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Begegnung mit Silya
ОглавлениеSilya erwiderte das Lächeln des IT-Abteilungsleiters. Patrick Rutter war, was seine Flirtbemühungen betraf, ziemlich penetrant und hatte sich von ihrer anfänglichen Reserviertheit nicht abschrecken lassen. Sonst konnte sie sich darauf verlassen, mit ihrer kühlen Fassade jedem Mann eine Heidenangst einzujagen. Es gefiel ihr, dass das bei Patrick nicht funktionierte. Er sah sehr gut aus, war charmant, eloquent, und Silya mochte seinen Humor. Er war unverheiratet. Er war der ideale Kandidat für einen Flirt.
»Sehen wir uns morgen, Silya?« fragte er vor den Aufzügen in der Eingangshalle.
»Sicher. Ich habe morgen jede Menge Konferenzen, kleine Besprechungen, große Besprechungen, Meetings aller Art. Es würde mich wundern, wenn wir uns da nicht irgendwo über den Weg laufen.«
»Ich meine, ob wir uns wieder zum Lunch sehen?«
Silya deutete auf den Kaffeebecher aus Styropor in seiner Hand. »Ein Coffee to Go ist nicht gerade das, was ich mir unter einem Lunch vorstelle. Wenn ich jeden Tag zehn Stunden hier bin, brauche ich zwischendurch ein paar Vitamine.«
»Ich habe von meinem Fitnesscoach ein Rezept für einen Drink auf der Basis von Soja, in dem garantiert mehr Vitamine sind, als du überhaupt kennst. Den könnte ich dir heute Abend bei mir zu Hause mixen.«
»Das glaub ich dir, Patrick. Aber das mit den Vitaminen bekomme ich ganz gut alleine hin, keine Sorge.« Mit einem neckischen Blitzen in den Augen sah sie ihn an. »Oder ist das dein üblicher Spruch, wenn du eine Frau zu dir nach Hause einlädst?«
Über Rutters Gesicht huschte ein jungenhaftes Grinsen. »Ich muss das tun«, sagte er. »Ich habe von Kollegen gehört, die Wetten darauf abschließen, dass ich die Betriebsfeier ohne dich verlassen werde.«
»Kann ich da mitmachen? Ich setze fünfzig Euro gegen dich.«
Als die Türen des Aufzuges sich mit einem leise surrenden Geräusch öffneten, war das Gespräch sofort beendet. Doch sie sahen einander an und wussten beide, dass sie es an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit fortsetzen würden. Zunächst wurden sie jedoch fast von einer Reinigungskraft umgerannt, die es sehr eilig zu haben schien. Silya machte einen flinken Schritt zur Seite, damit ihr der Putzwagen nicht über die sündhaft teuren Schuhe rollte. Sie hatte kürzlich einen neuen Store von Prada entdeckt und war wild entschlossen, sich dort zu ruinieren.
»Guten Tag, Frau Frey.«
Silya blickte den jungen Mann im Aufzug mit einem formellen Lächeln an. Sie erwiderte seinen Gruß, ärgerte sich aber über sich selbst, weil sie dem Gesicht keinen Namen zuordnen konnte. Sie hatte erst vor einigen Tagen einen Blick in seine Personalakte geworfen, da sein Arbeitsvertrag in drei Monaten auslief und sie ihre Zustimmung zu einer Verlängerung geben musste. Sie erinnerte sich, dass er eine Teilzeitstelle hatte und irgendein kreatives Fach studierte, Kunst oder Schauspielerei vielleicht, aber offensichtlich seinen Abschluss verbummelte. Normalerweise hatte sie ein gutes Namensgedächtnis, stieß hier jedoch an ihre eigenen Grenzen, was kein Wunder war, da der Abteilung mehr als neunhundert Agents angehörten. Die meisten waren Studenten, Rentner oder Hausfrauen und arbeiteten nur nebenbei, manche vormittags, andere in den Abendstunden oder auch ausschließlich in der Nacht, je nach Bedarf der Firma und den persönlichen Vorlieben der Beschäftigten. Die Fluktuation war branchentypisch groß und der Versuch, alle ihre Mitarbeiter kennenlernen zu wollen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dennoch wollte sie es wenigstens versuchen, denn schließlich konnte man in jedem praktischen Lehrbuch der Personalführung nachlesen, wie wichtig es war, eine persönliche Ebene zu schaffen. Und darüber hinaus war sie nun auch neugierig, was es mit der Rose auf sich hatte, die er krampfhaft festhielt.
»Helfen Sie mir doch mal eben auf die Sprünge. Sie sind Herr ... »
»David Blohm«, sagte er.
Sie nickte. Kaum hatte er seinen Namen ausgesprochen, da kam es ihr so vor, als hätte sie ihn die ganze Zeit gewusst. Er hatte hellblaue Augen, genau wie sie, und er schaute sie mit einem netten Lächeln an. Kurz schien es so, als wollte er etwas sagen, aber dann senkte er den Blick auf die Rose, die dringend etwas Wasser brauchte. Gerade fiel ein Blatt zu Boden.
»Hat jemand in der Abteilung Geburtstag?«
Er zögerte kurz, bevor er den Kopf schüttelte. Er und Patrick Rutter ignorierten einander.
»Ach, Frau Frey, wegen des Termins morgen«, sprach Rutter sie an, »da sende ich Ihnen dann im Laufe des Tages eine E-Mail.«
»Gerne, Herr Rutter.« Sie war ihm dankbar, dass er sie formell und nicht mit ihrem Vornamen angeredet hatte. Der Agent musste nichts über den Stand ihrer persönlichen Beziehung zu Patrick wissen.
Der Aufzug fuhr lautlos in die siebte Etage, wo Silya als erste ausstieg. Für einen flüchtigen Abschiedsblick drehte sie sich zu Rutter um, dessen Abteilung eine Etage höher untergebracht war. Er wischte verärgert über einen Kaffeefleck auf dem rechten Ärmel seines hellen Leinenanzuges. Silya war etwas verwundert über David Blohms Ungeschicklichkeit, denn eigentlich war der Aufzug groß genug für den gesamten Firmenvorstand nebst Sekretärinnen. Bestimmt war das ein Irrtum ihrerseits, aber zumindest für einen kurzen Moment hatte es fast den Anschein gehabt, als hätte er den IT-Abteilungsleiter mit Absicht angerempelt.
Rutter blickte Blohm verärgert an. »Die Reinigung bezahlen Sie.«
»Sorry«, sagte Blohm. Er machte ein solch zerknirschtes Gesicht, dass Silya nun sicher war, sich getäuscht zu haben.
Rutter hatte für die Entschuldigung nur einen verächtlichen Blick übrig. Er stimmte jedoch zu, als Silya den Vorschlag machte, er sollte gleich auf dieser Etage aussteigen und den Kaffeefleck so schnell wie möglich mit warmem Wasser auswaschen.
Der Flur vor den Aufzügen führte zu einer Glastür, auf der das Logo der TDS angebracht war. Silya nestelte an der ID-Card herum, die mit einem Clip am Revers ihres Jacketts befestigt war. Doch Blohm war ihr einen Schritt voraus und steckte seine Karte bereits in das Lesegerät neben dem Türgriff. Eine rote Leuchtdiode und ein akustisches Signal machten dezent darauf aufmerksam, dass der Zugang verweigert wurde. Blohm drehte seine Karte um und versuchte es ein zweites Mal. Als die Tür sich wieder nicht öffnen ließ, schaute er die Karte nervös von allen Seiten an.
»Soll ich es vielleicht mal probieren, Herr Blohm?«
»Ich weiß auch nicht, was los ist«, sagte er und steckte die Karte hektisch und gleich mehrmals hintereinander in das Lesegerät.
Rutter flüsterte Silya etwas ins Ohr, allerdings so laut, dass Blohm die Worte »dämlicher Rosenkavalier« ebenfalls verstehen musste. Besonders lustig konnte Silya das nicht finden, was sie Rutter mit einem genervten Augenaufschlag auch wissen ließ. Allerdings wurde sie allmählich selbst ungeduldig. Sie hatte an diesem Tag ein zwölfstündiges Arbeitspensum vor sich und ganz bestimmt keine Zeit, die sie vor dieser Tür verplempern konnte.
»Was muss ich tun, damit sie es mich versuchen lassen, Herr Blohm?« fragte sie so freundlich wie möglich.
Er schaute sie stumm an. Silya hatte den Eindruck, als überlegte Blohm ernsthaft, was er auf ihre Frage antworten sollte. Dann trat er aber doch mit einem Achselzucken zur Seite.
Nicht nur, dass die blöde Rose ein Blütenblatt nach dem anderen verlor, sondern natürlich konnte Silya die Tür bereits mit dem erstem Versuch öffnen, was David nun wirklich wie einen unfähigen Idioten dastehen ließ. Seine Einschätzung der Lage wurde durch einen sarkastischen Blick Rutters bestätigt.
Er hielt den beiden Abteilungsleitern die Tür auf. Wenigstens das kriege ich hin, dachte er. Nur das Sprechen sollte er noch etwas üben. Für jemanden, der seinen Lebensunterhalt am Telefon verdiente, war das nun wahrhaftig blamabel, was er sich eben geleistet hatte. Und für jemanden, der eigentlich die erste Gelegenheit nutzen wollte, um seiner Verliebtheit Ausdruck zu geben, war das nicht bloß blamabel, sondern geradezu niederschmetternd. Von Anfang an, als die Aufzugstür aufgegangen war und Silya und dieser Rutter einander so vertraut angeschaut hatten, hatte er das Gefühl gehabt, in ein Saxofon mit blockierten Klappen zu blasen. Um den Leiter der IT-Abteilung zu erkennen, hatte er gar nicht erst auf dessen ID-Card schauen müssen, denn Rutter entsprach ziemlich genau der Beschreibung, die Bob von ihm gegeben hatte.
Im vorderen Bereich der Abteilung befanden sich neben den Toiletten eine Garderobe und ein großer Pausenraum mit Automaten für Getränke und Snacks. Daran schloss ein Büroraum an, der bis in den letzten Winkel mit Aktenschränken vollgestellt war. Aus einem dieser Schränke nahm David einen mit seinem Namen beschrifteten Behälter aus schwarzem Plastik, in dem er ein Headset und einige Unterlagen aufbewahrte. Er stellte sich an einen Tisch in der Nähe der Tür und tat so, als würde er Papiere ordnen. Von hier aus konnte er Silya und Rutter sehen, die vor den Toiletten standen und ein lebhaftes Gespräch führten. Der Kaffeefleck schien vergessen zu sein, dafür fingerte Rutter ziemlich dreist an Silyas Bluse herum. David konnte nicht erkennen, ob es da ein Haar oder einen Flusen zu entfernen gab, aber wie auch immer, jedenfalls nahm sie es amüsiert hin, wie der Typ ihrem Busen immer näher rückte. Ganz offensichtlich fühlten die beiden sich unbeobachtet.
Zur Unterbrechung dieser Vorstellung bedurfte es eines Paukenschlags. Er gab dem Plastikbehälter einen Stoß, der darauf vom Tisch fiel und auf das Linoleum polterte.
Um Silya nicht in Verlegenheit zu bringen, kniete David mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden und stopfte einen Wust loser Blätter zurück in den Behälter. Sie sollte nicht wissen, dass er sie beobachtet hatte. Es dauerte bloß wenige Sekunden, bis er eine Tür zuschlagen hörte. Wahrscheinlich hatte Rutter sich wieder an den Fleck auf seinem Anzugärmel erinnert. Dann hörte er das Klappern von Silyas Schuhen. Sie kam in seine Richtung. Eilig raffte er die restlichen Blätter, die noch herumlagen, zusammen.
»Heute ist wirklich nicht Ihr Tag, was, Herr Blohm?«
David wandte sich Silya mit einem Lächeln zu. Sie war eine sehr schöne Frau. Natürlich war das für ihn kein neues Faktum, aber nichtsdestotrotz überkamen ihn gerade jetzt deswegen Zweifel an seinem Vorhaben. Er selbst war von eher durchschnittlicher Statur, während Silya für eine Frau recht groß war und ihm um einige Zentimeter überragte. Ihm machte das nichts aus, eher im Gegenteil, er hatte schon immer Gefallen an großen Frauen gefunden. Aber sie, wie sah sie das? Was die Größe und andere optische Vorzüge betraf, konnte er einem Vergleich mit Rutter nicht standhalten. Bob hatte ganz recht, wenn er ihn mit diesem Schauspieler aus Hollywood verglich.
Sie deutete auf die Rose, die neben dem Plastikkoffer lag. »Wem immer Sie die geben wollten«, sagte sie, »vergessen Sie’s besser.«
David stimmte ihr mit einer gemurmelten Bemerkung zu. Was da zerquetscht auf dem Boden lag, war rot und grün, hatte ansonsten jedoch sämtliche Merkmale ihrer wahren Natur eingebüßt. Aber bezog sich Silyas Aussage lediglich darauf? Oder ahnte sie längst, was mit ihm los war? Hatte er sie möglicherweise das eine oder andere Mal zu lange angeschaut? Natürlich hatte er das getan, das war gar nicht die Frage, auf die es ankam. Aber hatte sie es überhaupt bemerkt? Er hatte sie mit Blicken verfolgt, sie angestarrt, eindringlich und unverhohlen. Doch hatte er sich immer eingebildet, ja eingeredet, dass die Entfernung zwischen ihren Schreibtischen zu groß sei, um ihr einen berechtigten Anlass zu geben, über seine Blicke Vermutungen anzustellen. Und trotzdem hatte er sich manchmal ertappt gefühlt und die Augen niedergeschlagen, sobald sie in seine Richtung geschaut hatte. Wusste sie also um seine Verliebtheit? Wollte sie ihm die Peinlichkeit eines Geständnisses ersparen? Weil es, was sie betraf, sinnlos war?
»Ja, das ist wirklich nicht mein Tag«, sagte er mit einem theatralischen Seufzer, der immerhin den Effekt hatte, dass er sie damit zum Lachen brachte. Er mochte die Wärme und Freundlichkeit, die in ihrer Stimme lag. Er mochte die Geste, mit der sie sich gerade jetzt eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Himmel, es gab überhaupt nichts, was er an dieser Frau nicht gemocht hätte. Sie war – er hatte kein anderes Wort dafür, was er in diesem Moment empfand -, sie war einfach bezaubernd. Sogar wie sie auf ihre Armbanduhr schaute war bezaubernd.
»Sie sind etwas spät dran, mmh?«
David nickte. Er hätte bereits vor zehn Minuten an seinem PC angemeldet sein müssen.
»Na, macht nichts. Kommen Sie morgen einfach etwas früher, ja?«
»Äh ... Ja.«
Sie wünschte ihm einen schönen Arbeitstag und ging weg, ohne eine Erwiderung abzuwarten. David sah ihr hinterher. Er empfand den Impuls, sie aufzuhalten und mit ihr zu sprechen, wie das beständige Ticken eines Metronoms. Warum, versuchte er selbst Klarheit zu gewinnen, warum tat er es nicht einfach? Was machte ihn so sprachlos, wenn er ihr gegenüber stand? Was ließ sein Herz rasen? Was ließ seine Hände so sehr zittern, dass er nicht mal mehr eine Tür öffnen konnte? Was war eigentlich anders als bei den Frauen, in die er zuvor verliebt gewesen war? Warum hatte er das Gefühl, dass er ausgerechnet Silyas Ablehnung nicht ertragen könnte?
Sein Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken an. Er hatte auf all diese Fragen keine Antworten. Er fand sein Verhalten ja selbst absurd. Er ging in den Pausenraum, wo er aus dem Automaten eine Cola zog und eiskalt runterspülte.
Das Großraumbüro verfügte über fünfhundert PC-Plätze, von denen zu dieser Tageszeit allerdings nur zwei Drittel besetzt waren. Bis zum Abend würden nach und nach immer mehr Kollegen ihre Arbeit aufnehmen und die dann pausenlos klingelnden Telefone bedienen. Jetzt war es ruhig und David wunderte es deshalb kaum, als er Franzi bei der Lektüre eines juristischen Lehrbuchs antraf. Sie war im zehnten Semester und hatte kürzlich das Staatsexamen abgelegt.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Hat der Renault wieder Zicken gemacht?«
»Mit dem Wagen ist alles klar«, sagte David und setzte sich an den freien Schreibtisch rechts von Franzi Platz. Der Computer war bereits eingeschaltet, sodass er sich direkt mit seiner ID-Card, die er in einen Kartenleser schob, anmelden konnte. Nachdem er ein Passwort eingegeben hatte, flimmerte eine Textzeile von rechts nach links über den Monitor: Nicht vergessen – nur noch ein Tag bis zum Sommerfest!
Die Arbeitsplätze waren durch schalldämmende Wände voneinander abgetrennt, was bedeutete, dass die Agents, wie die Telefonisten im üblichen Jargon des Call Centers genannt wurden, einander bei der Arbeit nicht ansehen konnten. Um seine Neugierde zu befriedigen, stieß Franzi sich von der Schreibtischkante ab, worauf sie mit dem Bürostuhl nach hinten rollte. Dabei wurde jedes Geräusch von einem speziellen Teppich absorbiert.
»Hast du mit ihr gesprochen?« fragte sie flüsternd. »Du siehst voll genervt aus.«
Franzi würde eine prima Staatsanwältin abgeben, dachte David. Die Fragerei hatte sie jedenfalls schon ziemlich gut drauf. »Wir sind zusammen im Aufzug hochgefahren. Dieser Rutter war auch dabei.«
»Und?«
»Nix und. Da konnte ich ja schlecht mit ihr sprechen«, sagte David leise. Er holte das Headset aus dem schwarzen Plastikkoffer und verkabelte es mit der Telefonanlage. »Rutter hat sich mit Kaffee bekleckert. Möglicherweise habe ich ihn ein klein wenig geschubst.«
»NEIN!« Franzi schlug David feixend auf den Arm. »DAS HAST DU NICHT GEMACHT! KOMM, DAVID, SAG MIR, DASS DU DAS NICHT WIRKLICH GEMACHT HAST!«
Zwei Dutzend erstaunte Gesichter starrten sie fragend an. Ein Trainer, der ein paar Meter weiter einen neuen Mitarbeiter coachte, machte mit einer unmissverständlichen Geste deutlich, dass sie gefälligst leise sprechen solle. Dann zeigt er auf eine an der Wand angebrachte Uhr, um David wissen zu lassen, dass er dessen Verspätung bemerkt hatte.
Während Franzi einen Call annahm, startete David ein paar Programme, die er für den Job brauchte. Er setzte das Headset auf und rollte seinen Stuhl ein Stück zurück. Aus dieser Position konnte er genau in Silyas Büro schauen, das an der Frontseite komplett aus Glas gebaut war. Sie saß nicht an ihrem Schreibtisch.
Franzi sprach gelangweilt in das Mikrofon des Headsets. »Natürlich senden wir Ihnen die Ware bis übermorgen zu ... Ja, wie im Katalog angegeben«, sagte sie zu ihrem Kunden und schaute David eindringlich an. »... Ja, kein Problem ... Wie möchten Sie zahlen? ... Ihre Kartennummer bitte ... «
David dachte kurz darüber nach, ob er die CD nicht einfach auf Silyas Schreibtisch legen sollte. Dort würde sie das Geschenk kaum übersehen können. Aber er lief im Kreis, was seine Überlegungen betraf, denn diesen Punkt hatte er doch eigentlich bereits abgehakt und sich entschlossen, ihr seine Empfindungen colla voce mitzuteilen. Er würde sich überwinden und mit ihr sprechen müssen. Nur war das Büro dafür sicher nicht der geeignete Ort. Beim Sommerfest der Firma hingegen könnte er viel zwangloser ein Gespräch mit ihr beginnen. Eine laue Sommernacht, ein paar Gläser Wein zur Entspannung, Musik, ein Himmel voller Sterne, herrje, wenn er es dort nicht schaffte, den Mund aufzumachen, würde er halt ein einsames und unglückliches Leben führen müssen, das war gewiss.
»... vielen Dank für Ihre Bestellung und das nette Gespräch. « Franzi unterbrach die Verbindung, indem sie ein dafür bestimmtes Icon auf dem Monitor anklickte. Um das System zu deaktivieren und keine weiteren Anrufe durchgestellt zu bekommen, klickte sie auf ein zweites Icon. »Und jetzt will ich alles ganz genau wissen«, sagte sie zu David. »Du hast ihn wirklich geschubst? Habt ihr euch etwa geprügelt?«
»Quatsch, so verzweifelt bin ich noch nicht. Es war nur ein kleiner Rempler. Mehr aus Versehen als aus Absicht.«
»Aber ein bisschen absichtlich war es schon. Wieso?«
»Na hör mal, Franzi, der Typ flirtet mit meiner Freundin.«
»Deine Freundin?« Franzi tippte an Davids Stirn. »Ich versteh ja nicht viel von psychiatrischer Diagnostik, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es für diese Form verzerrter Wahrnehmung einen Namen gibt.«
David grinste. »Ich mach doch nur Spaß.«
»Dein Humor war schon mal besser. «
Sie loggten sich wieder in das System ein und nahmen ein paar Anrufe entgegen. Wenn zwischendurch etwas Zeit war, berichtete David vom weiteren Verlauf der Dinge. Die Rose ließ er unerwähnt, da sie ihm nun selbst höchst peinlich war, erzählte dann aber, wie es zu dem Gespräch im Aktenraum gekommen war.
»Und? Hast du ihr endlich was gesagt?«
»Na ja ...nicht direkt?«
»Nicht direkt? ... Also gar nicht?«
»Ich hab noch nicht die richtigen Worte gefunden.«
»Willste mit der Frey ins Bett oder ’n Buch darüber schreiben? Geh zu ihr ins Büro und sag einfach irgendwas. Erzähl ihr von deinem Traum. Frauen stehen auf so ’nen Scheiß.«
David wiederholte Franzis letzte Bemerkung mit übertriebener Betonung. »Also echt, das hört sich genau nach dem Tipp an, den ich brauche.«
Franzi unterbrach David mit einem Handzeichen, da ihr ein Signal auf dem Monitor einen Call anzeigte. Sie klickte auf das entsprechende Symbol, um das Gespräch anzunehmen, nannte einen falschen Namen und teilte dem Anrufer mit, er sei falsch verbunden.
»Ich versteh eh nicht, wieso du ’n Tipp brauchst. Du hast dich sonst nie so blöd angestellt, wenn’s um irgendwelche Frauen ging.«
»Irgendwelche sind mir ja auch egal. Aber hier geht’s um die Mutter meiner Kinder.«
»Wie du das ohne jede erkennbare Spur von Ironie sagen kannst, das macht mir echt Angst«, meinte Franzi. »Aber wenn ich dir einen Rat geben soll, dann geh die Sache mal etwas langsamer an. Du verhältst dich nämlich wie ein typischer Jurastudent im ersten Referendariat. Die machen auch immer alles mit Blaulicht und Sirene. «
»Du meinst, ich übertreibe fürchterlich?«
»An deiner Stelle würde ich ihr nicht gleich was von Liebe oder so erzählen. Das mit den Kindern solltest du in den nächsten fünf Jahren besser ganz weglassen.«
»Wir könnten uns übers Wetter unterhalten.«
»Ja, meinetwegen. Oder frag sie mal, was das für ein komisches Tier auf ihrem Schreibtisch ist, das in Acryl. Würde mich persönlich auch interessieren.«
»Das ist eine Pennatularia«, sagte David. »Eine Federkoralle«, fügte er erklärend hinzu, als er Franzis perplexes Gesicht sah. »Ich hab’s gegoogelt.«
Über ihren Köpfen blinkten auf einem Display plötzlich einige rote Zahlen auf, die das Volumen der eingehenden Anrufe bezifferten. Von einer Sekunde zur nächsten waren alle Leitungen besetzt, es kam Call auf Call, die Agents hatten alle Hände voll zu tun, um die Kunden abzuarbeiten, die wegen eines Werbespots in einem TV-Shoppingkanal anriefen. Die relaxte Atmosphäre kippte für einige Minuten in angespannte Hektik um, doch dann war der Ansturm genauso schnell wieder vorbei wie er gekommen war. David lehnte sich zurück, um einen Blick in Silyas Büro zu werfen. Sie war nicht dort.
»Hast du sie denn schon mal gegoogelt?«
»Silya?« David drehte den Kopf in Franzis Richtung. »Ja. Hab’ aber nix gefunden.«
»Das kann gar nicht sein«, sagte Franzi entschieden und rief mit zwei Klicks die Suchmaschine auf, die sie in der Favoritenliste des Internet Explorers gespeichert hatte. »Irgendwas findet man immer.«
Sie klickte die ersten zehn Treffer, die ihre Suchanfrage ergeben hatte, nacheinander an. Beim elften Match stieß sie schließlich einen triumphierenden Pfiff aus. »HA, DA HAB’ ICH SIE!«
»Spinnst du?« David verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Muss ja nicht gleich jeder mitkriegen.«
»Ja, ja, schon gut«, sagte Franzi leise. »Hier sieh mal: S. Frey mit Adresse in Berlin. Das muss sie sein ... Oh, welch exotisches Hobby. Sie züchtet Goldhamster.«
David schüttelte den Kopf. »Das ist sie nicht. Scroll mal weiter runter. Da ist irgendwo ein Foto.«
Franzi musste eine scheinbar endlose Bildergalerie preisgekrönter Hamster durchklicken, bis sie endlich das Foto der Züchterin fand. »Du hast recht«, gab sie zu. »Das ist sie nicht. Die hier sieht selber wie ein Goldhamster aus.«
Während David einige Kunden abfertigte, surfte Franzi weiter durchs Internet. An einem ruhigen Nachmittag wie diesem fiel es nicht unbedingt auf, wenn sich der eine oder andere Agent mal für ein paar Minuten aus dem Job ausklinkte. Und da Franzi zum Monatsende gekündigt hatte, um dann eine Stelle bei der Berliner Staatsanwaltschaft anzutreten, hatte sie in der Firma quasi den Status der Narrenfreiheit erreicht.
»Sie hat BWL studiert«, raunte sie David schließlich zu. »Zuerst drei Jahre an einer privaten Uni in der Schweiz. Da hat sie mit einem Bachelor abgeschlossen. Ihren Master hat sie vor drei Monaten gemacht. Rate mal, wo.«
»Keine Ahnung.«
»Es war auf jeden Fall kostspielig.«
»Franzi«, stöhnte David ziemlich genervt, »das hier ist kein Verhör. Du darfst mir alle Informationen auf einmal geben.«
»Hm, warte mal.« Sie war neugierig geworden und rief erneut die Suchmaschine auf, um die Kosten von Silyas Studium zu überprüfen. »Um das zu bezahlen, musst du entweder einen reichen Papa haben oder eine Bank überfallen.«
»Hey, kannst du das eventuell später machen? Mail mir mal den Link.«
»Hast du längst.«
»Wie?«
»Schau einfach ins Intranet. Die Firmenpräsentation ist heute aktualisiert worden. Da ist auch ein Foto.«
Das Foto zeigte Silya im Gespräch mit dem Pressesprecher der Firma. Sie lachte und war wunderschön. David las das Interview, in dem sie vor allem über ihre Motivation für den Job und die strategische Ausrichtung der TeleDirectServices sprach. Irgendwie hing das zusammen, war für ihn aber über mehrere Seiten hinweg kaum nachvollziehbar, weil ihm das betriebswirtschaftliche Vokabular, das sie benutzte, völlig fremd war. Ihren Master hatte sie an der Harvard Business School gemacht, was David aber nur halb so beeindruckte wie Franzi. Ihn interessierten vielmehr die Passagen, in denen sie persönliche Dinge preisgab. So erzählte sie, dass sie zum Ausgleich für die Arbeit im Büro jeden Tag durch den Berliner Forst jogge, wobei Start- und Zielpunkt immer das ehemalige Atelierhaus des von ihr bewunderten Bildhauers Georg Kolbe sei.
Franzi rollte mit ihrem Stuhl an Davids Schreibtisch. »Sag ihr, deine Schwester will nach Harvard. Bitte sie um ein paar Tipps.«
»Ist dir entfallen, dass ich gar keine Schwester habe?«
»Dann sag meinetwegen, dass deine Oma nach Harvard will ... Oder die Tochter von der Schwester des Onkels von dem Vater deiner Nachbarin. Es ist ganz egal, was du sagst. Du solltest nur endlich mit ihr sprechen.«
»Oder ich kaufe mir Turnschuhe. Solche Dingsbums zum Joggen.«
»Vergiss es. Sie läuft jeden Tag zehn Kilometer.« Franzi deutete mit einer wenig schmeichelhaften Geste auf Davids Bauch. »Du dagegen hast zehn Kilo Übergewicht, wenn ich das mal so sagen darf, und es würde mich wundern, wenn du auch nur hundert Meter mithalten könntest.«
»Dann könnte morgen der erste Tag eines neuen Lebens sein.«
»Gute Idee. Aber fang dein neues Leben besser mit einer kleinen Runde im Stadtpark bei dir um die Ecke an. Und lass Bob vorher ein Belastungs-EKG machen.«
Darauf ging David nicht ein. Dass er an seiner Kondition arbeiten musste, wusste er selbst. Und wenn Silya auf sportliche Typen stand, würde er das auch tatsächlich tun. »Ich habe vorhin mit Bob telefoniert«, sagte er. »Er meint, du wüsstest was über Silya und diesen Rutter.«
»Alles nur Gerüchte. Aber, hey, wenn ich auf Frauen stünde, würde ich sie bestimmt nicht von der Bettkante schubsen.«
»Wieso?« fragte David verblüfft. »Du meinst, sie steht auf Frauen?«
»Ich meine gar nichts. Ich weiß ja so wenig über sie wie du. Aber wenn du mich fragst, würde es mich wundern, wenn sie lange solo bliebe. Wenn sie es überhaupt ist.«
Franzi nahm einen Anruf entgegen. Ein Kollege, dessen Schicht begann, besetzte den freien Platz links neben ihr. Als sie den Call beendete, bat der Typ sie um einen Rat wegen irgendwelcher juristischen Probleme, die er hatte. David vermutete, dass das eine ganze Weile dauern würde. Er rollte seinen Stuhl zurück und beobachtete Silyas leeres Büro. Franzi hatte natürlich recht. Er wusste überhaupt nichts über Silya. Aber in der Kurzbiografie auf der Firmenseite hatte sie angegeben, sie sei unverheiratet. Das bedeutete nicht unbedingt viel, ließ aber Raum für Hoffnung.