Читать книгу Sallys Song - Frank Hoyer - Страница 12

Margeriten

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Nur wenige Wochen zuvor hätte er dem blonden Engel nicht widerstehen können, das wusste David ebenso gut wie Bob, und es hätte ja auch gar keinen Grund dafür gegeben. Aber das war eine bedeutungslose Spekulation, denn diese Begegnung hatte den Gedanken, es mit Silya bloß nicht zu verpatzen, nur umso eindringlicher gemacht. Sie füllte sein Herz mit Wärme, und es war ihm ganz egal, dass das sogar in seinen eigenen Ohren wie die Zeile eines schlechten Popsongs klang.

Er gab ihre Adresse in das Navigationssystem ein und folgte der Stimme, die ihn zunächst aufforderte, bei der nächsten Möglichkeit zu wenden. Es war gut, nicht über den Weg nachdenken zu müssen und einfach den klaren Anweisungen zu folgen. Die unbeirrbare Ruhe der Stimme übertrug sich auf ihn selbst, sodass die Zweifel, die in ihm tobten, mit jedem gefahrenen Meter stetig kleiner wurden. Es war etwa vier Uhr, als er das einprogrammierte Ziel erreichte. Travoltas Beine zuckten im Schlaf, so als träumte er vielleicht davon, einem Kaninchen hinterher zu jagen. David parkte am Straßenrand, stieg aus und ging auf einen gigantischen Klotz aus Beton zu. Im Internet hatte er gelesen, dass das Le-Corbusier-Haus als Meilenstein der Architekturgeschichte galt, zumindest was die Nachkriegszeit Berlins betraf. Aus Neugierde zählte David die siebzehn Stockwerke. Er bemerkte, dass die Grünanlage sauber und gepflegt war und die sonst allgegenwärtigen Graffitis fehlten. Im Eingangsbereich hing eine riesige Tafel, auf denen die Bewohner verzeichnet waren, viele mit Doktortitel und einige Professoren. Es musste über fünfhundert Wohnungen in dem Gebäude geben und David brauchte eine ganze Weile, bis er Silyas Namen fand.

Es war natürlich viel zu früh, um bei ihr zu klingeln. Vielleicht war es besser, wenn er einfach unten vor der Tür wartete. Dann würde er ihr nicht über die Sprechanlage erklären müssen, was er wollte, außerdem konnte man bei diesen Dingern meistens sowieso kein Wort verstehen. Er sah sich nach einer Parkbank um, konnte aber keine entdecken. Wie lange würde er warten müssen, bis sie zu ihrer morgendlichen Joggingrunde startete? Zwei Stunden mindestens, überlegte er, aber wahrscheinlich weniger als drei, wenn sie um acht Uhr im Büro sein wollte. Ob es einen weiteren Ausgang gab? Bei der Größe des Gebäudes war das zumindest nicht ausgeschlossen und er wollte nicht das Risiko eingehen, dass er sich hier die Beine in den Bauch stand, während sie das Haus möglicherweise durch eine Tiefgarage verließ, von der er nicht mal wusste, ob es sie überhaupt gab. Unschlüssig darüber, was er tun sollte, starrte er auf Silyas Namensschild, als plötzlich die Tür von innen geöffnet wurde. Eine ältere Dame führte zwei angeleinte Siamkatzen zu einem Spaziergang aus.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte sie streng, als David schnell einen Fuß in den Türspalt stellte. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Ist ja auch ein großes Haus«, meinte David. Er setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffe, dass es vertrauenswürdig aussah. Außerdem klimperte er mit seinem Schlüsselbund, den er aus der Hosentasche zog. »Und ich wohne erst seit kurzem hier.«

»Das ist Unsinn, junger Mann. Außer einem wirklich entzückenden Fräulein ist in den letzten drei Monaten niemand eingezogen.«

Der Blick, den sie auf David richtete, ließ ihn wissen, dass es von seiner Antwort abhing, ob sie ihn ins Haus lassen oder die Polizei rufen würde. Sie mochte bereits weit über achtzig Jahre alt sein, wie er schätzte, aber sie war augenscheinlich nicht auf den Kopf gefallen.

»Ich bin der Bruder des Fräuleins«, sagte er. »Sie heißt Silya Frey. Ich wohne nur vorübergehend bei ihr.«

»Den Namen haben Sie eben von der Klingel abgelesen, junger Mann.«

»Nein, habe ich nicht. Wie hätte ich wissen können, von wem Sie sprechen?«

»Sie sehen Ihrer Schwester so gar nicht ähnlich.«

»Ich weiß. Aber wir haben beide die gleichen blauen Augen.«

Silyas alte Nachbarin blinzelte David durch eine fingerdicke Brille an. »Das stimmt allerdings«, entschied sie. Um die zunehmend ungeduldig werdenden Katzen zur Räson zu bringen, ruckelte sie an der Leine. »Aber Sie sind viel kleiner. Und zu dick sind Sie ebenfalls.«

»Das ist offensichtlich so«, sagte David matt. Er hatte kaum mehr Hoffnung, an diesem weiblichen Zerberus vorbei zu kommen. Jedenfalls nicht ohne den Einsatz erheblicher Gewalt.

»Sie sollten regelmäßig Turnübungen absolvieren, junger Mann. In Ihrem Alter darf man sich nicht so gehen lassen.«

»Ja«, erwiderte David nur. Er war müde und fror in seinem dünnen T-Shirt, obwohl die Temperatur auch nachts kaum unter zwanzig Grad sank.

»So, nun haben Sie mich aber lange genug aufgehalten. Ich habe nicht ewig Zeit für diese Plauderei.« Sie wies ihn ungeduldig zur Tür. »Ja, nun gehen Sie schon. Worauf warten Sie?«

Eigentlich wollte er gar nicht in das Haus. Den Fuß in den Türspalt zu stellen, na ja, das war mehr aus einem spontanen Impuls heraus geschehen, weniger mit einer konkreten Absicht. Er konnte unmöglich mitten in der Nacht vor Silyas Wohnung auftauchen. Aber wenn er weiter zögerte, würde die Nachbarin schließlich doch die Polizei verständigen. Er spürte ihre Blicke in seinem Rücken, als er die Glastür hinter sich zufallen ließ und durch einen mit Steinfliesen ausgelegten Flur ging. Auf der rechten Seite gab es einen Fahrstuhl, dessen Türen offen standen. Er ging hinein und drückte einen Knopf, der ihn in die siebte Etage brachte.

Als er ausstieg, erstreckte sich vor ihm ein schmaler Flur, der mindestens hundert Meter lang war, vielleicht hundertfünfzig. Von den niedrigen Decken strahlte kaltes Neonlicht auf nacktes Linoleum. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, da er das Gefühl hatte, das Geräusch seiner Schritte würde sämtliche Bewohner der Etage wecken. Nirgends gab es ein Fenster. Die Wohnungstüren waren in exakt gleichen Abständen angeordnet. Er hatte keine Ahnung, welche architektonische Wirkung Le Corbusier damit erreichen wollte, aber für ihn sah das alles nach billigem Sozialen Wohnungsbau aus. In David kam die Frage auf, warum Silya hier wohnte, und er konnte sich darüber hinaus keinen einzigen Grund vorstellen, warum überhaupt irgendjemand freiwillig an einem Ort lebte, der ihm wie eine in Beton gegossene Disharmonie erschien.

Unten, kurz bevor er von dem Zerberus überrascht worden war, hatte David sich die Nummer von Silyas Wohnung eingeprägt. Da er nun schon einmal hier war, gab er dem Bedürfnis, ihr nahe zu sein, nach und folgte den Ziffern, die neben jeder Tür mit schwarzer Farbe auf die Wand gemalt waren. Am Ende des Ganges lag vor der letzten Tür ein Gegenstand, der das flackernde Licht einer defekten Neonröhre reflektierte. Beim Näherkommen erkannte er, dass es ein in Cellophan verpackter Blumenstrauß war, und als er schließlich davor stand, musste er nicht erst lange raten, um Klarheit darüber zu erlangen, wer die rosafarbenen Orchideen dort hingelegt hatte. Rutters Visitenkarte steckte zwischen den Blüten. Auf der Rückseite bat er Silya darum, ihm bei Gelegenheit mitzuteilen, welches ihre Lieblingsblumen seien.

»Margeriten«, sagte David leise. »Sie mag Margeriten, du Idiot!«

Er verließ das Haus und ging zum Auto, wo er den Blumenstrauß in den Kofferraum warf. Er durchsuchte Bobs Sachen nach irgendwelchen Farbstiften, fand aber lediglich ein paar Kugelschreiber, die in der Brusttasche eines Arztkittels steckten, jedoch für die Umsetzung der Idee, die ihm vor Silyas Wohnung in den Kopf gekommen war, ungeeignet waren. Lackfarbe in Spraydosen wäre am besten gewesen, nur hatte er keine Ahnung, wo so etwas um diese Uhrzeit aufzutreiben war, und mit dicken Faserschreibern, Eddings oder so, müsste es auch funktionieren. Aber die Zeit drängte. Das Navigationssystem zeigte in der näheren Umgebung vier Tankstellen an, die David der Reihe nach abklapperte. In der letzten fand er endlich, was er brauchte.

Als er dieses Mal aus einer anderen Richtung zu dem Haus zurückkehrte, erkannte er Silyas abgestellten Wagen am Straßenrand. Das war gut, denn so brauchte er sich keine Gedanken um weitere Ein- und Ausgänge oder das mögliche Vorhandensein einer Tiefgarage zu machen. Er stellte den BMW ab, nahm die Tüte mit den Einkäufen und ging zu der Haustür, die er bereits kannte. Zunächst hoffte er bloß, dass es zu keiner erneuten Begegnung mit dem Zerberus kommen würde, aber als er nach zwanzig Minuten vergeblichen Wartens keinen Schritt weiterkam, hätte er nur allzu gerne eine weitere Diskussion über sein Gewicht angefangen. Wenn nicht bald jemand kam, würde er die ganze Sache abblasen müssen. Hinter keinem von den Tausenden Fenstern wurde ein Licht eingeschaltet, nirgendwo bellte ein Hund, kein Auto fuhr vorbei und die Ruhe machte ihn ganz unruhig, da half auch hin und her laufen nichts.

Nach weiteren zehn Minuten traf David eine Entscheidung. Er ging zum Auto zurück und zog den zerknitterten und mit Flecken übersäten Arztkittel an, den er im Kofferraum gefunden hatte. Über der Brusttasche war der Name des Krankenhauses aufgedruckt, außerdem war da noch ein Schildchen mit Bobs Namen, das David aber abnahm und in die Tasche steckte. Wenn es gut lief, war die Maskerade unnötig, doch andernfalls würde sie ihn vielleicht ein Stück weiter bringen.

Er schellte bei einem Mieter in der obersten Etage. Es dauerte überraschend kurz, bis eine verschlafene Stimme nach dem verdammten Grund der nächtlichen Störung fragte. Er sei Arzt, sagte David mit einem ruhigen, aber dennoch dringlichen Tonfall in das Mikrofon der Gegensprechanlage, und er sei zu einem Notfall gerufen worden, doch es würde niemand die Haustür öffnen.

»Und was bringt das, wenn ich Ihnen öffne?« fragte die Stimme, die schlagartig wach klang. »Wenn der Notfall, wie Sie sagen, nicht selbst öffnen kann, dann stehen Sie doch spätestens vor der Wohnungstür vor demselben Problem.«

»Sicher. Aber das ist ein Problem, um das ich mich kümmern werde, wenn es soweit ist. Wenn ich nicht in die Wohnung komme, kann ich immer noch die Feuerwehr rufen und die Tür aufbrechen lassen.«

»Wie heißen Sie?«

»Mein Name ist völlig irrelevant. Weniger irrelevant wird mein Bericht sein, in dem Ihr Name im Zusammenhang mit unterlassener Hilfeleistung genannt wird. Wenn der Patient stirbt, liegt dieser Bericht noch heute bei der Staatsanwaltschaft.«

Die Stimme schwieg. David dachte schon, die dazugehörige Person wäre wieder zurück ins Bett gegangen, als die Tür plötzlich mit einem Summton aufging.

»Vielen Dank«, sagte David und fuhr mit dem Aufzug in Silyas Etage. Er hatte keine Zeit mehr zu vergeuden. Vor ihrer Wohnung packte er eilig die Einkäufe aus der Tüte: Schokoladenkekse, zwei Dosen Cola und ein kleiner Eimer aus durchsichtigem Plastik, in dem sich zwanzig Stücke Kreide befanden. Er hatte weiße Kreide für die Blütenblätter, vier verschiede Gelb- und Orangetöne, ein helles und ein dunkles Grün. Den Arztkittel stopfte er in die Tüte, ebenso die restlichen Farben, mit denen er nichts anfangen konnte. Er aß einen Keks und spülte ihn mit Cola runter. Dann nahm er ein Stück gelbe Kreide und malte, auf dem Boden kniend, einen Kreis, der etwa so groß wie ein Tamburin war. Er malte weitere Kreise, einige etwas größer, andere kleiner und füllte sie mit gelber Farbe aus. Kurz experimentierte er mit einem knalligen Orange, um den Blütenkelchen so eine dreidimensionale Form zu geben, ließ es aber schnell wieder bleiben, nachdem die flüchtige Betrachtung des Werkes keine Zweifel über seine gestalterische Talentlosigkeit zuließ. Er malte weiße Blätter, die das Niveau eines Kindergartenkindes kaum erreichten. Anstatt die freien Flächen zwischen den Margeriten mit grünen Blättern aufzufüllen, so wie er es eigentlich geplant hatte, wischte er aus Zeitmangel mit der breiten Seite eines Kreidestücks lediglich amorphe Kleckse auf das Linoleum. Die künstlerische Wirkung, so befand er im Zurücktreten und bei einem Keks mit Cola, entwickelte sich in diesem Falle weniger aus den Details, sondern musste losgelöst von der konventionellen Idee einer formgebenden Gestalt verstanden werden.

David nahm rote Kreide aus der Tüte und fügte Herzen in das Bild ein. Wenn schon Kitsch, dachte er lächelnd, dann richtig. Während er die grandiose Schmiererei vor Silyas Tür auf über zehn Quadratmeter ausweitete, hielt er zwischendurch immer mal wieder kurz inne, um bewusst die Geräusche im Haus wahrzunehmen. Etwa um fünf Uhr dreißig meinte er, einen Wecker in Silyas Wohnung zu hören. Schnell beendete er die Aktion. Er war von Kopf bis Fuß mit Kreidestaub bedeckt und sah zum Fürchten aus. Um Silya nicht zu erschrecken, wollte er lieber draußen auf sie warten.

Im Kofferraum des BMW lag ein kleiner Kanister destilliertes Wasser. Er säuberte Hände und Gesicht so gut es eben ging und klopfte den Kreidestaub aus Haaren und Kleidern. Trotz der Morgensonne war ihm ein bisschen kalt, aber um das Geräusch von Silyas Schritten nicht zu verpassen, ließ er die Scheibe der Fahrertür bis zum Anschlag nach unten surren. Den elektrisch verstellbaren Außenspiegel stellte er so ein, dass er das gesamte Gebäude im Blick hatte. In Gedanken probte er die Worte, die er Silya sagen wollte, und hoffte dabei doch, dass sie einfach zwei und zwei zusammenzählen und ihm um den Hals fallen würde. Er schloss die Augen, um sich das besser vorstellen zu können, nur kurz, denn er durfte jetzt bloß nicht einschlafen, müde wie er war, und lange konnte es ja auch gar nicht mehr dauern, bis Silya mit ihrem Lauftraining startete. Wenn sie argumentierte, dass sie seine Vorgesetzte sei und deshalb nichts mit ihm anfangen könne, würde er ohne jedes Zögern den Job kündigen. Er würde es ihr sanft ins Ohr flüstern. Er würde sie umarmen und küssen. Alles würde einfach gut sein. Er musste nur seine Augen noch etwas ausruhen. Nur einen Moment. Nur ein klein wenig.

Sallys Song

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