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Das Aquarium

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Das Aquarium, wie sie ihr Büro selbst nannte, war ursprünglich als Abstellplatz für Drucker und Faxgeräte genutzt worden. Als Abteilungsleiterin hatte sie sicher Anspruch auf einen größeren und repräsentableren Raum, aber sie hatte das gläserne Büro herrichten lassen, weil es ihr das Gefühl gab, so viel näher am Geschehen in der Abteilung zu sein. Um ihren Mitarbeitern zu zeigen, dass sie jederzeit ansprechbar war, blieb die Tür stets geöffnet.

Sie kam gerade aus einer Konferenz, die wie üblich länger als geplant gedauert hatte, und sie musste noch ein Gespräch mit der Geschäftsführung vorbereiten. Mit einem Lächeln dachte sie an einen ihrer Professoren in Harvard, der die Meinung vertreten hatte, dass jemand, der länger als acht Stunden am Tag arbeite, inkompetent sei. Demnach war ihre Assistentin, die schon längst nach Hause gegangen war, außerordentlich kompetent. Ihr eigener Arbeitstag dagegen würde wie so oft erst nach zwölf Stunden zu Ende sein. Aber sie beschwerte sich nicht, denn genau das hatte sie ja gewollt, als sie den Job angetreten hatte. Wenn man nicht bereit war, härter als die Konkurrenz zu arbeiten, würde man es niemals bis an die Spitze schaffen. Auch das hatte sie während der Jahre ihres Studiums gelernt, immer angespornt von Kommilitonen, die ihr zuweilen genial erschienen waren, und herausgefordert von denen, die in Ermangelung persönlicher Brillanz nächtelang über den Büchern gesessen und winzige Körnchen wirtschaftswissenschaftlicher Zahlen und Fakten, Theorien und Modelle zu monumentalen Gebirgen ökonomischen Wissens aufgehäuft hatten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten im ersten Jahr hatte sie die Wirkung von koffeinhaltigen Getränken zu schätzen gelernt und stets zu den Besten ihres Jahrgangs gehört.

Für das Gespräch mit der Geschäftsführung stellte sie eine PowerPoint-Präsentation auf ihrem Laptop zusammen. Dafür brauchte sie einige Dateien, die auf dem Laufwerk des Abteilungsrechners lagen und importiert werden mussten. Während des Übertragungsvorgangs hatte sie etwas Zeit, um einen Blick in ihre Mailbox zu werfen.

Patrick hatte sieben Mails gesendet. Den Betreffzeilen war zu entnehmen, dass sie ausnahmslos persönlicher Natur waren. Silya löschte alle ungelesen und wartete auf eine Reaktion, die auch prompt kam.

- Hey, was ist los??? Wieso löschst du meine Mails???

Die Effizienz hatte sich im letzten Quartal in einigen Bereichen verbessert. Natürlich konnte Silya das nicht der Sollseite ihrer Bilanz als Führungskraft zuschreiben, denn dazu unterstand die Abteilung bis zu diesem Zeitpunkt nicht lange genug ihrer Verantwortung. Aber in den Grafiken, die sie in die Präsentation einfügte, sah das trotzdem ganz gut aus, wie sie fand. Besser so, als andersherum. Negative Entwicklungen, auch wenn sie diese nicht zu verantworten hätte, würden dennoch ein schlechtes Licht auf sie werfen.

- Silya???

Sie war die einzige Frau auf der Führungsebene der Firma. Und dass sie erst vierundzwanzig Jahre alt war und über keinerlei Berufserfahrung verfügte, machte sie erst recht zu einem Objekt argwöhnischer Betrachtung. Fehler, die bei anderen klein und unbedeutend sein mochten, würden bei ihr groß und gravierend sein.

- ???

Sie durfte einfach keinen Fehler machen. Dazu gehörte auch, die Sache mit Patrick diskret zu gestalten. Sie glaubte zwar nicht, dass dieser David Blohm sie im Flur mit Patrick gesehen hatte, trotzdem ärgerte sie ihr eigener Leichtsinn. Überhaupt jemandem die Gelegenheit zu geben, sie in einer mehr oder weniger prekären Situation zu beobachten, war bereits ein Fehler. Obendrein war es peinlich, wie ein verliebter Teenager beim Fummeln erwischt zu werden.

- Steht das s auf dem Nummernschild deines Wagens für supersüß oder supersexy???

- Es steht für superempfindlich bzgl. dummer Sprüche.

Silya wartete kurz, aber es kam keine Antwort mehr. Konzentriert arbeitete sie weiter, bis zwanzig Minuten später eine weitere Mail von Patrick kam. Sie ignorierte ihn eine Weile, wurde dann aber doch neugierig. Er schrieb aber bloß, er habe einen Virus auf seinem Rechner.

- Ich dachte schon, du hättest auch ein s auf deinem Nummernschild. Und das steht für sprachlos …

- Hab ich dich irgendwie verärgert??? Dann steht das s für sorry!!!

- Schon gut, ich ärgere mich nur über mich selbst.

- Wieso???

- Weil es nicht zu meiner Karriereplanung gehört, nach nur einem Monat im Mittelpunkt des Büroklatsches zu stehen.

- Das mit der Wette war nicht so gemeint!!! Bloß ein Joke!!!

- Ich wette trotzdem 50€ gegen dich

- Das ist ok!!! Wir müssen ja nichts überstürzen!!!

- Gibst du so leicht auf?

- ???????????????????????????????????????

- Ich glaube, deine Tastatur ist kaputt.

- Ich bin verwirrt!!!

- Ja, das ist die Wirkung, die ich auf Männer ausübe.

- Auf den Mann von Fleurop auch!!!

- Fleurop? Wen meinst du?

- Den Typ mit der Rose im Aufzug

Vielleicht war es Zufall, vielleicht nicht. Aber als Silya den Blick hob und über ihren Laptop schaute, da war ihr das Gesicht von David Blohm zugewandt. Sie konnte nicht sagen, ob er zu ihr ins Büro sah, dafür saß er einfach zu weit weg. Es war genauso gut möglich, dass er keinen Call zu bearbeiten hatte und zufällig in ihre Richtung sah, um seinen Augen eine kurze Pause vom monotonen Starren auf den Monitor zu gönnen.

- Du meinst, er hat irgendwelche Gedanken amouröser Art bzgl. meiner Person? Glaub ich nicht. Soweit ich mich erinnern kann, waren das heute die ersten Worte, die wir miteinander gesprochen haben.

- Komm schon, so naiv bist du nicht!!! Wenn du mit drei Männern in einen Aufzug steigst, werden sich zwei davon nicht bloß irgendwelche, sondern ganz konkrete Gedanken machen!!!

- Wie wenig schmeichelhaft. Was ist denn mit dem dritten Mann?

- Der ist schwul!!!

- Und was ist mit dir?

- Ich bin nicht schwul!!!

- Ob du dir auch ganz konkrete Gedanken machst, will ich wissen.

Die nächste Antwort von Patrick ließ auf sich warten. Silya beendete die Präsentation und mailte sie an das Sekretariat der Geschäftsführung. Als sie aufschaute, drehte dieser David Blohm den Kopf schnell in eine andere Richtung. War das wieder bloß Zufall? Er war etwas klein, wie sie fand, und ein paar Kilos zu viel hatte er auch. Seine unbeholfene Art erinnerte an ein Robbenbaby, was wiederum ganz süß war. Sie mochte sein Lächeln und konnte sich durchaus vorstellen, dass sie ihn zu einer anderen Zeit gerne näher kennengelernt hätte. Vor ein paar Monaten, als sie selbst noch Studentin war, da wäre das möglich gewesen. Aber jetzt war sie David Blohms Vorgesetzte, was derartige Erwägungen von vornherein ausschloss.

Es war kein ernsthaftes Interesse, nur ein klein bisschen Neugierde, die sie veranlasste, die Excel-Datei mit den Notizen zu öffnen, die sie beim Lesen der Personalakten angelegt hatte. Sie wollte nur schnell überprüfen, ob ihre Erinnerung, was sein Studienfach betraf, richtig war.

- Sorry!!! ich musste mich hier um ein Problem kümmern. Und ja, ich habe ganz konkrete Gedanken!!! Ich frage mich, welche Farbe deine Unterwäsche hat??? Ich wette, sie ist rot!!!

Knapp daneben, dachte sie. David Blohm studierte nicht Kunst oder Schauspielerei, sondern Musik.

- Du solltest nicht wetten. Meine Mutter würde dir sagen, es verrät den schlechten Charakter eines Menschen.

- Aber ist sie rot???

- Meine Mutter hat einen hellen, sehr zarten Teint.

- Du bist komisch!!! Ist sie so schön wie du???

- Oje, welch banale und peinliche Wendung. Aber ja, sie ist so schön, graziös, lieblich und elfengleich wie ich. Möchtest du ihre Telefonnummer?

-Gib mir deine!!!

- Nein, ganz bestimmt nicht. Vielleicht bist du ja ein Psychopath. Ich meine, die Frage nach der Farbe meiner Dessous ist wirklich frech.

- Sorry!!! Ich glaube, ich bin verliebt!!!

- Wenn ich mit drei Männern in einen Aufzug steige ... Leider habe ich keine Zeit mehr für diesen Unsinn. Ich muss zu einem Termin mit Klein und Ratzinger.

-Geht es um die neue Unternehmensstrategie??? Ich habe dein interview gelesen und keine Ahnung, was du damit meinst!!!

Natürlich hatte Patrick keine Ahnung, worauf ihre bewusst nebulös formulierten Andeutungen hinausliefen, denn genau so war es mit Klein und Ratzinger, den beiden Geschäftsführern, abgesprochen. Das Interview war eine lancierte Meldung aus der Chefetage, die dazu beitragen sollte, die Belegschaft mental auf die bevorstehenden Änderungen vorzubereiten. In genau einer Woche würde das offizielle Kaufangebot eines kanadischen Konzerns per Fax eingehen. Klein und Ratzinger würden nach der Übergabe persönlicher Aktienpakete von BelCanTel ihre Schreibtische räumen und innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch ein amerikanisches Management ersetzt werden. Und natürlich durch sie selbst.

- Ich muss wirklich los. JETZT SOFORT! Und das hauchzarte, betörende Nichts von La Perla, das meine Haut umschmeichelt, ist übrigens rosa.

Silya schaltete den Laptop aus. Im Gespräch mit den Geschäftsführern würde es vor allem um den aktuellen Stand der Übernahme gehen. Klein verbrachte ganze Tage damit, Kataloge mit Segelyachten durchzublättern, und Ratzinger buchte bereits Golfplätze rund um den Globus. Die beiden waren äußerst interessiert daran, dass der Deal mit BelCanTel nicht im letzten Moment platzte. James Kim, Sohn koreanischer Einwanderer und Präsident von BellCanTel, kannte Silya aus Harvard und er hatte ihre Einstellung zur Vorbedingung von Verkaufsgesprächen gemacht. Sie besaß das Vertrauen Kims und war seine Kontaktperson bei TeleDirectServices. Die mittelständische deutsche Firma verfügte nicht über genügend liquide Mittel, um auf lange Sicht selbstständig existieren zu können, aber mit einer Finanzspritze von BelCanTel sollte sie zur Pfeilspitze einer europäischen Expansion werden. Und Silya war der Bogen, den Kim dazu ausersehen hatte, diesen Pfeil abzuschießen. Irgendwann würde sie mal dieses Buch, »Zen des Bogenschießens«, lesen müssen, das der CEO ihr empfohlen hatte.

Zum ersten Mal war sie ihm bei einem Treffen ehemaliger Harvard-Absolventen begegnet. Sie gehörte zu den Studenten, die das Organisationsbüro zur Betreuung der Gäste einsetzte. Man holte sie um vier Uhr morgens aus ihrem Bett im Wohnheim, damit sie einen Automechaniker ausfindig machte, der einen platten Reifen an Kims Wagen wechseln sollte. Sie war müde und hatte wenig Lust, ihre Zeit mit Anrufen in irgendwelchen Autowerkstätten, die um diese Zeit eh alle geschlossen hatten, zu vergeuden. Stattdessen fuhr sie selbst zu Kims Hotel, wo sie den Reifen innerhalb von zehn Minuten austauschte. Am nächsten Tag lag seine Visitenkarte in ihrem Postfach. Drei Monate später absolvierte sie ein Praktikum in der Zentrale von BelCanTel in Toronto.

Vor einem halben Jahr etwa, sie war mitten in den Vorbereitungen für das Abschlussexamen, hatte er ihr einige deutschsprachige Dokumente gefaxt und um eine Übersetzung ins Englische gebeten. Schließlich war er während einer Geschäftsreise persönlich zu ihr gekommen, um von seinen transatlantischen Plänen zu erzählen. Er brauchte jemanden, der fließend deutsch, englisch und französisch sprach und Europa kannte. Von einem Honorar oder Jobangebot war bis dahin nicht die Rede, dennoch sagte sie zu, als er ihr ein Volontariat anbot. Sie lernte tagsüber acht, manchmal zehn Stunden für die Prüfungen und in den Nächten las sie die Wirtschaftsseiten der überregionalen Tageszeitungen, dazu Wochenzeitungen und Fachpublikationen und durchsuchte das Internet nach weiteren Informationen, die sie für Kim zusammenfasste, analysierte und zu Dossiers verarbeitete. Bei maximal fünf Stunden Schlaf pro Nacht war sie am Rand ihrer Leistungsfähigkeit angekommen, hielt aber durch, da sie die einmalige Chance erkannte, die aus einer Zusammenarbeit mit dem Kanadier erwachsen konnte. Sie wusste aus Kims Vita, dass er seine erste Firma mit siebzehn Jahren gegründet hatte, um die Studiengebühren für Harvard aufbringen zu können. Mit einundzwanzig hatte er als Bester seines Jahrgangs abgeschlossen und beschäftigte in einer abrissreifen Fabrik zwanzig junge Frauen, die auf alten Campingstühlen saßen und an gemieteten Telefonen eine gut bezahlte, aber wenig ehrbare Dienstleistung anboten. Es war geradezu lachhaft, wie sehr seine Karriere dem Stereotyp des amerikanischen Traums entsprach. Zuweilen hatte Silya das Gefühl, dass er gar nicht an den Ergebnissen ihrer Arbeit interessiert war, sondern lediglich rausfinden wollte, wie weit sie für den Job gehen würde, wie groß ihre Bereitschaft zu leiden war.

Kim akzeptierte sie. Er meinte es durchaus ernst, wenn er sagte, Silya müsse ihre Karten nur richtig ausspielen, um mit fünfundzwanzig Jahren ihre erste Million verdient zu haben, netto natürlich. Sie meinte es genauso ernst, wenn sie Kim wissen ließ, dass sie mit dreißig Vorstandsvorsitzende der European BelCanTel Group sein würde, einer Aktiengesellschaft, deren Gründung für das nächste Jahr vorgesehen war. Und mit einunddreißig, aber das wusste nur sie selbst, würde sie dem ganzen Mist den Rücken kehren, ein Haus am Meer kaufen, Wale beobachten und in ihrem kleinen Garten Margeriten züchten.

Sallys Song

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