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Silyas Anrufbeantworter
ОглавлениеDavids Schicht endete um zwanzig Uhr. Als er über die Autobahn nach Hause fuhr, war es noch immer taghell. Das Riesenrad war fertig montiert und drehte einsame Runden, illuminiert von Tausenden bunten Glühbirnen. Die Eröffnung des Volksfestes am nächsten Tag hatte ein paar Kollegen zu der Frage veranlasst, ob er im Anschluss an die Betriebsfeier eine Runde mit ihnen drehen würde. Aber er hatte dankend abgelehnt. Er mache sich nichts daraus, hatte er gesagt. Tatsächlich hoffte er darauf, den Abend gemeinsam mit Silya zu beenden, und wollte deshalb keine anderen Verabredungen treffen.
In seiner Wohnung spülte er das Geschirr der vergangenen Woche, bezog das Bett mit frischer Wäsche und putzte das Badezimmer. Vielleicht würde sie einen Kaffee bei ihm trinken, ganz auszuschließen war das ja nicht. Also kramte er die silberne Zuckerdose aus einem Karton, den er unter dem Bett verwahrte, und polierte das Erbstück auf Hochglanz. Sie trank ihren Kaffee stets mit Milch und zwei Stücken Zucker, wie David am Getränkeautomaten im Pausenraum beobachtet hatte, und eben dieses Wissen ließ seine Bemühungen nicht etwa vorzeitig erlahmen, sondern ganz im Gegenteil, er wienerte unbeirrt und hingebungsvoll auch das Milchkännchen, bis kein Fleck mehr zu sehen war. Es ging um die Geste, um die Wertschätzung, die damit bekundet wurde. Wenn Silya zu ihm kam, sollte kein Stäubchen den Glanz des Augenblicks trüben.
Als alles sauber und aufgeräumt war, schaltete er den PC an. Er googelte die Anschrift des Atelierhauses von Georg Kolbe und verglich sie mit der Adressenliste, die eine Abfrage im digitalen Berliner Telefonbuch ergeben hatte. Wenn das Atelier des Bildhauers Startpunkt von Silyas Läufen durch den Berliner Forst war, dann konnte er sicher davon ausgehen, dass sie irgendwo ganz in der Nähe wohnte.
Es gab im Telefonbuch keinen einzigen Eintrag, der Silyas Namen komplett nannte – das hatte David bereits vor einigen Tagen überprüft. Sollte sie überhaupt eingetragen sein, so verbarg sie sich hinter einer Initiale oder ihrem bloßen Nachnamen. Er ging die siebenundvierzig Positionen auf der Liste von oben nach unten durch, wobei er das Atelier in einem alten Stadtplan blau markierte und alle Adressen, die auf der Karte im gleichen oder einem angrenzenden Planquadrat verzeichnet waren, mit roter Farbe kennzeichnete. Als er am Ende der Liste angekommen war, hatte er lediglich zwei rote Punkte gemacht.
Und was jetzt? Wollte er die beiden Nummern wählen, nur um dann im letzten Moment wieder den Mut zu verlieren und aufzulegen? War es nicht besser, bis zum nächsten Tag zu warten? Würde sich auf dem Sommerfest überhaupt eine Gelegenheit ergeben, allein mit ihr zu sein? Oder würde sie nur mit Rutter tanzen? Und wäre damit seine letzte Chance vertan?
Es war das Schreckgespenst der letzten unbeantworteten Frage, die David zum Telefon greifen ließ. Seine Finger waren merkwürdig steif, als er die erste Nummer wählte. Während er dem Klingelton im Hörer lauschte, stellte er sich Silyas Reaktion auf den Anruf vor. Wahrscheinlich würde sie erst einmal wissen wollen, wie zum Teufel er an ihre Nummer gekommen war. Er kam sich ja selbst wie ein Irrer vor. Die nächste logische Stufe seiner pathologischen Karriere war, mit einem Fernglas hinter irgendwelchen Hecken zu lauern.
Sein Herz war ein aufgeregtes Tamburin. Er wollte bereits auflegen, als er die Stimme eines Mannes hörte. War das Silyas Freund, Lebensabschnittsgefährte oder Verlobter? Er wusste so wenig von ihr. Die Stimme konnte genauso gut die ihres Bruders sein, wenn sie denn einen hatte, oder die des Papstes. David hätte nicht einmal mit Sicherheit ausschließen können, dass es Rutter war, der ungeduldig forderte, der Anrufer möge sich melden.
Zu seinem eigenen Entsetzen bemerkte David, wie er stotternd seinen Namen nannte. Er musste husten, schlucken, sich räuspern, bevor er endlich nach Silya fragen konnte. Doch knapp wurde ihm mitgeteilt, er sei falsch verbunden. David stammelte eine Entschuldigung und legte auf. Er war sich keineswegs darüber in Klaren, ob das Gefühl der Enttäuschung seine Erleichterung überwog. Beides lag so dicht beieinander wie die Saiten einer Konzertharfe.
Er wählte die nächste Nummer. Während es zwei-, drei-, viermal klingelte, dachte er, sie könnte noch im Büro sein. Silya arbeitete oft lange, und als er vorhin zu seinem Auto gegangen war, hatte ihr VW noch in der Tiefgarage gestanden. Was wollte er eigentlich sagen, wenn sie sich meldete? Mit welchen Worten beginnen? Gerade hatte er noch gedacht, dass ihm schon was einfallen würde, doch nun überfiel ihn angesichts seiner Planlosigkeit plötzlich Panik. Er wollte bereits auf die Taste mit dem kleinen roten Telefon drücken, da schaltete sich nach dem sechsten Rufzeichen am anderen Ende der Leitung ein Anrufbeantworter ein.
Silya! Er erkannte die Stimme schon bei der Artikulation des ersten Lautes, als sie ihren Namen nannte. Der folgende Text war kurz und wurde betont formell vorgetragen, was so gar nicht zu der sinnlichen Vibration passen wollte, die ihr lyrischer Sopran in ihm auslöste. Er legte auf und wählte gleich noch mal, nur um ihre Stimme zu hören. Sollte er etwas auf das Band sprechen? Er fand das zwar eigentlich zu unpersönlich, dem Anlass so gar nicht angemessen, aber er wollte auch nicht wieder mit Blumen vor ihr stehen und dabei kein Wort über die Lippen bekommen.
Entweder sagte er jetzt was oder eben nicht, so einfach war das, ja oder nein, nur eine Entscheidung musste er treffen, und zwar sofort, denn um rechtzeitig zu der Verabredung mit Bob zu kommen, hätte er eigentlich schon vor fünf Minuten losgehen sollen. Okay, ich mach’s, dachte er, ließ dann aber die zur Verfügung stehende Zeit bis zum abschließenden Piep ungenutzt verstreichen.
Bob musste warten. Um nicht das Risiko einzugehen, Silyas AB mit einem Schwall unausgereifter Gedanken voll zu quatschen und dabei womöglich ins Stottern zu verfallen, wollte er die dreißig Sekunden, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen würden, zunächst einmal proben. Die Sprachmemo-Funktion des Handys war mit einem Knopfdruck aktiviert.
»Hallo, Frau Frey ... also Silya ... Ich weiß nicht mal, wie ich dich in dieser blöden Situation ansprechen soll und ich glaube, ich fang noch mal von vorne an.«
David stoppte die Aufnahme. Es war sicher besser, eine direkte Anrede zu vermeiden.
»Guten Abend! Mein Name ist David Blohm und ... und so redet nur ein Call Center Agent, der ein gravierendes Problem damit hat, berufliche und private Identität zu trennen, du Idiot! Und jetzt reiß dich mal zusammen! Du sollst ihr sagen, dass du in sie verliebt bist, und ihr keinen Staubsauger verkaufen!«
Die Aufnahme wurde in einen virtuellen Papierkorb verschoben. Als die obligatorische Frage gestellt wurde, ob die Datei endgültig gelöscht werden solle, bestätigte David das nur allzu gerne.
»Hallo, David Blohm hier. Wir sind uns heute im Aufzug begegnet. Ich hatte eine Rose dabei... Und eigentlich wollte ich dich ganz bestimmt nicht an diesen peinlichen Auftritt erinnern. Keine Ahnung, warum ich das hier sage.«
Um Inspiration für den nächsten Versuch zu finden, wählte er Silyas Nummer. Er wollte einfach ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter hören. Als sie aber nach dem zweiten Klingeln tatsächlich abhob, war er davon so überrascht, dass er ohne zu überlegen die Verbindung abbrach. Zum Glück wurde die Nummer seines Handys unterdrückt. Allerdings würde sie sofort Bescheid wissen, wenn er sie an diesem Abend noch mal anriefe.
»Hallo, David Blohm hier«, sprach er in das Handy, nachdem er es ausgeschaltet hatte. »Ich bin verliebt wie niemals zuvor in meinem ganzen Leben. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Dieses Gefühl bringt mich dazu, in den Himmel zu schauen und Gott oder jeder anderen universellen Macht dafür zu danken. Und gleichzeitig habe ich schreckliche Angst. Sie schnürt mir die Kehle zu und lässt mich verstummen. Ich habe Angst, es zu überstürzen, weil wir uns ja kaum kennen, und ich habe Angst, weil ich vielleicht so lange auf die richtige Gelegenheit warte, bis es zu spät ist. Und jetzt muss ich los, zu meinem zweiten Job, den ich mache, weil das Gehalt im Call Center so erbärmlich ist.«