Читать книгу Sallys Song - Frank Hoyer - Страница 14
Der Antrag
ОглавлениеDer Ablauf des Traums war stets gleich. Inhaltliche Variationen kamen genauso wenig vor wie noch so kleine Abweichungen in den Details.
Er hieß Dave, nicht David. Jedenfalls schrieb er - ohne jedes Zögern und ohne selbst darüber verwundert zu sein - diesen Namen auf das Etikett einer Sektflasche, die ihm eine junge Verehrerin entgegen hielt. Auch seine Begleiterin sprach ihn bereits den ganzen Abend so an, was ihm nur recht sein musste, denn er selbst nannte sie nicht Silya, sondern Sally. Wie immer trug sie ein schulterloses Kleid und war bezaubernd schön. Jede einzelne Blüte war stets in exakt dieselbe Haarsträhne eingeflochten, der kleine Delfin schmückte an gewohnter Stelle ihr Dekolleté. Dave verstand nur zu gut, dass die Männer an den anderen Tischen Sally anstarrten - er konnte es ja selbst nicht lassen.
Sally sang ihr Lied und schaute dabei die ganze Zeit zu Dave, so als würde sie ausschließlich für ihn auf der Bühne stehen. Er fühlte, wie sie sein Herz mit Wärme füllte. Sie war die Sonne, um die sein Universum kreiste.
Mit dem Verklingen des letzten Tons löste sich eine Margerite aus ihrem Haar und fiel zu Boden. Für die Dauer einer halben Note herrschte absolute Stille, dann setzte frenetischer Applaus ein. Sallys Versuch, das tobende Publikums mit einer Geste zur Ruhe zu bringen, wurde minutenlang ignoriert. Robert Schroeder, der mit einer rothaarigen Begleitung an Daves Tisch saß, sprang auf und schlug dem Freund vor Begeisterung immer wieder auf die Schultern.
»Vielen Dank ... «, unterbrach Sally schließlich die stehenden Ovationen, »... Danke ... Meine Damen und Herren ... Ich danke Ihnen ... Ihr Beifall gebührt aber nicht nur mir ...«
Der zuvor leiser werdende Applaus stieg erneut zu vehementer Lautstärke an, so als wollte das Publikum Sallys letzter Bemerkung widersprechen. Ferraris südländisches Temperament schäumte sichtlich über, als er auf einen Stuhl stieg und mit Vibrato in der Stimme die Behauptung ausrief, Sally sei eine Göttin.
Sie wandte sich zum Orchester und gab dem Klarinettisten ein Zeichen, worauf dieser das Leitmotiv wiederholte, rinforzando auf dem ersten Akkord, dann rilasciando, langsamer und leiser werdend, bis die aufgeregte Menschenmasse vor der Bühne zur Ruhe fand. Mit einem Finger auf den lächelnden Lippen brachte Sally auch die letzten Zurufe zum Verstummen.
»Meine Damen und Herren«, sagte sie dann, »ich möchte Ihnen den Komponisten Dave Bloom vorstellen.«
Über die Köpfe des Publikums hinweg wurde ein Scheinwerfer auf Dave gerichtet, der überrascht in das grelle Licht blinzelte und mit einer fahrigen Bewegung durch seine Haare fuhr.
»Kommst du bitte zu mir, Dave?«
Das Publikum vor der Bühne bildete eine Gasse, die zur Bühnentreppe führte, und begleitete Daves Weg mit freundlichem Applaus. Ich werde auf keinen Fall singen, dachte er, konzentriert darauf bedacht, auf der Treppe nicht ins Stolpern zu geraten. Die auf ihn gerichteten Blicke machten ihn nervöser, als er selbst erwartet hätte. Auf keinen Fall werde ich singen, dachte er wieder, da er um Sallys Faible für Duette wusste. Und aus welchem anderen Grund hätte sie ihn sonst auf die Bühne bitten sollen?
Das gesamte Orchester stand zur Begrüßung auf. Fast wäre Dave mit dem Kopf an das von der Decke hängende Mikrofon gestoßen, als er sich vorbeugte, um Sallys Wange zu küssen. Ich liebe sie, dachte er, aber ich werde trotzdem nicht singen. Das war alles nicht abgesprochen.
Sally umfasste seine Hände. Er konnte spüren, dass sie trotz der selbstsicheren Fassade, die sie während ihrer Show zeigte, in diesem Moment genauso aufgeregt war wie er auch.
»Liebster Dave«, sagte sie mit bebender Stimme, »es ist ein Jahr her, dass du diesen wunderbaren Song für mich komponiert hat. Ich danke dir dafür. Und ich danke dir für all deine Liebe, die mein Herz erfüllt. Du bist nicht nur ein talentierter Musiker, sondern auch ein wunderbarer Freund, ein liebevoller Mann und ...«
Um nicht zu offenbaren, was nur sie und Dave etwas anging, deckte Sally das Mikrofon mit einer Hand ab und flüsterte ihm einige Wörter zärtlich ins Ohr. Das Grinsen, das darauf über Daves Gesicht ging, kommentierte das Publikum mit Johlen und Pfiffen. Robert Schroeder winkte den Oberkellner mit seiner Kreditkarte zu sich an den Tisch und bestellte Champagner für den ganzen Saal.
»Das wären mindestens hundert Flaschen.«
»Im Kopfrechnen sind Sie großartig«, entgegnete Schroeder dem Einwand. »Aber sind sie auch schnell? In spätestens drei Minuten will ich Ihre Kellner mit vollen Tabletts hier antanzen sehen.«
Während der Oberkellner davoneilte, nahm Sally ihre Hand vom Mikrofon. Schlagartig wurde es so still, dass man ein Notenblatt auf den Boden fallen hören konnte.
»Allerliebster Schatz«, sagte sie, »ich liebe dich von ganzem Herzen und wünsche mir auf dieser Welt nichts sehnlicher, als deine Frau zu werden.«
Das Publikum stand wie erstarrt da. Ferrari war der erste, der die Fassung verlor und den Tränen ungehemmt freien Lauf ließ.
»Mein liebster Dave ... « Sallys Lippen bebten im Einklang mit seinen zitternden Händen, die sie nun wieder umfasst hielt. »...Willst du mich heiraten?«
Daves Stimme versagte völlig. Es war ein Gefühl, als steckte ein Kontrabass quer in seinem Hals. Absurderweise dachte er immer wieder, nicht singen zu können, und er nickte bloß, als er Sally in die Arme nahm und ihre Gesichter sich fanden, ihre Münder, und auf ihrer beider Wangen sich die Tränen mischten und eins wurden.
Und dann wachte er abrupt auf. Die heiße Sonne blendete ihn, als er blinzelnd die Augen öffnete.
»Ja, ja, ja«, murmelte David immer wieder, dem Traum und Silyas Lippen nachsinnend, so als wollte er Daves Stimme im Nachhinein Gehör verschaffen. »Ja, ja, ja!«
»Nein!« würgte er aus der Kehle hervor, nachdem er festgestellt hatte, dass der Vormittag bereits weit fortgeschritten war und Silyas VW natürlich längst nicht mehr auf dem Parkplatz stand. Gnadenlos kasteite ihn eine innere Stimme mit dem Vorwurf, er sei ein verdammter Idiot, zu blöd für die Liebe und das Leben. Travolta winselte auf dem Beifahrersitz. Möglicherweise nahm der Hund die negativen Gedanken seines Herrchens wahr, vielleicht musste er aber auch bloß mal irgendwo ein Bein heben.
Der Georg-Kolbe-Hain, eine zum Grunewald führende Parkanlage, lag nur wenige Hundert Meter entfernt. Während Travolta zwischen den alten Bäumen hin und her flitzte, betrachtete David die Bronzeskulpturen des Bildhauers, nach dem der Park benannt war. Zu sehen waren mehrere überlebensgroße Aktdarstellungen, an denen er sonst sicher achtlos vorbeigegangen wäre, die er nun aber aufgrund der von Silya geäußerten Begeisterung ausgiebig betrachtete, zumal die naturalistische Darstellung des weiblichen Körpers ihn durchaus zu fesseln vermochte. Nach etwa einer Stunde lag Travolta mit hechelnder Zunge im Schatten. David lag daneben, kraulte dem Hund den Kopf und sinnierte über die Frage, warum Silya in seinem Traum sehr helles Haar hatte, so eine Art weizenblond. Er träumte zwar lediglich in schwarz und weiß, wodurch die differenzierte Unterscheidung farblicher Nuancen sicher eingeschränkt war, aber ihre Haare waren in der Realität deutlich dunkler, mehr wie Honig. In diesem Punkt – allerdings nur in diesem – gefiel ihm die wirkliche Welt entschieden besser als die Gebilde, die sein Unterbewusstsein produzierte. Er kannte Fotos von Doris Day, als sie in den 1930er Jahren mit verschiedenen Swingbands in den Ballrooms der amerikanischen Ostküste auftrat, einige Jahre vor ihrer Karriere in Hollywood, und bereits damals hatte sie dieses auffallend helle Haar. Träumte er Silya mit diesem Look, weil das am besten zu seiner Vorstellung von dieser Zeit passte? Oder visualisierte sein Traumbewusstsein diese besondere Art von Glamour, um ihn darüber zu informieren, dass Silya für ihn im Grunde unerreichbar war? Wie ein Filmstar? War sie zu schön, zu groß, zu erfolgreich für einen Typen wie ihn? Vielleicht war er ja deshalb eingeschlafen. Weil er Angst vor der Konfrontation mit der Realität hatte.
Er schrieb Bob eine SMS, um abzusprechen, wie sie das mit den Autos regeln wollten. Dann brachte er Travolta in eine Hundepension, wo sein bester Kumpel Sparky bereits sabbernd am Gartentor wartete. Zu Hause legte er sich ins Bett, konnte aber nicht einschlafen, weil er in Erwartung des Abends zu aufgeregt war. Außerdem hatte er Hunger. Also stand er wieder auf, kochte Kaffee und bereitete ein Omelette mit Kräutern zu. Er frühstückte im Bett, wobei er penibel darauf achtete, die frischen Laken nicht zu beschmutzen. Er hörte Musik, duschte und zog sich an, Jeans und ein weißes T-Shirt wie immer. Mit einem versonnenen Gesichtsausdruck ging er durch das kleine Appartement, wischte Staub, räumte hie und da etwas auf, dachte unentwegt an Silya und spülte das Geschirr.
Gegen Mittag holte er Bob ab, der einen freien Tag hatte. Gemeinsam fuhren sie mit dem BMW zum »Palermo«, wo David in sein Cabrio umsteigen wollte, um anschließend zur Arbeit zu fahren. Dafür war er zwar etwas früh dran, aber er würde die Zeit einfach für ein ausgiebiges Mittagessen in der Kantine nutzen. Manchmal ging Silya auch dorthin. Vielleicht hatte er ja Glück.
Bob trug einen weißen Anzug mit Schlaghosen, dazu ein schwarzes Hemd, das mit roten Rosen bedruckt war. Eine Pilotenbrille mit grünen Gläsern und Schuhe mit Plateausohlen komplettierten das Outfit. An jedem anderen, dachte David, sähe das einfach nur bescheuert aus. Aber Bob trug es mit einer Lässigkeit, als käme er direkt aus den 70ern.
»Ist das ein neues Eau de Cologne?« David schnupperte an Bob, als der sich auf den Beifahrersitz setzte. »Oder ist das der Geruch von Mottenkugeln?«
»Die Frauen werden wie Motten an mir hängen, wenn ich so auf der Sommerparty erscheine.«
David nickte. »Du kannst sie alle haben«, sagte er. »Mir reicht die eine.«
»Ja, ich weiß. Die Stradivari unter den Frauen.«
»Schön formuliert. Was stimmt dich so poetisch?«
»Der Restalkohol.«
Als sie bei Marcos Restaurant ankamen, stieg Bob als erster aus. Da er mit den Plateausohlen nicht fahren wollte, öffnete er den Kofferraum des BMW und zog die blutbefleckten Schuhe vom Vortag an. Dabei entdeckte er die Orchideen.
Er wedelte mit Rutters Visitenkarte in Davids Richtung, der auf der anderen Straßenseite damit beschäftigt war, das Verdeck des Cabrios zu öffnen. »Was hat denn das zu bedeuten?«
»Die Blumen soll ich dir von Rutter geben. Wenn der dich heute Abend in diesem schicken Anzug sieht, verliebt er sich garantiert.«
»Jetzt mal ohne Scheiß, Mozart!«
David startete den Motor, fuhr ein paar Meter, um dann genau neben dem BMW zum Stehen zu kommen. »Herrje, Bob«, sagte er, »lass bloß die Blumen verschwinden. Das ist ein Beweisstück, das dich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen kann. Wenn die Bullen danach fragen, dann sag um Himmels Willen, dass du Rutter in der letzten Nacht nicht gesehen hast. Und überleg dir mal, wie du denen das Blut auf deinen Schuhen erklären willst.«
Bob schaute dem davonfahrenden Renault hinterher. Im Rückspiegel sah David, wie die Blumen in den Kofferraum flogen.