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Der Spieler und sein Bauer

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Im Laufe des Vormittags hatte sich Yunis Stimmung allmählich wieder aufgehellt. Er hatte quasi ein Date mit Eva, die Schule war aus, die Sonne glühte in voller Stärke und Andi und Sergio würden schon im Park auf ihn warten. Die würden Augen machen, sobald er ihnen von Eva erzählte, wie er locker eine Verabredung mit ihr klargemacht hatte. Dass es nur ein vielleicht und kein fester Termin war, war nur eine Nebensächlichkeit. Genauso wie die Geschichte mit Christian Bismarck und seinen Bullie-Freunden. Diese würde er großzügig aussparen. Auf solche Details kam es nicht an.

In einem Strom aus Schülern schwamm er aus dem Pausenhof ins richtige Leben, auf die Straße. Er war völlig darin versunken, wie er die Geschichte für seine Freunde möglichst so ausschmücken konnte, dass er wie der größte Stecher unter der westlichen Hemisphäre wirkte, als es plötzlich dunkel um ihn herum wurde. Gerade noch geblendet, befand sich Yunis im Schatten eines großen Mannes, der mitten auf dem Gehweg stand. Er war riesig und die schwarze Silhouette stand direkt vor der Sonnenscheibe, wie bei einer Sonnenfinsternis. Der leichte Wind spielte mit dem schlohweißen Haar. Die feinen, eisengrauen Strähnen darin funkelten und blitzten im Sonnenlicht.

»Hallo Yunis.«

Yunis war völlig perplex und noch halb im Gedanken an Eva, halb in der Wirklichkeit. Sein Gehirn brauchte eine kurze Warmlaufzeit, um die echten Sinnesreize wieder zu verarbeiten. Die Synapsen, auch träge von der Hitze, schalteten widerwillig die Verbindung zwischen Auge, Gedächtnis und schließlich der Zunge.

»Oh, Hallo Herr Greif … was machen Sie denn hier?«

»Nichts Besonderes, ich kam hier nur gerade durch nach der Stadtratssitzung. Ich wollte mir ein bisschen die Beine vertreten und einen Döner holen.«

Yunis konnte es nicht glauben, der feine Pinkel im Jackett und den manikürten Fingernägeln sollte Döner essen? Never.

»Wo gehn Sie hin?«

»Was für eine Frage, natürlich unten zu Gül, da gibt‘s den Besten.«

»Und ich dachte schon, Sie kennen sich aus, Mann. Den Besten gibt‘s nur bei der Cantine.«

»Hey, Ali ist ein guter Typ, aber er tut immer einen Tick zu viel von der Kräutersoße rein. Die matscht am Schluss das Brot durch.«

»Ja und wie, ich sag‘s ihm jedes Mal. Aber Geschmack ist Top, da kann Gül nicht mithalten.«

»Der Trick bei Gül ist«, Greif begann zu flüstern und tat so, als handele es sich um das am strengsten gehütete Geheimnis der Republik, »du musst das Jungbullenfleisch ordern, das hebt die Geschichte auf ein ganz neues Level.«

»Jungbulle? Was ist das denn?«

»Sowas hast du noch nicht gegessen, Yunis. Es zergeht einfach nur auf der Zunge und hat einen feineren Geschmack als Lamm oder Hähnchen je haben können und kombiniert mit der perfekt ausgewogenen Sauce von Gül und dem frisch gebackenen Brot … unschlagbar sag ich dir.« Yunis lief das Wasser im Mund zusammen und er merkte erst jetzt, wie hungrig er eigentlich war. Er hatte wahrscheinlich noch nie in seinem Leben so viel Lust auf einen Döner gehabt.

»Hast du Lust? Ich spendiere einen.« Yunis dachte an Andi und Sergio. Na ja, die brauchten eh etwas länger vom Sportplatz aus, da konnte er auch noch schnell was futtern gehen. Umsonst auch noch. Seine Geschichte würde immer besser werden. Erst Mädchen klargemacht und dann noch gratis Döner abgestaubt.

»Ja, klar Mann.«

»Sehr schön, dann auf geht‘s.«

Yunis wollte gerade neben Greif losgehen, da wurde er von hinten hart angerempelt. Er verlor beinahe das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch an einem Laternenmast festhalten.

»Na, hat deine Mutter schon wieder genug Schwänze gelutscht, um eine neue Scheibe Toast zu kaufen?« Christian Bismarck war sichtlich angepisst, dass er in der großen Pause unterbrochen wurde.

»Oder machst du das jetzt schon selbst?« Er nickte in Greifs Richtung.

»Geh weg, Mann.« Yunis stand wieder halbwegs sicher auf den Beinen.

»Geh weg, Mann«, äffte ihn Christian nach. Sein Lieblings-Move.

»Fick dich, du Spast, diesmal ist Eva nicht da.«

Christian schubste Yunis gegen die Laterne. In Yunis war sofort wieder die alte Wut da, die seinen Kopf rot anlaufen und sein Herz wild rasen ließ. Kochende Wut und gleichzeitig diese völlig lähmende Ohnmacht, die es ihm unmöglich machte, etwas zu tun oder zu sagen. Sein Kopf war wie leer, seine Muskeln taub. Die Gedanken drehten sich im Leerlauf um sich selbst.

Was ist nur los? Was ist los, verdammt? Immer wieder das Gleiche. Seine Mutter, der Basketballplatz, Christian Bismarck. Sein Mathelehrer Herr Storch, der ihn heute in der Stunde aufgerufen hatte, und er völlig blank war, weil er mit Gedanken in seiner eigenen Welt war. Totale Leere, wenn es drauf ankam.

Greif hatte die ganze Zeit locker danebengestanden und sich die Szene angesehen, die Hände in den Hosentaschen. Jetzt ging er bestimmt auf Christian zu. Er packte den kleineren Jungen zwischen Schlüsselbein und Halsansatz und grub seine filigranen Finger, die nun aber wie die Klauen eines Tieres anmuteten, tief in dessen Fleisch.

»He, was …« Christian wusste gar nicht wie ihm geschah, er hatte den großen dürren Mann bisher nur peripher wahrgenommen. Ihn gar nicht mit seinem Opfer in Verbindung gebracht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Yunis, der es gewagt hatte, heute Vormittag seiner Tracht Prügel zu entgehen. Greif kam wie das gleichnamige Fabelwesen über den Jungen, wie der Habicht über das ahnungslose Kaninchen, nicht wissend, dass es gleich sterben würde.

»Komm mal mit, junger Mann.«

Scheinbar mühelos führte Greif den wesentlich massigeren Jugendlichen ein paar Meter weiter, die Hand lag schwer und unnachgiebig, wie eine Bärenfalle an dessen Hals und presste unerbittlich auf Schlagader und Luftröhre. Yunis wusste ebenso wenig wie Christian, was da eben geschah. Das ganze Schauspiel lief nach außen hin so unauffällig ab, die umstehenden Schüler nahmen von dem seltsamen Paar nicht einmal Notiz. Nur Yunis schaute gebannt dabei zu, wie sich Greif ganz dicht an Christians Ohr beugte, so dicht, dass seine Nase fast den Kopf des Jungen berührte. Christian roch den warmen Atem, wie von einem Raubtier an seinem Hals. Während der große Mann sprach, wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht des Bullies. Er hatte jegliche Gegenwehr aufgegeben, hielt, wie aus einem Überlebensreflex heraus, komplett still und hörte nur noch gebannt den Worten Greifs zu. Das Ganze dauerte nicht einmal eine Minute. Dann lockerte Johannes seinen Griff und entließ den verstörten Jugendlichen aus der schmerzhaften Falle, der seinerseits so schnell er konnte wegstolperte, um Distanz zwischen sich und seinen Peiniger zu bekommen. Sein Blick war eine groteske Mischung aus Furcht und Hass. Die blonden Haare standen in Büscheln in alle Richtungen an. Er zog ohne ein weiteres Wort, seinen brennenden Halsansatz reibend, davon.

»Was … was war das?« Yunis konnte es immer noch nicht so recht glauben. »Was haben Sie ihm gesagt?«

»Ach, weißt du«, Greif lächelte verlegen, »ich kenne zufällig seinen Vater ganz gut aus diversen Wirtschaftsforen. Ich habe ihm nur in Erinnerung gerufen, dass es seinem Alten Herrn wohl gar nicht gefallen würde, wenn er wegen seines ungezogenen Sohnes ab jetzt auf staatliche Fördergelder verzichten müsse.«

Er kratzte sich am Kopf und lachte, die filigrane Hand sah wieder so aus als könnte sie nicht einmal eine Fliege zerquetschen. Yunis stimmte mit ein.

»Stark, Mann.«

»So jetzt aber dann mal los, meine Mittagspause geht nicht so lange und ich habe mörderischen Hunger.«

Das ungleiche Duo ging eine Weile schweigend nebeneinanderher. Sie überquerten die viel befahrene Pillenreuther, die sich wie ein Fluss zwischen endlosen Wohnbaracken dahinschlängelte und schlugen den Weg zum hässlich, grünen Südstadtzentrum ein. Dort, am Ende der Straße, tauchte schon das rote Schild von Gül auf. Eine kleine Schlange Menschen davor versuchte sich irgendwie vor der glühenden Sonne zu schützen und unter die Markise zu drängen. Es roch nach gebratenem Fleisch, das zusammen mit den Autoabgasen der vierspurigen Straße ein einzigartiges Aroma ergab. Greif musste es behutsam angehen. Der Junge wurde offensichtlich gemobbt und schikaniert. Er betrachtete Yunis von der Seite. Klein, schlaksig, dürr, zerschlissene Klamotten, still. Die typischen Zeichen der Verwahrlosung, die er schon so oft auf den Straßen der Südstadt gesehen hatte. Die er selbst auch an sich getragen hatte. Damals, in einem anderen Leben. Der Junge hatte ein hübsches Gesicht mit feinen Zügen, dem eine tiefe Traurigkeit innezuwohnen schien. Dazu passend noch die undurchdringlichen haselnussbraunen Augen. Greif empfand so etwas wie Mitleid. Das war gut so, so würde es auch allen anderen Menschen gehen. Der Junge war perfekt.

»Sag mal, was war das da eigentlich gerade?«, fing Greif an, sich vorsichtig vorzutasten.

»Ach nichts. Der Typ ist ein Trottel.«

»Das habe ich gesehen. Warum hast du dich nicht gewehrt?«

Yunis sagte lange nichts.

»Ich weiß es nicht. Ich kann einfach nicht. Es ist irgendwie als – ich weiß auch nicht – als wäre mein Kopf leer und ich würde plötzlich alles vergessen. Alle Worte, alle Gedanken. Sogar wie ich mich bewege. Klingt total bescheuert, oder?«

»Das klingt kein bisschen bescheuert. So ging es mir früher auch, als ich so alt war wie du. Und sogar noch lange danach.« Yunis sah zu dem großen Mann auf, der direkt nach oben in die Sonne zu blicken schien.

»Sie? Niemals, Sie wirken so … so unbesiegbar. Als könnte Ihnen nichts auf der Welt was anhaben.«

Greif lachte auf.

»Ich wünschte, es wäre so. In Wirklichkeit bin ich verletzlich, so wie jeder andere auch. Du hast es schon ganz richtig gesagt, es wirkt nur so.«

»Aber wie? So wie Sie Christian eingeschüchtert haben…«

»Ich habe ihn nicht eingeschüchtert. Ihm ist nur klar geworden, wer ich bin und was ich für seinen Vater tun oder vielleicht auch lassen kann. Wenn man es herunterbricht, dann geht es um Respekt, Yunis, um sonst nichts. Wer dich ehrlich respektiert und anerkennt, der steht auch auf deiner Seite.«

»Dann wird mir vieles klar«, sagte Yunis mit bitterer Verzweiflung in der Stimme. »Ich bin niemand. Und deswegen respektiert mich auch niemand. Sie sind ein wichtiger Stadtrat und so, klar, respektiert Sie jeder. Easy.«

»Es wird dich überraschen, aber ich war nicht schon immer der, der ich jetzt bin. Anerkennung von Menschen muss man sich sehr hart verdienen, härter als alles andere, und bei jedem Menschen gibt es dafür einen anderen Weg. Vermutlich ist das meine Gabe genau diesen Weg zu erkennen. Außerdem stimmt es nicht, was du sagst. Ich respektiere dich.«

»Ach ja?«, er sah ungläubig zu ihm auf. »Das sagen Sie doch nur so.«

»Ich meine es genauso, wie ich es sage und ich verrate dir auch, warum. Dass du zu der Sitzung gestern gekommen bist, war sehr mutig von dir. Das verdient Respekt, meinen zum Beispiel, mir imponieren mutige Menschen wie du. Und ich bin mir sicher, den von Eva und den Anderen bist du dir auch sicher.«

»Hilft auch nichts gegen so Schläger wie Christian Bismarck, wenn man ein Niemand ist.«

»Hör auf das zu sagen, sonst glaubst du es noch irgendwann. Es gibt immer einen Weg. Ob du es glaubst oder nicht, der einfachste Weg, der bei fast allen Menschen funktioniert ist, wenn du einfach nett bist.«

Yunis lachte trocken auf. »Klar doch.«

»Ich weiß, das hilft dir gerade auch nicht weiter, aber indem du anderen mal einen kleinen Gefallen tust, nettes über sie sagst, Empathie zeigst … solche Kleinigkeiten sind es, die dir die Anerkennung von mindestens 80% der Menschheit einbringen.«

»Und für die restlichen 20% Arschlöcher und Schläger, die einem das Leben Tag für Tag zur Hölle machen? Sie haben gut reden. Mit Ihrer Macht lässt es sich immer gut reden.«

Sie erreichten Güls kleinen Dönerladen und orderten zweimal den XXL Jungbullen-Döner mit alles und scharf. Allein der Geruch des saftigen Fleisches, das gemütlich seine Runden auf dem Spieß drehte, betörte Yunis. Gül baute mit viel Liebe ihre Döner nach Wunsch zusammen.

»Weißt du, Macht ist etwas, was ausschließlich andere Menschen einem geben können. Ohne Menschen keine Macht. Über nichts. Und die bekommst du von ihnen über genau das, was ich dir gerade gesagt habe.«

»Aber nur von 80%«, warf Yunis ein. Er wartete noch auf die Pointe.

»Gut aufgepasst.«

Sie nahmen ihre Döner entgegen und Greif bezahlte wie versprochen. Er ließ außerdem noch eine Cola springen. Der Döner schmeckte traumhaft, die Kräutersauce harmonierte wie in einer himmlischen Symphonie mit dem Jungbullen und dem Kraut.

»Die restlichen 20%, Yunis, die schlimmen Prozent«, Greif schluckte runter und ließ den Blick über die Industrieanlage im Süden schweifen. »Bei den restlichen 20% hilft nur Durchsetzungsfähigkeit, Standhaftigkeit und in den schlimmsten Fällen auch Gewalt.«

»Sie haben sich geprügelt?«

»Ich habe viele schlimme Dinge getan, um dort hinzukommen, wo ich heute stehe.«

»Das ist doch alles Mist. Ich habe doch keine Chance gegen Bismarck und seine Clique. Außerdem hat er ja vielleicht ein Messer.«

»Der sah mir nicht aus, als hätte er ein Messer. Glaub mir, Yunis, solche Typen kenne ich nur zu gut. Großes Maul, grausam und gewalttätig aber in Wirklichkeit nur ein Muttersöhnchen oder in diesem Fall eher ein Vatersöhnchen, das im Schatten seines alten Herrn lebt.«

»Und was soll ich tun? Was von all dem, was Sie mir hier gerade erzählt haben, soll mir jetzt helfen? Nett sein, das ist doch Bullshit alles. Ich meine, hey, danke für den Döner und so aber Sie haben absolut keine Ahnung, was hier auf den Straßen los ist.« Yunis war aufgesprungen und schon halb abgewandt. Greif sah dem Jungen in die traurigen braunen Augen, die nur so vor Enttäuschung sprühten.

»Hau ihm aufs Maul. So fest du kannst.« Yunis hielt perplex inne. Hatte er sich gerade verhört?

»Der bringt mich um.«

»Nein, tut er nicht. Wirst du was abbekommen? Ja, ziemlich sicher. Wird es wehtun? Oh ja, das wird es. Du musst auf ihn hereinbrechen wie ein Sturm. Unerwartet und nicht nachlassen. Nutze die Überraschung und versuch ihn direkt niederzuschlagen. Wenn das nicht klappt, wehre dich wie ein Löwe, er muss mindestens so viel abbekommen wie du. Und glaub mir, irgendwann wird er aufgeben. Das verspreche ich dir, so wie diesen Döner hier. Und dann kommt das Allerwichtigste, das darfst du auf keinen Fall vergessen, es wird dir für immer und ewig seinen Respekt sichern. Bist du bereit? Reiche ihm die Hand.«

»Was?!«

»Reiche ihm die Hand, hilf ihm auf und sag so was wie guter Fight. Am besten sind noch andere da. Am besten die ganze Schule, vor den ganzen Leuten kann er gar nicht anders, als dir die Hand zu geben.«

»So einen Rat habe ich ja noch nie bekommen.«

»Dann wurde es mal Zeit.«

Der Döner war perfekt und Greif schaffte es seinen zu essen, ohne auch nur einen Tropfen auf Jackett oder Hose abzubekommen.

Zufrieden setzte sich Yunis auf eine Bank und sah in den wolkenlosen Himmel. Er dachte über Greifs Worte nach.

Die beiden tranken schweigend ihre Cola.

»Warum trittst du nicht unserem Verein bei? Du würdest dich gut machen.«

Yunis stieß laut die Luft aus.

»Ne, Mann. Ich meine, das ist schon ganz cool und so, aber doch echt spießig.«

»Sagt wer? Was ist spießig daran die Südstadt aufzuräumen und alles loszuwerden, was diesen Stadtteil so runterzieht?«

»Na alle. Und alles. Verein eben, so typisch Deutsch.«

Greif stand auf und sah auf die Uhr.

»Ich schlage dir eine Wette vor, Yunis.«

»Worum wollen Sie denn wetten?«

Greif lachte auf.

»Um nichts weniger als deine Seele. Aber ich muss jetzt zurück zur Arbeit, mach’s gut, Yunis.«

Das Spiel des Greifen

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