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Der erste Traum

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Manche Menschen träumen fast jede Nacht und erinnern sich an jeden einzelnen Schritt, den sie während dieser imaginären Reisen machen. Andere hingegen träumen seltener, vielleicht nur sporadisch, und auch die Erinnerungen sind dann oft flüchtig, blass und weniger detailreich. Und dann gibt es noch diejenigen, bei denen im Moment des Erwachens jegliche Erinnerung erlischt, jedes Bild und jedes Gefühl, weshalb sie sagen, dass sie niemals träumen.

David Blohm hätte, was seine ersten vierundzwanzig Lebensjahre betraf, gar nicht genau sagen können, zu welcher Gruppe er eigentlich gehörte. Als Kind hatte er viel geträumt, als Jugendlicher immer seltener, und in den letzten Jahren waren die Träume ganz ausgeblieben, zumindest die Erinnerung daran.

Aber seit Kurzem war das wieder anders. Seit vier Wochen, um genau zu sein. David träumte jetzt jede Nacht von Silya, die so plötzlich in seinem Leben aufgetaucht war, und immer war es der exakt gleiche Traum. Er liebte diesen Traum, der sehr viel lebhafter war als jeder andere, den er jemals zuvor in seinem Leben gehabt hatte. Und er hatte sich auch niemals zuvor so unsterblich in ein Mädchen verliebt.

Wenn er abends einschlief, freute er sich bereits darauf, wieder im eleganten »Ferrari’s« zu sein. Der Name des Clubs leuchtete in geschwungener blauer Neonschrift über der Bühne, auf der ein aus zwanzig Musikern bestehendes Orchester die »Moonlight Serenade« von Glenn Miller spielte. Die Atmosphäre erinnerte David an Revuefilme aus den 30er Jahren. Er hätte keinen Grund dafür nennen können, aber für ihn war dieser traumhafte Ort fest mit dem Jahr 1937 verbunden, obwohl es einige Details gab – Mobiltelefone und digitale Armbanduhren etwa -, die nicht in diese Zeit passten. Tatsächlich sollte sich aber erst einige Tage später überhaupt ein Grund für David ergeben, um über diesen Aspekt nachzudenken, und bis zu diesem Zeitpunkt gab er sich einfach der beglückenden Illusion hin.

Eine junge Verehrerin (das Wort »Fan« gab es noch nicht oder war zumindest kein Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs) bat ihn um ein Autogramm, wozu sie ihm auch gleich das Etikett einer Sektflasche entgegenhielt. Er hieß Dave Bloom, nicht David Blohm, jedenfalls unterschrieb er ohne jedes Zögern und ohne selbst darüber verwundert zu sein mit diesem Namen. Auch seine Begleiterin sprach ihn bereits den ganzen Abend so an, was ihm nur recht sein musste, denn er selbst nannte sie nicht Silya, sondern Sally.

Sie trug ein schulterloses Kleid aus einem weißen glänzenden Stoff, der die Blässe ihrer Haut betonte. Ihr einziger Schmuck bestand aus Margeritenblüten, die kunstvoll in die blonden Haare eingeflochten waren, und dann war da noch ein Tattoo über ihrem Dekolleté: ein kleiner Delfin. In seinen Augen war sie bezaubernd schön. Er selbst trug einen gut geschnittenen Smoking, der seinen Bauchansatz perfekt kaschierte, und dazu hatte er ein selbstsicheres Lächeln aufgesetzt, mit dem er die begehrenden Blicke der Männer an den anderen Tischen zurückwies. Aber er verstand nur zu gut, dass sie Sally anstarrten - er konnte es ja selbst nicht lassen.

Das Orchester spielte jetzt einen Titel von Benny Goodman, wobei die Musiker von den älteren Gästen des Clubs, die dem modernen Sound bislang nichts abgewinnen konnten, skeptisch betrachtet wurden. Die jungen Leute aber waren begeistert und verließen die Tanzfläche nur, um ein Glas Champagner zu trinken oder die Mailbox zu checken. Im Sommer 1937 waren Champagner-Cocktails und die neuen Smartphones absolut hip. Als der Schlussakkord gespielt wurde, betrat Marco Ferrari die kurze Treppe, die auf die Bühne führte, und wie auf ein geheimes Zeichen hin erhoben sich alle Musiker gemeinsam von ihren Stühlen. Trotz seiner untersetzten Statur waren Ferraris Bewegungen von einer lässigen, ja fast arroganten Eleganz. Das bleistiftdünne Menjoubärtchen wirkte seltsam deplatziert in den groben Zügen seines Gesichtes. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Klarinettisten ging er in die Bühnenmitte, wo ein Mikrofon an einem Kabel von der Decke herabgelassen wurde. Die Paare auf der Tanzfläche wandten ihre Aufmerksamkeit dem Inhaber des Clubs zu, der zweimal kurz auf die Membran des Mikrofons klopfte, woraufhin auch die übrigen Gäste nach und nach verstummten.

»Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde«, sagte Ferrari mit dem leichten Anflug eines Akzents, der seine südländische Herkunft erahnen ließ. »Ich freue mich, Sie alle hier begrüßen zu können, und es ist mir eine Ehre, Ihnen heute Abend einen ganz besonderen Gast vorzustellen. Eine Künstlerin, deren Karriere im Ferrari’s begonnen hat und die man heute in den Konzertsälen von Berlin bis New York kennt, schätzt und liebt. Meine Damen und Herren: Sally Frey!«

Sofort setzte frenetischer Applaus ein. Nach einem flüchtigen Kuss auf Daves Wange ging Sally mit einem Lächeln auf die Bühne. Ferrari sagte noch ein paar Worte, die allerdings im Lärm des Publikums untergingen, umarmte Sally kurz und überließ ihr dann das Mikrofon. Die erste Trompete stieß einen langgezogenen Klang aus, der an eine Sirene erinnerte und den großen Saal bis in den letzen Winkel ausfüllte. Der Klarinettist spielte das Leitmotiv von »Sallys Song«, die Menge beruhigte sich allmählich, und zusammen mit dem Orchester griff Sally die von der Klarinette vorgegebene Melodie auf.

Daves Blick hing wie gebannt auf ihrem Gesicht. Er war stolz und glücklich, von dieser Frau geliebt zu werden. In diesem Moment, in dem sie seiner Komposition Leben einhauchte, war Sallys Stimme für ihn die ganze Welt - bis sie unvermittelt durch den nervigen Klingelton eines Handys zum Einsturz gebracht wurde und ...

... er in seinem Bett aufwachte.

David wartete darauf, dass das elektronische Piepsen irgendwann einfach von selbst aufhörte. Aber nach einer Minute gab er diese Hoffnung auf. Er wusste genau, wer ihn aus seinem Traum gerissen hatte. Nur Bob war so penetrant hartnäckig. Allerdings musste David zugegeben, dass der Freund es eben wegen dieser Hartnäckigkeit geschafft hatte, sein Studium in Rekordzeit abzuschließen. Ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Mit geschlossenen Augen suchte er nach dem schnurlosen Telefon, das irgendwo links von ihm auf dem Boden liegen musste. Seine Finger tasteten mehrere Stapel aus Büchern, CDs und Notenblättern ab, bis er dann schließlich direkt in Travoltas nasses Maul griff. Der Hund, eine kuriose Mixtur aus Labrador und Pudel, leckte die Hand mit freudiger Begeisterung.

David öffnete nun doch die Augen. Unter einem zusammengeknüllten T-Shirt, an dem er zunächst Travoltas Sabber abwischte, fand er das Telefon endlich. Obwohl bereits zwei Minuten vergangen waren, piepste es unaufhörlich weiter. Auf dem Display wurde eine unbekannte Rufnummer angezeigt. Wahrscheinlich rief Bob von einem Apparat in der Klinik an.

»Was ist los, Doc?«

»Woher weißt du, dass ich es bin?«, fragte am anderen Ende der Leitung eine Stimme mit breitem Grinsen.

»Tja, woran könnte das wohl liegen, Bob? Vielleicht daran, dass du der einzige bist, der es dreißigmal klingeln lässt? ... Wie spät ist es eigentlich?«

»Gleich zehn.«

Ohne ein weiteres Wort schaltete David das Telefon aus. Der Frühdienst in der Klinik begann um sechs Uhr. Bob war also schon seit ein paar Stunden auf den Beinen. Er selbst wurde immer erst mittags richtig wach. Und ohne einen anständigen Kaffee war er überhaupt nicht ansprechbar. Gähnend zog er die Decke über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen. Als aber Travolta mit seinem blechernen Wassernapf über die Bodendielen in der Küche kratzte, war David endgültig wach. Er hätte gerne die Tür zur Küche zugeknallt, was aber nicht möglich war, da es überhaupt keine Tür gab. Genau genommen gab in dem winzigen 1-Zimmer-Appartment auch keine Küche, sondern lediglich eine Ecke mit Wasseranschluss. Vom Bett bis zum Kühlschrank, auf dem die Kaffeemaschine stand, waren es nur drei Schritte. David stand auf. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und gab dem Hund Wasser und einen Keks. Während er darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde, schaltete er den PC an. Jemand hatte ihm eine E-Mail mit dem Piktogramm einer tickenden Bombe geschickt. »Die Miete ist seit einer Woche fällig«, war nach einem Doppelklick zu lesen. »Erledigen Sie das umgehend!«

Den Anlass fand David zwar eher bedrückend, aber dennoch konnte er den schrägen Humor seines Vermieters mit einem Lächeln würdigen. Er nahm eine Tasse Kaffee mit ins Bett und dachte darüber nach, mit seinen Eltern über das Geld für die Miete zu sprechen. Allerdings würde sein Vater ihn nur wieder fragen, wann eigentlich mit dem Abschluss seines Studium zu rechnen sei. Das war ein Thema, über das es einiges zu sagen gab, vor allem seit David klar geworden war, dass er einen miserablen Musiklehrer abgeben würde. Bevor er sein ganzes zukünftiges Leben damit verbrachte, untalentierten Gören den »Flohwalzer« beizubringen, würde er sich lieber mit einer Blockflöte in die nächste Fußgängerzone stellen und peruanische Volkslieder zum Besten geben.

Er trank den Kaffee aus, nahm das Telefon und wählte die Nummer von Bobs Handy.

»Hey, Mozart!«, meldete sich der Freund.

David, dessen Rufnummer unterdrückt wurde, grinste. »Wie kommst du drauf, dass ich es bin?«

»Weil du inzwischen genug Zeit hattest, dir einen Kaffee zu machen.«

»Hmm.«

»Hast du von Silya geträumt?«

»Sally. In meinen Träumen heißt sie Sally.«

»Egal. Meinetwegen kannst du sie Pippi Langstrumpf nennen«, sagte Bob, dessen Stimme mit einem hallenden Klang durch die Telefonleitung kam. Außerdem war im Hintergrund noch die leise Stimme einer Frau zu hören, die anscheinend selbst gerade ein Telefonat führte.

»Wo bist du denn? Hört sich so an, als würdest du durch ’nen Tunnel fahren.«

»Nee, ich bin in der Pathologie.«

»Und warum hallt das so komisch?«

»Die Wände sich gekachelt.«

»Und wer ist da bei dir?«

»Wieso? Meinst du das Radio?«

»Veralbern kann ich mich alleine. Ich wette, sie hat rote Haare.«

»Sie ist Studentin. Ich helfe ihr bei der Vorbereitung auf eine Klausur.«

»Weibliche Anatomie für Fortgeschrittene, oder was?«

Die Stimme im Hintergrund lachte.

»Sie hat einen Freund«, sagte Bob leise.

»Als ob dich das von irgendetwas abhalten würde.«

»Also was ist jetzt?«, wechselte Bob ziemlich abrupt das Thema. »Hattest du wieder diesen Traum?«

»Du hast mich genau an der Stelle geweckt, wo sie mir auf der Bühne den Heiratsantrag macht.«

Bob stieß einen verächtlichen Laut aus. »Mensch, David, jetzt erzählt du mir seit einem Monat, dass diese Sally dich heiraten will, und in der Realität kennt Silya nicht einmal deinen Namen.«

»Klar kennt sie den.«

»Du weißt, wie ich das meine. Ihr habt bisher kaum drei Sätze miteinander geredet.«

Tatsächlich hatte er bisher überhaupt nicht mit Silya gesprochen, aber das verschwieg er Bob lieber. »Sie ist schließlich mein Chef. Da darf man nichts überstürzen. Da muss man mehr Subtilität aufbringen als du bei deinen Tussis.«

»Wenn du weiter so subtil vorgehst, wirst du dir vielleicht schon ziemlich bald selbst in den Hintern treten. Silya wird nämlich nicht ewig solo bleiben. Und da stehen schon einige vor dir in der Reihe.«

David richtete sich abrupt im Bett auf, wobei er keinerlei Gedanken an die abgestellte Tasse verschwendete. Polternd fiel sie auf den Boden, was den Hund dazu veranlasste, mit einem freudigen Bellen danach zu schnappen. Während die Welt des Hundes ein großer Spielplatz war, drohte Davids soeben zu zerbrechen.

»Wieso? Weißt du irgendwas?«

»Nichts Genaues. Aber die Pawlak aus der Buchhaltung, die meint jedenfalls, dass da schon ’ne ganze Weile was mit Rutter läuft.«

»Rutter?«

»Der Typ, der die IT-Abteilung leitet.«

»Sagt mir immer noch nichts. Wie sieht ’n der aus?«

»Groß, durchtrainiert wie ein Marathonläufer. Ich glaube, der fährt ’nen Porsche.«

»Hmm.«

»Die Pawlak findet, er sieht aus wie der jüngere Bruder von George Clooney.«

»Gibst du mir ein Alibi, wenn ich den Typ kille?«

»Dafür sind Freunde ja da.«

David nickte stumm. Sie hatten bereits im Sandkasten zusammen gespielt, mehr musste nicht gesagt werden. Allerdings interessierte es ihn, wieso Bob mit der Pawlak über diese Angelegenheit sprach. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er seine Stelle als Assistenzarzt antrat, hatte Bob im Call Center gejobbt. Es war ihm neu, dass Bob danach weiter mit der Pawlak in Kontakt geblieben war. Andererseits war Bob genau der Typ, dem die Frauen hinterherliefen.

»Franzi hat mir davon erzählt. Sie verbringt ihre Pausen immer mit der Pawlak zusammen.«

»Dann spricht wahrscheinlich schon die halbe Firma darüber. Wieso weiß ich nichts davon?«

»Keine Ahnung. Vielleicht solltest du mal nach links und rechts sehen, nicht immer nur auf Silyas Hintern.«

Wieder nickte David bloß. Bob arbeitete schon ein halbes Jahr nicht mehr bei der »TeleDirectServices«, kannte Silya also gar nicht.

»Franzi sagt, es sei ziemlich erbärmlich, wie du Silya immer anstarrst. Was ist denn bloß so besonders an der Frau?«

Das war in einem Satz kaum zu erklären. David hatte vor vier Wochen angefangen, ein Tagebuch zu führen, zum ersten Mal in seinem Leben, und bereits zweihundert Seiten geschrieben. Wo sollte man da anfangen? Was Frauen betraf, war Bob nicht gerade der romantische Typ, und David würde ihm kaum verständlich machen können, dass er den Atem anhielt, wenn Silya beiläufig und ohne Absicht in seine Richtung schaute. Er hätte Bob von ihrer strahlenden Schönheit vorschwärmen können, denn das war eine Kategorie, die der Freund verstand, doch das war es nicht, was Davids Herz berührte. Obwohl sie etwas größer war als er, beschrieb er Silya in seinem Tagebuch als ätherisches Wesen, zierlich und anmutig. Jede ihrer Gesten bezauberte ihn, wenn sie etwa eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich oder eine Kaffeetasse an die Lippen führte, und wenn er sie so ansah, heimlich und verstohlen, meinte er, die sanften Linien des Gesichts müssten ihr Wesen ausdrücken. Ihm war bewusst, wie kitschig das alles in Bobs Ohren klingen würde, also biss er die Zähne zusammen und sagte nichts.

»Bist du heute Abend bei Marco?« fragte Bob.

»Wie immer, weißt du doch.«

»Okay, dann sehen wir uns dort. Die Rechnung geht auf mich.«

»Gibt es was zu feiern?«

»Yep, ich habe gestern meine Promotionsurkunde bekommen.«

»Glückwunsch. Dann muss ich dich jetzt offiziell mit Herr Doktor ansprechen?«

»Du darfst Onkel Doktor zu mir sagen. Aber ich muss jetzt hier weitermachen. Wir sehen uns bei Marco.«

David legte auf.

Während Travolta eine halbe Packung Hundekekse verschlang, ging David ins Badezimmer. Auf einem Regalbrett, das unter dem Spiegel angebracht war, lag ein kleiner Haufen Papierstreifen, diese Dinger, die sie einem in den Parfümerien gaben, wenn man einen neuen Duft ausprobieren wollte. In seinen Träumen benutzte Sally das gleiche Parfum, das er im Büro an Silya bemerkt hatte. In langwierigen Tests, die ihn durch mehr als ein Dutzend Drogerien, Parfümerien und die entsprechenden Abteilungen der großen Kaufhausketten geführt hatten, war ihm die Identifizierung dieses Duftes bislang nicht gelungen. Er duschte und nahm eine gründliche Rasur vor. Seit er Silya kannte, rasierte er sich entgegen langjähriger Praxis täglich.

Anschließend nahm er eine frische Jeans aus dem Kleiderschrank, zog dazu ein schlichtes weißes T-Shirt an. Zum Schluss setzte er seine Brille auf, die an das Modell erinnerte, das Glenn Miller getragen hatte, randlos, schnörkellos, zeitlos.

Er leinte den Hund an und machte sich auf den Weg zu dem drei Blocks entferntem Parkhaus, in dem er seinen Wagen abgestellt hatte. Er wohnte in einer der kleinen, vom Savignyplatz abzweigenden Straßen, in denen es oft schwierig war, einen Parkplatz zu finden. Aber der Spaziergang tat ihm gut. Seit er Silya kannte, achtete er etwas mehr auf sein Gewicht. Unterwegs kam er an einem Haus vorbei, an dessen Fassade eine Tafel zum Gedenken an Leo Blech angebracht war, ehemals Generalmusikdirektor an der Staatsoper Unter den Linden, emigriert 1937. Er war bestimmt schon tausend Mal an dieser Stelle vorbeigegangen, aber das Schild war ihm vorher noch nie aufgefallen. Der Fußweg zum Seminargebäude der Musikfakultät der HdK, an der er studierte, betrug etwa zwanzig Minuten. Dort wollte er später kurz vorbeigehen, um das Ergebnis einer Klausur zum Thema Musikpädagogik in Erfahrung zu bringen, obwohl er bereits ahnte, dass er diese für das Examen relevante Prüfung vergeigt hatte. Zunächst aber musste er sich um die wirklich wichtigen Probleme kümmern. Neben der überfälligen Miete gab es ein paar weitere zu begleichende Rechnungen, außerdem waren der Kühlschrank und der Tank seines Renaults so gut wie leer.

Das fünfzehn Jahre alte Cabriolet wurde durch eine Mischung aus hartnäckigem Schmutz und rostumwandelnden Substanzen zusammengehalten. Dass das Benzin zur Neige ging, musste anhand des Kilometerstandes errechnet werden, denn die Tankfüllanzeige war bereits seit über zwanzigtausend Kilometern defekt. Das Einlegen des ersten Gangs erzeugte schon seit langem ein besorgniserregendes Geräusch, also fuhr David, den auf dem Beifahrersitz hockenden Hund neben sich, mit schleifender Kupplung im zweiten Gang los. Als er aus dem Dämmerlicht des Parkhauses kam, knallte ihm gleißendes Sonnenlicht entgegen. Über die Bundesallee fuhr er zunächst auf die Stadtautobahn, dann in östlicher Richtung am stillgelegten Flughafen Tempelhof vorbei, bis er schließlich zwischen Teltowkanal und Güterbahnhof ein italienisches Restaurant erreichte. Marco Ferrari, der Inhaber und Betreiber, hatte es nach seiner Geburtsstadt »Palermo« benannt und diesen Namen auch eigenhändig auf ein über der Eingangstür angebrachtes Schild gepinselt. Die Farbe blätterte an einigen Stellen bereits unübersehbar ab, aber dennoch war die ursprüngliche Eleganz des Schriftzuges ohne weiteres zu erkennen. Es waren die gleichen geschwungenen Lettern, die in Davids Traum neonhell über der Bühne leuchteten.

Er ging durch einen Seiteneingang, der gewöhnlich nur vom Personal benutzt wurde. Die Luft war angefüllt mit dem würzigen Aroma einer frisch zubereiteten Minestrone, hinter irgendeiner geschlossenen Tür plärrte ein dünnes Stimmchen einen aktuellen Popsong. Ein schmaler Flur führte in einen Raum, in dem etwa zwanzig Tische standen. Jemand hatte Weinkartons und Kisten mit Gemüse vor dem Klavier aufgestapelt, auf dem David an den Wochenenden spielte, um die Gäste zu unterhalten. Zu dieser Stunde war das Restaurant allerdings leer, alle Tische ohne die üblichen weißen Leinentücher. Die Rollläden waren halb herunter gelassen, sodass David eine Weile brauchte, um im Zwielicht den Mann zu erkennen, der an der Bar saß und ihn zu sich winkte.

»Ciao, Davide, komm her, komm her, du musst unbedingt eine Glas mit mir trinken von der neue Wein.«

David schüttete lachend den Kopf. Er wusste nur zu gut, dass dem ersten Glas rasch ein weiteres folgen würde und es immer eine zweite Flasche gab, von der ebenfalls unbedingt gekostet werden musste.

»Ah, Davide, du bist mein Freund und musst helfen und trinken von der Wein. Ist vielleicht zu suss?«

Mit dieser Frage schob Ferrari einen Stapel Rechnungen und Bestelllisten zur Seite und ein Glas über den Tresen. Er schaute erwartungsvoll dabei zu, wie David am Wein schnupperte, das Glas hin und her drehte, wieder daran roch, um schließlich einen winzigen Schluck zu nehmen, der kaum die Lippen benetzte.

»No, no, no!« entfuhr es Ferrari, der mit großer Geste seinen grauen Vollbart raufte. »Ist bittere Medizin, was in deine Glas, eh? Du musst trinken, trinken, nicht riechen wie Travolta an Haufen von andere Hund.«

Im Hinblick auf einen erhofften Vorschuss für den nächsten Klavierabend nahm David nun einen beherzteren Schluck. Und Travolta, der seinen Namen gehört hatte, sprang bellend an Ferrari hoch, um sich den Kopf kraulen zu lassen.

„Caro mio, du bist ein feiner Hund, un cane bello. Du bleibst heute wieder bei deinem Freund Marco, sì? Und wenn die banditi von die Mafia kommen zu Marco, du sie beißen in den Arsch.«

David trank einen weiteren Schluck von dem Rotwein, der für seinen Geschmack tatsächlich ein wenig zu süß war. »Tu mir den Gefallen«, sagte er, »und gib ihm nicht wieder so viel zu Fressen. Er ist eh zu dick.«

»Ah, no, das siehst du falsch. Travolta ist nicht dick, er ist ein cane grandioso, ein große, starke Hund. Sì, Travolta, sì, sì, sì.«

Ferrari wuschelte den Hund. Dann wurde eine Weile über Gott und die Welt geredet, über den Wein, schließlich über Davids finanzielles Anliegen. Ein Scheck wurde ausgestellt, eine zweite Flasche geöffnet.

David winkte ab. »Zu früh für mich, wirklich.«

»Ah, nie zu früh für vino rosso«, sagte Ferrari mit einem fröhlichen Grinsen. Unbeirrt schenkte er die Gläser voll. »Ich habe dir von meine Nonna und Babbo erzählt, sì? Sie kommen bald aus Italia, um zu heiraten neu nach funfzig Jahre. Du weißt, eh? Kannst du spielen auf die Klavier bei festa?«

»Wann?«

»Kommt auf Wetter an. In ein paar Wochen, wenn Ernte von die Oliven vorbei.«

»Geht klar. Sag mir dann kurz vorher Bescheid.«

Marco nickte zufrieden. »Lass uns darauf trinken. Vino rosso gut für Geschäft und amore«, sagte er, sein Glas hebend. »Wie sieht aus mit amore bei dir?«

»Na ja«, sagte David, der den Trinkspruch des Sizilianers nicht unerwidert lassen wollte und nun ebenfalls sein Glas hob. »Ich hab dir schon von Silya erzählt.«

»Sì, Silya bellissima.«

»Vielleicht hat sie was mit so ’nem Schnösel aus der Firma.«

»Dann du musst trinken. Vino rosso auch gut für Sorgen bei die amore. Außerdem ist vielleicht nicht sicher, eh? Du Mann grandioso. Du kämpfen mit Schnösel wie Katze mit Maus. – Alla salute!«

»Salute!«

Sallys Song

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