich in Russland abspielte, blieb er im Amt. Es war wie damals in Afghanistan: Schwierigkeiten gab es viele und das tägliche Leben war »alles andere als bequem, […] vielfach geradezu abstoßend«; und trotzdem war Niedermayer vom Treiben der Bolschewiki fasziniert. Er glaubte, »kommende Führernaturen« zu sehen, und für das russische Volk, seine »Leidensfähigkeit und Lebensstärke« empfand er größten Respekt und tiefe Sympathie. Erst als sich die politischen Gemeinsamkeiten erschöpft hatten, verließ er die »Zentrale Moskau«, um sich in Berlin neu zu orientieren.82
Niedermayer beschloss, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Ein General hatte ihm den Vorschlag gemacht und seine Verbindungen zu Politik und Reichswehr ermöglichten ihm eine rasante Karriere. In kürzester Zeit durfte er sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität habilitieren. Seine Habilitationsschrift wurde als Aufsatz von gerade einmal 29 Druckseiten publiziert. Auch sein sonstiges OEuvre war überschaubar und basierte auf seinen persönlichen Erfahrungen: Die Dissertation befasste sich mit dem Iran, die Habilitationsschrift mit der Sowjetunion. Dazwischen lagen ein Bild- und Kartenband über Afghanistan sowie ein abenteuerlicher Reisebericht. Viel mehr war bis dahin nicht erschienen. Als sein Forschungsgebiet gab er »Wehrwissenschaften« an.83 Dieses Fach gab es vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht, drängte aber massiv in die Universitäten und erhielt durch die nationalsozialistische »Machtergreifung« weiteren, kräftigen Auftrieb.84 Es avancierte zur Leitwissenschaft eines militarisierten Denkens. Leo Just, wissenschaftlich ganz traditionell eingestellt, klagte einmal, dass er »weder von Rassenkunde, noch von Vorgeschichte, noch von Wehrwissenschaft etwas verstehe«. Damit sei im »Universitätsbetrieb von heute« nichts mehr zu erreichen.85
Der Begriff »Wehrwissenschaften« wurde durch Bibliothekare erfunden, lag aber seinerzeit in der Luft. Er spiegelt die Bellifizierung der deutschen Gesellschaft ab dem Ersten Weltkrieg. Die wissenschaftliche Analyse sollte diesen Prozess systematisieren und an ihm teilnehmen. Wissenschaft wurde als Ressource entdeckt, die zur Wehrhaftmachung der Nation beitragen konnte. Militärische Abrüstung und mentale Aufrüstung bedingten einander. Die einschränkenden Bestimmungen des Versailler Vertrags, die heimlichen Aktivitäten der Reichswehr und das Aufkommen der Wehrwissenschaften sind im gleichen Kontext zu sehen. Zwar entstand keine fest umrissene akademische Disziplin, sondern eine Vielzahl von Initiativen machte sich auf den unterschiedlichsten Ebenen bemerkbar. Insofern war der Plural berechtigt. Doch sie alle hatten ein gemeinsames Ziel: »Universitäten und Hochschulen auf Fragen des Krieges hin auszurichten«.86
Die Bedeutung, die den Wehrwissenschaften dadurch zuwuchs, ließ sich aber nicht leicht mit dem traditionellen Selbstverständnis der Universitäten vereinbaren, am allerwenigsten mit dem der geisteswissenschaftlichen Fächer. Noch im Frühjahr 1933 wusste die Philosophische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität nicht, was Wehrwissenschaften eigentlich sein sollten. Man musste sich kundig machen, um ein Habilitationsgesuch beurteilen zu können.87 Erst Oskar von Niedermayer etablierte das Fachgebiet für die nächsten zwölf Jahre in der Universität. Sein Assistent Gerhard Oestreich (in der jungen Bundesrepublik ein bedeutender Frühneuzeithistoriker) definierte einmal, was er (und sicher auch sein Vorgesetzter) unter Wehrwissenschaften verstand: Wie alle Wissenschaften seien sie der Allgemeinheit verpflichtet und hätten »der politischen und militärischen Führung von Volk und Staat zu dienen«. Insoweit müsse man sie als »politische Wissenschaften« bezeichnen. Es gehe ihnen auch nicht einfach um den Krieg, sondern um einen »umfassenderen politischen Geist«, um »Wehrpolitik, die den Krieg miteinschließt«. Und genauso umfassend müssten ihre Gegenstände definiert werden: 1. »die Gesamterscheinung des Krieges«; 2. »die Gesamtheit der Dinge, Erscheinungen und Verhältnisse, die der Krieg berührt«; 3. »Raum und Zeit in ihrer Beziehung auf Krieg, Kriegführung und Vorbereitung des Krieges«. Da das alles nicht aus einem einzigen Blickwinkel betrachtet werden könne, teile sich die wehrwissenschaftliche Forschung in mehrere Subdisziplinen auf: Wehrgeschichte – Wehrgeographie – Wehrrecht – Wehrwirtschaftslehre – Wehrphilosophie – theoretische Wehrpolitik. Sie bildeten eine »Wissenschaftsgruppe […], die durch Stoff und Methode unter sich in einem untrennbaren und stärkeren Zusammenhang als zu den alten Fachdisziplinen der Geschichte, der Geographie usw.« stehe. Dieses aber sei etwas vollständig Neues.88
Oestreich befasste sich mit »Wehrgeschichte«, Niedermayer mit »Wehrgeographie« und »Wehrpolitik«. Geopolitik war und blieb sein bevorzugtes Thema. Durch Publikationen in der »Zeitschrift für Geopolitik« und anderen einschlägigen Organen holte er gewissermaßen seine fehlende wissenschaftliche Profilierung nach. Der Doyen der geopolitischen Forschung, Karl Haushofer in München, wurde sein väterlicher Freund. Schon 1935 wurde Niedermayer auf ministeriellen Druck hin zum Ordinarius berufen. Es handelte sich um eine Hausberufung, die die Fakultät von sich aus nicht eingeleitet hätte. Großzügig sah sie über die mangelnde Qualifikation des Kandidaten hinweg.89 Schon drei Jahre später besaß er sein eigenes Institut mit 40 Räumen und einem Stab von Mitarbeitern. Ein weiteres (für Heimatforschung) kam hinzu. Hier wie dort wurde multiperspektivisch, multidisziplinär, arbeitsteilig und manifest anwendungsorientiert geforscht. So entstanden zum Beispiel drei wehrgeographische Atlanten (über Frankreich 1939, Großbritannien 1940 und die Sowjetunion 1941) im Auftrag der Wehrmacht, in drei Angriffskriegen von unmittelbarem Nutzen. Man ist versucht, den Institutsbetrieb als modern zu bezeichnen.90
Niedermayer war in Berlin nie unumstritten. Seine unverhohlene Hochachtung vor den Errungenschaften der Sowjetunion rief die Kritiker auf den Plan. Aber seine Stellung war nicht so leicht zu erschüttern. Im November 1933 war er in die Partei eingetreten. Das SA-Sportabzeichen erwarb der allzeit sportive Offizier nebenher.91 Über Haushofer hatte er Verbindung zu Rudolf Heß und damit in die oberste Etage der nationalsozialistischen Elite. Ohne das Wohlwollen und die Unterstützung der politischen und militärischen Führung hätte er nicht in so kurzer Zeit solche Erfolge feiern können. Bei seiner seltsamen Berliner »Berufung« hieß es, er werde »an der Universität mit einem Riesenschwung […] im großen Dienst der NSDAP« durchgreifen.92 Damit war seine politische Zuverlässigkeit konstatiert. Mit dem Fall Erdmann befasste er sich in genau dieser Zeit. Er repräsentierte das Regime und ließ sich bei wachsender kritischer Distanz auf mancherlei – sachliche wie verbale – Kompromisse und Anpassungsleistungen ein.
Das Ende war schrecklich. Als deutsche Truppen die Sowjetunion überfielen und schließlich vor Moskau stecken blieben, zog Niedermayer erneut in den Krieg. Bald zum Generalmajor befördert, befehligte er eine Infanteriedivision, die sich überwiegend aus turkestanischen und kaukasischen Freiwilligen zusammensetzte. Damit hatte der Aufsteiger aus Bayern – nach dem persönlichen Adel und dem Ordinariat an der ersten deutschen Universität – ein weiteres bürgerliches Karriereziel erreicht.93 Ernst Jünger dagegen meinte, auf Niedermayer habe sich »das östliche Lebensgesetz« stark ausgewirkt, »seine Ideen, seine Taten und selbst sein Äußeres färbend«. Er verglich ihn mit dem (mit Carl Erdmann um zwei Ecken verwandten) »blutigen Baron« Roman von Ungern-Sternberg, der in den Wirren nach der Oktoberrevolution als »wiedergeborener Kriegsgott« ein irrwitziges Regime in der Mongolei aufgerichtet hatte.94 Kurz vor Kriegsende wurde Niedermayer wegen »wehrkraftzersetzender« Äußerungen verhaftet und verbrachte einige Monate im Gefängnis. Einem Prozess vor dem Volksgerichtshof entging er nur knapp. Als alles vorbei war, stellte er sich der Roten Armee und glaubte, sich auf alte Verbindungen verlassen zu können. Doch er wurde sofort verhaftet und in Moskau vor Gericht gestellt. Sein Lebensweg endete im Gulag. Ein letztes Foto zeigt einen gebrochenen Mann.95