Читать книгу Sallys Song - Frank Hoyer - Страница 6
Song für S
ОглавлениеAls David wieder im Auto saß, war sein Alkoholpegel gerade noch im akzeptablen Bereich. Travolta hatte er im Restaurant gelassen, da er den Hund weder in die Uni noch zu seinem Job im Call Center mitnehmen konnte.
Auf dem Weg zurück nach Charlottenburg schmunzelte er amüsiert darüber, dass er ausgerechnet den radebrechenden Marco in seinem Traum als eloquenten Conférencier sah. Doch so war das halt mit Träumen, die Absurdität war quasi Gesetz. Er erkannte sich ja selbst kaum wieder, ohne Brille, dafür mit reichlich Pomade im Haar und mit einem schicken Smoking bekleidet. Völliges Chaos herrschte bei der Bigband auf der Bühne. Einerseits interpretierten die Musiker einen Titel von Glenn Miller, der tatsächlich erst 1940 geschrieben werden sollte, andererseits spielten sie dabei nicht den berühmten Sound dieses Bandleaders, sondern setzten scharfe, treibende Blechbläser ein, die am Anfang und am Ende des Stückes das Thema definierten, während rollende Saxofone rhythmische Riffs einwarfen. In der Mitte wurde alles umgekehrt, indem die Saxofone die Führung übernahmen, während das Blech mit kurzen Punktierungen aufwartete. Dieser Stil erinnerte ihn an Fletcher Henderson, dachte David, oder auf jeden Fall eher an Benny Goodman als an Glenn Miller. Und der Song, den Silya sang - oder Sally, wie sie ja im Traum hieß - , der wurde dann wiederum so gespielt , wie Miller es wohl getan hätte, obwohl das Stück ganz sicher nicht von ihm war. Das Motiv wurde hier mehrere Male wiederholt, langsam weggeblendet, bis es kaum mehr zu hören war, um dann mit voller Lautstärke wieder aufgenommen zu werden. David konnte definitiv sagen, dass er den Song nie zuvor gehört hatte, weder von Miller noch von sonst wem, und da dies sein Traum war, ging er davon aus, dass er ihn selbst geschaffen hatte, also der Komponist und Arrangeur war. Was allerdings den Text betraf, konnte er die Autorenschaft nicht mit der gleichen Sicherheit für sich beanspruchen. Im Club »Ferrari’s« verstand er jedes einzelne Wort des Textes, aber sobald er aufwachte, hatte er genauso jedes einzelne Wort im gleichen Augenblick wieder vergessen. Tatsächlich konnte er nicht einmal sagen, ob Sally den Text auf Englisch oder Deutsch sang. Japanisch wäre ebenso möglich, dachte er, oder ein kenianischer Dialekt.
Er hatte Glück und fand einen Parkplatz in der unmittelbaren Nähe des Seminargebäudes. Wegen der Semesterferien herrschte weniger Betrieb als sonst, dennoch waren die Übungsräume heiß begehrt. David begrüßte im Vorbeigehen einige Kommilitonen, unter denen allerdings keine waren, mit denen er vor sechs Jahren das Studium begonnen hatte. Die meisten unterrichteten inzwischen selbst, andere arbeiteten als Studiomusiker oder gehörten, wenn sie Glück hatten, dem Ensemble eines mehr oder weniger renommierten Orchesters an. Er wusste von einem, der inzwischen Musikkritiken für überregionale Zeitungen schrieb. Und er wusste von dem Scheitern vieler Pläne und Ziele, die einstmals so hoch gesteckt waren wie das hohe »a« einer Pikkoloflöte. Zwei der alten Freunde, die stets als die Begabtesten gegolten hatten, setzten ihre Studien in Meisterkursen im Ausland fort, weshalb David von ihnen am ehesten annahm, dass ihre jeweilige Laufbahn in eine nennenswerte Karriere münden würde. Was ihn selbst betraf, so klang, was er vor einigen Jahren kunst- und salbungsvoll um die Wörter »Plattenvertrag« und »Ruhm und Reichtum« herum formuliert hatte, inzwischen wie das Wimmern eines abgeschlafften Dudelsacks.
Vor dem Sekretariat des Instituts für Musikpädagogik intonierte eine Studentin mit engelsgleicher Stimme das »Dona nobis pacem« für Mezzosopran von Violetta Dinescu. David hatte keine Ahnung, warum sie das ausgerechnet an diesem Ort tat, aber er empfand die so geschaffene Stimmung als durchaus passend, als er die aushängenden Informationslisten nach seiner Matrikelnummer durchsuchte. Seine Ahnung, was das Ergebnis der Klausur betraf, fand Bestätigung, als er die Liste der durchgefallenen Kandidaten durchsah. Mit einem Achselzucken nahm er zur Kenntnis, dass die von ihm angesetzte halbstündige Vorbereitungszeit nun als zu gering bewertet werden musste. Und dennoch hatte diese halbe Stunde sein Interesse für die Thematik der Prüfung bereits um ein Vielfaches überstiegen.
Nun, mehr gab es hier für David nicht zu tun. Da er keine Lust hatte, die Straßen rund um den Savignyplatz nach einem Parkplatz abzusuchen, legte er den kurzen Weg bis zu seiner Wohnung zu Fuß zurück, wo er dann im Briefkasten das Ablehnungsschreiben eines kleinen, aber durchaus bekannten Jazzlabels vorfand. Mit warmen Worten wurde ihm für die Zusendung seiner Demo-CD gedankt, doch bedauerlicherweise, so hieß es weiter, bewege er sich mit seiner Musik außerhalb jeglicher kommerzieller Verwertungsmöglichkeiten. David lachte, als er das zum ersten Mal derart unverblümt las. Er hatte einen ganzen Stapel Ablehnungsschreiben, der so dick war wie die Partitur einer italienischen Oper, aber gewöhnlich waren die Antworten der Musikverlage wesentlich neutraler formuliert und Gründe für eine Ablehnung wurden sonst nie genannt.
Er legte den Brief in eine Schreibtischschublade. Darin fand er einen alten Müsliriegel, den er hungrig vertilgte, während der PC das Betriebssystem startete. Für professionelle Audioproduktionen nutzte er sonst das Equipment der Universität, allerdings musste man sich für einen Termin im Studio immer schon einige Wochen vorher in eine Warteliste eintragen. Und wenn an den Gerüchten über Silya und diesen Rutter etwas dran war, dann hatte David keine Zeit mehr zu vergeuden. In zwei Stunden musste er los, um rechtzeitig zu seinem Job im Call Center zu erscheinen, und bis dahin konnte er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Toolkit ein paar wirklich aufregende Dinge anstellen. Für die Produktion von »Sallys Song« konnte er aus vierzig virtuellen Instrumenten auswählen und hatte darüber hinaus Zugriff auf achtzig Effekt-Plug-Ins und eine umfangreiche Soundlibrary, die problemlos die verschiedensten Genres und Stilrichtungen abdeckte.
Er hatte das komplette Arrangement bereits vor Wochen ganz konventionell auf Notenpapier festgehalten. Solisten, je ein Leadman für die Blech und Reed-Abteilungen, die dazugehörigen Sidemen und die Rhythmusgruppe, das waren insgesamt zwanzig Instrumente, die sich in seinem Traum auf der Bühne drängelten. Zwar hatte er 255 Audiospuren, aber nicht genügend Zeit, um Silya mit dem vollen Sound einer Bigband an die Wand zu blasen. Also entschied er sich für eine intimere Zusammensetzung, bestehend aus einem Klavier und einem Saxofon. Dazu kam die Trompete, die gleich zu Beginn um Aufmerksamkeit schrie. Den Part des Rhythmusinstruments spielte er über eine funkgesteuerte Klaviatur direkt in das Programm ein, das innerhalb von Millisekunden eine ganze Reihe von visualisierten Darstellungen anbot. Anschließend war das virtuelle Saxofon kinderleicht über das Benutzer-Interface mit der Tonspur des Pianos zu synchronisieren. Das Resultat stellte seine kritischen Ohren bereits an diesem Punkt durchaus zufrieden, wurde nach dem Einsatz eines Impuls-Resonanz-Programms zum Erfassen der Akustik einer realen Auftrittsumgebung aber noch verbessert.
Für das Mastering der CD und das Kodieren im Sorround-Format brauchte der Computer nur wenig Hilfe, sodass David nebenbei dazu kam, eine Dosensuppe in die Mikrowelle zu schieben.
Das Call Center, in dem David seit etwa einem Jahr jobbte, war in den obersten drei Etagen eines Bürogebäudes in Reinickendorf untergebracht, direkt in der Einflugschneise des Flughafens Tegel. Er fuhr über die Avus, die nur von den Berlinern noch so genannt wurde. Rechts der Autobahn, unmittelbar hinter dem Hohenzollernkanal, wurde schon seit mehreren Tagen eine Kirmes für das jährlich stattfindende Deutsch-Französische Volksfest aufgebaut. Für David sah es so aus, als würde das Riesenrad bis zum Abend eine erste Proberunde drehen können.
Er fuhr an der Abfahrt hinter dem Flughafentunnel von der Autobahn runter. Der Himmel über Berlin war so blau und wolkenlos wie auf einer retuschierten Postkarte. Das Verdeck des Cabrios ließ er offen, als er es auf dem Parkplatz für die Angestellten neben Franzis Toyota abstellte. Der Japaner hatte wie sein alter Franzose schon bessere Tage gesehen.
Geschäftsführung und Abteilungsleiter hatten reserviere Parkplätze in der Tiefgarage. Man benötigte einen Zugangscode, um dort zu parken, doch viele der Angestellten gingen einfach unter der Schranke durch, weil das der kürzeste Weg zu den Aufzügen war. Silyas VW Beetle stand auf dem gewohnten Platz. David klemmte die CD, auf die er mit einem Faserschreiber »Song für S.« und die Nummer seines Handys geschrieben hatte, zusammen mit einer unterwegs gekauften roten Rose unter einem Scheibenwischer fest. Er fand, das war ein guter Plan.
Aber als er vor den Aufzügen stand und eine Weile warten musste, dachte er plötzlich, dass Silya die Rose vielleicht unpassend finden könnte. Außer einem gelegentlichem »Hallo«, wenn sie in den Fluren des Call Centers aneinander vorbeigingen, hatten sie noch kein einziges Wort miteinander gesprochen. Also drehte er um und ging zu ihrem Auto zurück. Als er die Blume unter dem Scheibenwischer sah, schüttelte er den Kopf und konnte nicht mehr verstehen, was er sich dabei eigentlich gedacht hatte. Etwas Vulgäreres als ausgerechnet eine rote Rose konnte es kaum geben, herrje, da musste man nicht groß drüber nachdenken, das war ja wohl klar. Nächstes Mal würde er Margeriten kaufen.
Darüber erleichtert, diesen Fauxpas gerade noch rechtzeitig erkannt zu haben, warf er die Blume in einen Abfallbehälter bei den Aufzügen. Doch als er wiederum warten musste, kamen grundsätzliche Zweifel an dem ganzen Plan auf. Er hätte seinen Namen auf die CD schreiben müssen, denn ganz sicher würde Silya nicht irgendeine ihr vollkommen unbekannte Nummer anrufen. Und ohne die Rose war schwer zu erfassen, was es mit dem Song überhaupt auf sich hatte. Vielleicht hatte sie keine Lust auf Rätselraten oder hielt das alles für einen Scherz unter Kollegen. Zudem war das Licht in der Tiefgarage bestenfalls schummrig zu nennen, da konnte so ein kleines Objekt ohne weiteres übersehen werden. Seufzend ging er noch mal zurück, um das zu überprüfen, und als er vor dem Wagen stand, meinte er tatsächlich, dass die CD kaum zu erkennen war. Nein, so ging das wirklich nicht, dachte er, und außerdem würde sie es bestimmt infantil und feige von ihm finden, dass er nicht einfach zu ihr kam und sagte, was zu sagen war.
»Ich Mann grandioso«, sagte er laut zu sich selbst, Marcos Akzent imitierend. »Ich kämpfen wie Katze mit Maus.«
Vor den Aufzügen wartete eine ältere Frau, die David unsicher ansah. Er war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er sie nicht hatte kommen hören. Sie trug die hellblaue Arbeitskleidung der Firma, die für die Reinigung des gesamten Gebäudekomplexes zuständig war.
»Das eben, das war für ein Theaterstück«, sagte er und kam sich dabei wie ein vollkommener Idiot vor. »Ich probe. Morgen ist Premiere.«
Die Putzfrau nickte stumm. Sie sagte auch nichts, als er die Rose wieder aus dem Mülleimer fischte. Aber die Art, wie sie David über den Rand einer rosafarbenen Brille ansah, sagte mehr als genug darüber, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. Als sie ihren sperrigen Putzwagen in den Aufzug zerrte, kam es ihm so vor, als suchten ihre Augen heimlich nach einem Alarmknopf auf dem Touchscreen-Monitor neben der Tür. David tippte auf das Logo der Firma TeleDirectServices in der siebten Etage. Die Putzfrau wollte bereits im Erdgeschoss wieder aussteigen.
Von der untersten Ebene der Tiefgarage bis zum Erdgeschoss brauchte der Aufzug nur wenige Sekunden. Um den Entschluss zu fassen, sein Leben grundlegend zu ändern, war das mehr als genug Zeit. Er würde in Silyas Büro gehen. Jetzt gleich. Er würde sie anlächeln. Er würde ihr die CD (und vielleicht auch die Rose) auf den Schreibtisch legen und sagen, dass er den Song für sie gemacht habe. Er würde ihr außerdem sagen, wie grenzenlos er in sie verliebt sei, ohne jedes Wenn und Aber, für immer und ewig. Und dann würde er einfach hoffen, dass sie ihn ebenfalls anlächelte.