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Carl Erdmann dagegen
ОглавлениеSieben Personen haben daran mitgewirkt, Carl Erdmann aus der Universität zu verdrängen. Es gibt einiges, was sie miteinander verbindet, anderes, was sie unterscheidet. Alle standen dem Nationalsozialismus sehr nahe. Doch nicht alle waren Mitglieder der NSDAP. Bieberbach trat erst 1938, Gleispach nie in sie ein. Nur zwei hatten sich ihr schon vor 1933 angeschlossen: Hoppe und Krüger. Das heißt jedoch nicht, dass die übrigen Parteigenossen »Märzgefallene« oder »Maiveilchen« gewesen wären. Der wohl entschiedenste Vertreter der »neuen Zeit«, der »glühende Nationalsozialist« Werner Reese, der gleichzeitig den generationellen Konflikt zwischen jungen Dozenten und arrivierten Professoren verkörperte,157 trat erst im November 1933 in die Partei ein. Karrierismus und Opportunismus (wörtlich: die Einfahrt in einen sicheren Hafen) waren gleichwohl allenthalben am Werk. Willy Hoppe nutzte die Gunst der Stunde, um endlich ein Ordinariat zu erlangen, Bieberbach, um sich als »Großinquisitor« aufspielen zu können. Krüger konnte die schwache Stellung seines Fachs kompensieren, Niedermayer ein ganz neues etablieren. Wiederum anders lagen die Verhältnisse bei Hermann Christern, der Erdmann den Lehrauftrag wegschnappte. Für ihn ging es um die berufliche und familiäre Existenz. Er nutzte die Situation, um überhaupt an der Universität bleiben zu können. Insofern hat Opportunismus viele Gesichter: Große Herren wollten noch größer werden; denn »ein rechter Kerl geht mit der Macht, zumal wenn sie wirkliche Macht ist«. Nur so konnte man »Preußischer Staatsrat« werden.158 Andere wollten nicht den Anschluss verlieren und weiterhin mitreden (»widerstandslose Mitrederei«, wie Thomas Mann das nannte159) und vielen blieb nichts anderes als Anpassung übrig, wollten sie nicht gänzlich auf Laufbahn und Karriere verzichten. Natürlich war immer auch Ehrgeiz im Spiel, nach Cicero das schlimmste aller Übel, für Thomas von Aquin eine Sünde, bei Max Weber bloße »Selbstberauschung«,160 aber gerade an den Universitäten ein stets präsenter, nie zu unterschätzender Faktor.
Das alles wirft Licht auf die allgemeine Entwicklung, wie sie auch anderswo stattfand, aber in der Reichshauptstadt besonders hervortrat. In kürzester Zeit veränderte die Universität ihr Gesicht. Politisch missliebige und jüdische Wissenschaftler mussten sie verlassen. Nationalsozialistische oder anpassungswillige traten an deren Stelle. Parteigenossen nahmen die Schaltstellen der Macht ein. Neu geschaffene Organe wie Dozentenschaft und Dozentenbund erhielten erheblichen Anteil an ihr. Es kam darauf an, sich mit ihnen zu arrangieren. Gleichzeitig ließ man sich auf neue Grundsätze und Leitbilder verpflichten. Bekanntlich hatte der Nationalsozialismus mit bloßer Gelehrsamkeit nie etwas im Sinn. Das Geschimpfe auf die Büchermenschen, Brillenträger und bleichgesichtigen Stubenhocker war ubiquitär und hörte nicht auf. Man hielt sie für »geistreiche Schwächlinge«, unfähig, die ihnen von der Gegenwart gestellten Aufgaben zu erfüllen.161 Der »Führer« hätte auf die Intellektuellen sogar ganz verzichten können.162 Gefordert wurde eine Wissenschaft, die sich dem »wirklichen« Leben zuwandte, der Volksgemeinschaft diente und der Politik zur Verfügung stand. Der »Absprung zu politischem Handeln« wurde schon seit einiger Zeit von ihr verlangt. Jetzt erscholl der Ruf nach der »politischen Hochschule« immer lauter.163 Nicht mehr Forschung, sondern Erziehung, nicht mehr die geistreiche Debatte, sondern praktisches Handeln, »die Tat«, sollte von nun an im Vordergrund stehen. Der »Tatmensch mit Scheuklappen« war jetzt gefragt.164
Der Pädagoge und Philosoph Alfred Baeumler, der Universität vom Ministerium aufgenötigt und seitdem einflussreich, erklärte – Aristoteles mit dem Nationalsozialismus vermengend – der universitären wie der allgemeinen Öffentlichkeit, dass es darauf ankomme, den Menschen zum politischen Soldaten zu erziehen; denn seinem Wesen nach sei er »aktiv, arbeitend, gestaltend«, nicht aber »betrachtend, verstehend, kontemplierend«. Der »politische Mensch« sei daher immer ein »kämpfender Mensch«, der Theoretiker dagegen zu nichts zu gebrauchen, wenn nicht gar eine Fiktion.165 Natürlich waren die Naturwissenschaften und alles, was mit Technik zu tun hatte, im Vorteil, wenn es darum ging, praktische Effekte zu erzielen. Alle anderen aber mussten sich darum bemühen, ihre Nützlichkeit für politische, militärische und andere naheliegende Zwecke plausibel zu machen. »Dem Führer entgegen arbeiten« war also – wie überhaupt im nationalsozialistischen Staat – auch hier die Devise, Selbstmobilisierung das Ziel.166 Wenn sie ihnen gelang, durften auch Wissenschaftler mit Anerkennung und Förderung rechnen. Das ist der Grund, weshalb etwa Niedermayers wehrwissenschaftliches Institut so viel Aufmerksamkeit und Mittel erhielt. Wissenschaft hatte anwendungsorientiert und gegenwartsbezogen zu sein, je offenkundiger, desto besser. Man berief sich auf die »Forderung des Tages« und wähnte sich im Recht, wenn man Goethe zitierte.
Die meisten nutzten die Situation zu ihrem Vorteil, machten willig bis unwillig mit oder duckten sich weg. Das gilt für Berlin und war an den anderen Universitäten nicht anders. Erich Caspar meinte einmal gegenüber Carl Erdmann, die gesamte Hochschullehrerschaft habe »ihren ›Männerstolz vor Königsthronen‹ zwecks besserer Aufbewahrung für die Zukunft beiseite gelegt«.167 Ein Jahr später nahm er sich das Leben. Gerade die von Ausgrenzung und Vertreibung Betroffenen waren im Recht, wenn sie der deutschen Intelligenz einen Mangel an Mut vorwarfen.168 Schillers Worte, mit denen Caspar mehr Zivilcourage verlangte, und das Beispiel der Göttinger Sieben stellten nur noch ferne Erinnerungen dar, die mit der Gegenwart nichts zu tun hatten. Caspars Kollege Fritz Hartung hielt sämtliche Professoren für feige, tat aber ebenfalls nichts, »was den Verdacht der Märtyrerneigung begründen könnte«.169
Immerhin gab es ein paar Ausnahmen: einen jungen Pharmakologen, der den Ruf auf ein Ordinariat ablehnte, weil er die Ausschaltung der jüdischen Wissenschaftler als Unrecht empfand; einen anderen Pharmakologen, der sich gegenüber dem Minister gegen eine politisierte Universität und für die internationale Wissenschaft aussprach; einen Germanisten, der eine regierungskritische Denkschrift einreichte. Fritz Hartung wehrte sich gleichsam mit Händen und Füßen gegen unqualifizierte Pg.s wie Hoppe oder Six in Akademie und Fakultät. Eduard Spranger, prominent, Philosoph und Pädagoge, probte den Widerspruch, als er aus Protest um seine vorzeitige Emeritierung bat, wenig später aber wieder vom Rücktritt zurücktrat. Es gab Akte der demonstrativen Nichtanpassung und Akte der solidarischen Hilfeleistung für Schüler und Kollegen.170
Und es gab den Privatdozenten Carl Erdmann, der seine Lehrberechtigung verlor, da er als politisch untragbar galt. Der weite Umweg über die Intrigen seiner Feinde hat gezeigt, welcher Anpassungsbereitschaft und auch Skrupellosigkeit es bedurfte, um im »Dritten Reich« Karriere zu machen. Dadurch wurde deutlich, was dem Erfolglosen fehlte. Erdmanns Verhalten lässt sich besser würdigen, wenn man es mit dem seiner Widersacher vergleicht und zudem die lange Reihe der Opportunisten, Mitläufer und Leisetreter bedenkt. Er befand sich nie in der Gefahr, der Faszination Hitlers und dem schönen Schein der »neuen Zeit« zu erliegen. Da er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt, musste er mit ihr anecken. Zweifellos hätte er sich geschickter anstellen können. Manches Mal hätte er besser geschwiegen oder weniger deutliche Worte gebrauchen sollen. Leere Verbindlichkeit war nicht seine Art. Auch er legte eine gewisse Unbedingtheit an den Tag; doch meinte er es damit anders als Werner Reese.
Zu Erdmanns Schwierigkeiten trug außerdem bei, dass sich die personelle Zusammensetzung der Berliner Universitätshistorie weiter zügig verändert hatte. Auf Hermann Oncken folgte A. O. Meyer, der ebenso wie der andere Neuzeithistoriker Fritz Hartung zum nationalkonservativen Lager gehörte, sich aber mit seinen Untersuchungen zum deutschen Volkscharakter und Nationalgefühl empfohlen und den neuen Herren akzeptabel gemacht hatte. Friedrich Meineckes Lehrstuhl nahm ab 1936 Wilhelm Schüßler ein, der zwar keiner Partei angehörte, auch der NSDAP nicht, aber eine großdeutschnationalistische Perspektive vertrat und – wie es einmal in einer Beurteilung hieß – den neuen politischen Verhältnissen »durchaus positiv« gegenüberstand.171 An die Stelle des Osteuropahistorikers Otto Hoetzsch, der als »Salonbolschewist« galt, trat der gebürtige Österreicher Hans Uebersberger, der seit 1932 der NSDAP angehörte,172 und Erich Caspar, Erdmanns Förderer und Gönner, wurde durch den Hanse-Historiker Fritz Rörig ersetzt, der »pflichtmäßig« seinen Forschungsgegenstand der »neuen Zeit« anpasste. Die NS-Dozentenschaft bescheinigte ihm, dass er sich »um die Durchdringung seines eigenen Denkens mit nationalsozialistischem Geist« bemühe.173 Der hilfswissenschaftliche Lehrstuhl blieb lange unbesetzt, der landesgeschichtliche mit dem »Alten Kämpfer« Willy Hoppe kam neu dazu. Es ist bezeichnend, wie distanziert Friedrich Meinecke über Meyer und Hartung urteilte: Sie »lavieren«.174 Ein anderer Zeitzeuge hielt von den damals aktiven Historikern nur Robert Holtzmann für »standhaft«.175 Erdmanns Position in der Universität wurde somit zusehends prekär. Von den Professoren, die seine Habilitation unterstützt hatten, war gerade noch Holtzmann im Amt. Von den anderen konnte er wenig erwarten. Seine Lehrbefugnis galt als »ruhend«. Im Personalverzeichnis der Universität wurde er nicht weiter geführt und auch in »Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender«, dem biographischen Lexikon der akademischen Welt und Gradmesser wissenschaftlicher Geltung, erschien sein Name nicht mehr. Wie so viele andere politisch missliebige oder rassisch verfemte Gelehrte hatte er dort keinen Platz mehr.176
Dessen ungeachtet durfte er weiter publizieren. Wissenschaftliche Werke mit ihrem begrenzten Leserpotenzial blieben fürs Erste eine harmlose Textgattung, die kein Zensor ernst nehmen musste. Absoluten Vorrang hatte die Publikation der Habilitationsschrift. Die »Entstehung des Kreuzzugsgedankens« befand sich mitten im Druck, als sich die Lage des Privatdozenten Carl Erdmann immer mehr zuspitzte. Das hatte keine Folgen für den Inhalt, wohl aber für die äußere Erscheinung des Buchs. Wir erinnern uns: Es war aus der Beschäftigung mit den hochmittelalterlichen Papsturkunden erwachsen und verknüpfte die weitgestreuten Kenntnisse des Verfassers (Papstgeschichte, Portugal, Spanien, Italien) miteinander. Bezüge zur Gegenwart stellte es nicht her und Handreichungen zu deren Deutung durfte man von ihm nicht erwarten. Erdmann freute sich zwar (oder erschrak), wenn sein Thema durch neuere politische Entwicklungen scheinbar aktuelle Bedeutung erhielt, wenn etwa Papst Pius XI. die Frage aufwarf, ob der Krieg in Äthiopien ein gerechter Krieg sei, oder wenn spanische Bischöfe im Bürgerkrieg zu einem Kreuzzug gegen den Kommunismus aufriefen.177 Auch durfte er hoffen, einen Druckkostenzuschuss zu ergattern, weil die Kreuzzugsgeschichte »immerhin etwas mit dem ›Wehrgedanken‹ zu tun hat«.178 Bewusst habe er zwei Passagen eingefügt und so auf »die Ungeeignetheit des Kreuzzugsgedankens für Deutschland« hingewiesen, um vor einem neuen Weltkrieg zu warnen.179 Doch dabei handelte es sich um nachträgliche, zum Teil verwegene Aktualisierungen eines historischen Gegenstands, die kaum jemandem auffielen. Den Niedergang des sogenannten Dritten Reichs hat er damit sicher nicht prognostiziert.180 Dagegen spricht die ganze Entstehungsgeschichte des Buchs. Auch den Begriff der Revolution, seinerzeit wichtig und von anderen auf die »Papstrevolution« Gregors VII. angewandt, gebrauchte er erst im allerletzten Satz und ohne den Anspruch, damit die ganze Epoche zu deuten. Art und Charakter seines Buchs erschließen sich dadurch nicht. Es wurde nicht mit Blick auf die Gegenwart geschrieben und es ließ sich nicht auf aktuelle Fragen anwenden. Dieses Kriterium »moderner«, sprich: nationalsozialistischer Geschichtsschreibung erfüllte es nicht.
Umso mehr überrascht die wuchtige Widmung:
Dem Andenken meines Vaters
der 1893 seine Dorpater Professur verlor,
weil er seiner Muttersprache treu blieb
und meiner beiden Brüder
die 1914 und 1916 fielen
gewidmet im unerschütterten Glauben
an die Zukunft des deutschen Geistes.
Die meisten Buchwidmungen stellen persönliche Beziehungen zur Schau, Beziehungen zu einem Mentor oder Gönner, zur Familie des Autors oder zu sonst einem ihm nahestehenden Menschen.181 Sie können aber auch politische oder weltanschauliche Bekenntnisse enthalten. In aller Regel werden sie zwischen dem Abschluss des Manuskripts und dem Ende der Drucklegung formuliert. So wird es auch hier gewesen sein, also irgendwann zwischen Juli 1934 und Herbst 1935. Es ist derselbe Zeitraum, in dem Erdmann aus der Universität gedrängt und seine akademische Laufbahn abgeschnitten wurde. Es liegt auf der Hand, dass zwischen beiden Vorgängen ein innerer Zusammenhang besteht.
Erdmann wollte ganz bestimmt nicht die Verdienste seiner Familie öffentlich machen und auch nicht seine emotionalen Bindungen herausstellen. Es ging ihm um die nationale Tradition, in der er sich und seine Angehörigen sah. Sein Vater hatte dafür seinen Beruf, seine Brüder ihr Leben hingegeben. Er selbst erhob den Anspruch, dass sie dem nationalen Konservatismus gehöre und nicht denen, die sie sich jetzt aneignen wollten, den Nationalsozialisten. Nur dort, nicht bei diesen sah er die »Zukunft des deutschen Geistes«. Darüber habe er sich nicht erst seit gestern, sondern schon lange Gedanken gemacht.182 Die auf sieben Zeilen verteilte und auch dadurch so augenfällige Widmung muss als Reaktion auf seine Erfahrungen der letzten zwei Jahre, insbesondere seinen politisch begründeten Rauswurf aus der Berliner Universität verstanden werden. Seine Briefe geben wieder, wie die Intrige ihn zunehmend erboste. Die ausladende, nicht enden wollende Widmung stellt Erdmanns zornige Antwort dar.