Читать книгу Das Spiel des Greifen - Frank Siller - Страница 5
Der Bauer
ОглавлениеYunis wachte mit einem schrecklichen Brummschädel auf. Sein Mund war trocken und er hatte den Geschmack von fauligem Fleisch auf der Zunge. Etwas Galle kroch ihm die Kehle hoch.
Was zur Hölle war denn gestern noch passiert? Ganz langsam jetzt. Er atmete tief durch die Nase ein, ein sanfter Hauch von blauer Gauloises hing in der Luft. Die Alte war wohl schon wach und dampfte eine zum Frühstück.
Seine Schläfen hämmerten hinter seinen Augen. Mit jedem Schlag drang ein Bild von gestern mit Gewalt in sein Bewusstsein zurück. Er war bei Andi, um ein bisschen rumzuhängen und zu kiffen. Sie hatten einen nach dem anderen durchgezogen, über Frauen geredet und nebenher irgendwelche Videos auf Youtube laufen lassen, das Übliche eben. Sergio hatte später noch dazukommen und seine neue Bong mitbringen wollen. Ja genau, Sergio. Yunis verzog angewidert den Mund bei dem Gedanken. Nicht wegen Sergio, der war sein zweitbester Freund, direkt nach Andi. Aber oh Mann, der hatte noch seinen Hurensohn von Kumpel Georgie mitgeschleppt. Yunis hasste Georgie von ganzem Herzen. Der Typ war ihm durch und durch suspekt, immer zugedröhnt und immer etwas zu aggressiv und extrovertiert aufgelegt. Er hatte auch die, für Yunis extrem unangenehme Eigenschaft, einem immer zu dicht auf die Pelle zu rücken. Als wäre seine Superkraft, dass er ganz genau spüren konnte, wo die intime Distanzzone eines Menschen anfing, nur um diese zielsicher um mindestens einen Zentimeter zu überschreiten. So war aus dem gemütlichen Abend mit Kumpels, wieder so eine anstrengende One-Man-Show geworden, bei der es natürlich hauptsächlich um Georgie ging. Er hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, aber Yunis fühlte sich stets unwohl in Georgies Anwesenheit, aber Andi und Sergio fanden ihn offensichtlich cool, also wollte er kein Spielverderber sein. Georgie war direkt mit den Worten:
»Zieht’s euch rein, Leute, Gras beschichtet mit astreinem Crack. 1A Quali«, in Andis Zimmer geplatzt. Von da an war klar, worum es die ganze Zeit gehen würde. Yunis stellte sich auf einen langen, anstrengenden Abend ein.
»Alter, krass.« Sergio war sofort begeistert.
»Ich dachte, wir wollten nur eine Runde entspannen und bisschen zocken.« Yunis passte es gar nicht, dass Georgie, oder Georgios, wie er eigentlich hieß den Abend mit seinen Freunden sprengte.
»Komm schon, Yuni, das ist der Hammer, das hat mir einer verkauft, der war letztes Jahr auf Tomorrowland. Der schwört da drauf. Der Beutel hier ist fast ‘nen Tausender wert, freu dich doch, dass du auch mal was Gutes bekommst.«
Yunis hatte den Seitenhieb verstanden, und sah unauffällig, aber mit rotem Kopf, auf seine zerschlissenen Klamotten.
»Ja, komm schon, Alter.« Andi legte den Controller weg und setzte sich zu Sergio und Georgio an den kleinen Couchtisch in Andis Kinderzimmer. Yunis kam widerwillig dazu, Sergio hatte schon die Bong ausgepackt und mit Wasser befüllt.
»Ich schwör euch, Männer, ich war gestern auf einer Party, da war Eine da, die wollte mir, und ich sag euch ich war noch nicht mal richtig durch die Tür, direkt einen blasen. Die war so durch. Ich meine, keine Nutte oder so, die hatte einfach Bock.«
»Alter wie hart«, stimmten Andi und Sergio sofort lachend ein. »Warum nimmst du uns nie mit?«
»Ja, krass«, beteiligte sich Yunis. Georgie war anscheinend nur auf solchen Partys, auf denen irgendwas total Abgefahrenes passierte.
»Wann hat dir eigentlich das letzte Mal jemand einen gelutscht, Yuni? Wirkst immer so unentspannt.« Die anderen lachten. Yunis lachte einfach mit und wurde direkt wieder rot, ihm war keine schlagfertige Antwort eingefallen. Und schon war der Abend wieder maximal unangenehm geworden. Wie lange hatte es gedauert, eineinhalb Minuten? Das musste ein neuer Rekord sein.
»Also wann?« Georgie ließ nicht locker, der wollte tatsächlich eine Antwort haben. Yunis Kopf schien vor Überdruck zu platzen.
»Kein Plan, vor zwei Wochen oder so«, sagte er, nur um irgendwas gesagt zu haben. »Ahhhh-ja«. Andi und Sergio sahen sich vielsagend an. Georgie hatte wohl vergessen, dass er Yunis ärgern wollte und inzwischen einen Ballen von seinem Supergras in die Bong gestopft.
»Na Yuni, willst du anfangen?« Er schlang dem Jugendlichen, wieder eine Nummer zu vertraut, den Arm um die Schulter. Yunis versuchte sich so gut es ging zu entwinden.
»Klar Mann, gib her.«
Er nahm den Glaskolben, hielt professionell das Kickloch zu und das Feuerzeug an das Gras. Die Bong blubberte satt und füllte sich mit dem weißen Rauch. Alle drei sahen gebannt zu, wie die Rauchsäule in dem Gefäß immer höher kletterte.
»He, he, ganz schön gierig der Kleine, lässt du noch was übrig?« Yunis zog den Daumen von dem kleinen Loch, das verhinderte, dass der Druck im Inneren ausgeglichen werden konnte, und der Rauch schoss ihm auf einmal in die Lunge, so wie zuvor schon viele Male. Nur diesmal hatte Georgie leider recht, Yunis hatte zu viel gezogen. Seine Lunge, an der Grenze ihrer Kapazität angekommen, krampfte sich zusammen und er musste heftig husten. Das meiste vom Rauch stand immer noch in der Glasröhre und quoll jetzt langsam und ungenutzt in den schummrigen Raum.
»Alter, du Spasti. Halt’s zu, halt’s zu, Mann!« Georgie war aufgesprungen.
»Es geht doch alles raus!«
Yunis hatte gemerkt, wie er direkt wieder rot wurde und gab schnell die Bong weiter, während er versuchte den beißenden Hustenreiz irgendwie zu unterdrücken, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen. Andi machte sich daran noch schnell den restlichen Rauch aufzusaugen.
»Das Zeug ist teuer, Mann. Immer das gleiche mit den Kiddies«. Er zog einige Dosen Bier aus seinem Rucksack und verteilte sie.
Die Bong drehte noch zwei Runden, Georgio erzählte von seinem tollen Job in einem CBD Laden und wie ihm CBD im Alltag half fit zu bleiben und so weiter. Yunis hatte keine Ahnung, was CBD eigentlich war, und da Georgie so selbstverständlich davon sprach, als wäre es allgemeinstes Allgemeinwissen, fragte er auch nicht nach. Andi und Sergio hingen ihm an den Lippen, aber Yunis hatte sich zurückgehalten und war seinen Gedanken nachgehangen, in denen Georgie definitiv nicht vorkam. Nach der zweiten Runde und dem dritten Bier waren bei ihm ohnehin langsam die Lichter ausgegangen.
So viel zu 1A Quali. Yunis spuckte die bittere Galle auf den Boden neben seinem Bett und schlug langsam die Augen auf. Die Sonne blendete bereits durch das verschmierte Fenster herein. Er lag in Boxershorts bekleidet auf seinem Bett, die Klamotten wild verteilt auf dem blauen Teppichboden seines kleinen Zimmers. Es war unerträglich warm, er hatte unerträglichen Durst und es gab keine Flasche Wasser weit und breit, nur den letzten Rest einer abgestandenen Cola, für die das Wort Kohlensäure eine ferne Erinnerung aus längst vergangenen Tagen war. Hilft ja nichts. Er zog sich die Jeans von gestern an, verließ sein Zimmer und ging nach nebenan ins Bad, um sich unter den Wasserhahn zu hängen. Aus dem Flur driftete schon der vertraute Geruch von blauer Gauloises herein, der aus der Küche seinen Weg durch die ganze Wohnung suchte. Nicht dass Yunis blaue oder rote Gauloises, geschweige denn Lucky Strike am Geruch erkennen könnte, aber es war die Marke seiner Mutter. Und seit jeher gab es nun mal eine blaue Gauloises zum Frühstück, noch vor dem ersten Kaffee. Dieses Ritual gehörte so fest zu seinen Kindheitserinnerungen, wie es für andere Kinder Weihnachten oder vielleicht ihre Geburtstage tun mussten. Yunis kam bei dem Geruch direkt wieder die Galle hoch. Er spuckte in die pinke Keramik und spülte sich nochmal den Mund aus. Das würde ein wirklich furchtbarer Tag werden. Es war die Art von Kater, die den ganzen Tag wie ein Schatten über einem hing und die volle Konzentration und aktives Atmen erforderte, um nicht einfach loszukotzen.
Zurück in seinem Zimmer wurde ihm erst richtig klar, wie stickig es hier war. Er riss das Fenster auf und ließ einen Schwall warmer, aber dafür frischer Luft rein. Sofort erfüllte der Verkehrslärm der großen Straße unten sein Refugium. Obwohl Sommer war und der Asphalt in Nürnberg glühte, hasste er es bei offenem Fenster zu schlafen. Der Lärm der Autos, der Lärm der Leute, der Lärm der Tiere und irgendwie hatte er immer das Gefühl es zieht und er würde sofort krank werden. Darum Fenster zu, 30 Grad hin oder her. Yunis pickte irgendein altes T-Shirt vom Boden auf, kurzer Geruchstest unter der Achsel. Geht schon noch – und ab in die Küche.
Der Raum hatte nur ein kleines kippbares Fenster und so schlug ihm erstmal eine Wand aus Dunst entgegen. »Auch schon wach«, begrüßte ihn seine Mutter. Er war sich nicht sicher, ob es nur eine Feststellung oder eine Frage sein sollte, die einer Antwort bedurfte, darum nuschelte er etwas, das eventuell ein ja sein konnte vor sich hin und machte sich daran ein Toastbrot aus der Tüte zu fischen.
»Ich hab‘ dich was gefragt, weißt du, wie spät es ist? Heute ist Schule.« Sie hatte von ihrer Tabakdose aufgesehen, aus der sie unermüdlich neue Gauloises produzierte. Das fettige Haar klebte ihr nass im Gesicht und der Kiefer, der unter den eingefallenen Wangen arbeitete, verhieß nichts Gutes. Warum musste sie ihm nur immer so früh morgens schon auf den Sack gehen? Dieses ewige Gemecker, immer wieder und immer das Gleiche. »Andi wollte mich abholen.« Er bekam direkt einen Kloß im Hals, weil er sofort das Gefühl hatte sich rechtfertigen zu müssen. »Ich warte auf ihn«, brachte Yunis noch raus. »Der Typ ist genauso unzuverlässig wie du. Jetzt pack deine Sachen und sieh zu, dass du Land gewinnst! Oder willst du auch so ein Versager werden wie deine Freunde?« Ihre fahrigen Finger ließen den Tabak aus dem Paper direkt auf den Tisch rieseln. Die Zigarette in ihrem Mundwinkel dagegen, war schon beinahe abgebrannt.
»Ich wollte noch ein Toast essen...«
»Das hättest du essen können, bevor es zu spät zum Losgehen war.«
»Aber…«
»Nichts aber! Hättest genug Zeit gehebt«, ihre Stimme wurde schrill. Die blöde Kuh machte auch immer Sprachfehler, wenn sie sich aufregte. Gehebt, wie dämlich. Yunis grinste in sich hinein und machte sich wieder an seinen Toast.
»Was grinst du denn so frech? Glaubst du das ist Spaß alles?«. Sie warf ihre Zigarette auf die grüne Linoleum-Tischdecke und sprang auf.
»Du hast gehebt ge…« Die ausgemergelte Frau, die einen halben Kopf größer als Yunis war, schlug ihm das Brot aus der Hand. Die Marmelade klatschte satt auf den Fliesen auf.
»Wisch das auf!«
Geschockt von dieser Heftigkeit, bückte sich Yunis und sammelte den Toast auf.
Wisch deinen Scheiß doch selber auf. Seine Augen wurden feucht. aber er riss sich zusammen.
»Du faules Schwein. Wenn dich dein Vater sehen könnte. Was hat er nur getan, um das zu verdienen? Womit hab‘ ich das verdient?!«. Sie setzte sich wieder an den Tisch nahm die Zigarette, die mittlerweile ein Loch in die Tischdecke gebrannt hatte und weinte. Yunis kamen jetzt ebenfalls die Tränen, er wischte die Marmelade auf und schnappte sich so unauffällig wie er konnte seinen Rucksack. Die Erwähnung seines Vaters war immer die Pik-Ass Karte seiner Mutter, die sie nur zu gerne zog. Aber sie hatte recht. Was hatte er nur getan, um das zu verdienen?
Yunis packte noch heimlich ein neues Stück Toast in den Rucksack, zwinkerte eine Träne weg und verließ die kleine Wohnung, die er sein Zuhause nennen musste. Ihn empfing das intensiv nach Linoleum riechende Treppenhaus, des vierstöckigen Wohngebäudes. Wenn er darüber nachdachte, war der bestimmende Werkstoff seines Lebens Linoleum. Das Haus, die Böden in seiner Wohnung, die Tischdecken. Einfach alles war aus diesem Stoff. Man, der Typ, der das erfunden hatte, musste stinkreich sein.
Klebrig war das Wort, das den Zustand des Hauses am besten zusammenfasste. Der Boden klebte und gab ein schmatzendes Geräusch bei jedem Schritt von sich. Das Geländer klebte und hinterließ ein schmieriges Gefühl auf der Hand von Jedem, der so unbedarft war es zu benutzen oder gar darauf angewiesen war. Die arme Frau Messner aus dem dritten Stock. Sogar die Wände klebten vom jahrelangen Rauchen im Flur. Wenn es draußen zu kalt war, trafen sich die Raucher gerne im Treppenhaus, hielten dort ihre Zigarettenpause ab und stellten ganz pragmatisch Campingstühle auf. Get together im Ghetto. An der Eingangstür atmete er tief durch, versuchte die dämliche Alte und den dämlichen Georgie zu vergessen und kickte mit dem Fuß die Tür auf. Die Klinke wollte er auf keinen Fall anfassen.
Draußen empfing ihn der Verkehrslärm der großen Kreuzung Frankenstraße und Gugelstraße, zwei vierspurige Straßen, die hier in spitzem Winkel aufeinandertrafen. Genau in diesem Winkel zwischen den beiden Adern lag Yunis Haus. Die Frankenstraße lief einmal quer durch Nürnberg und trennte die Wohngebäude der Südstadt von den alten Industrieanlagen noch weiter im Süden. Die Gugelstraße lief nordwestlich hinauf, am Siemens-Gelände vorbei, wo schon Yunis Vater gearbeitet hat, bis hin zu den Gleisen. Die Gleise bildeten die Grenze zu den nördlichen Stadtteilen. Zu denen, die es geschafft hatten. Direkt nördlich der Trasse, die Nürnberg ebenso wie die Frankenstraße hier im Süden, in westöstlicher Richtung durchschnitt, lag Gostenhof. Da wo die coolen Leute wohnten, die in coole Bars gingen und über cooles Zeug redeten, von dem die Jungs hier unten noch nie gehört hatten. Eingesperrt von diesen beiden Barrieren lag Yunis Welt. Alles, was er kannte. Und auch alles, was er brauchte.
Er ging ein Stück in Ostrichtung, vorbei an seinem Fitnessstudio und schwenkte einen Block später Richtung Norden ein. Der Weg zur Schule führte vorbei am Basketballplatz und ungefähr einem Dutzend Dönerläden. Am dritten von ihnen hielt Yunis kurz an. Wenn man wo hingeht, dann zur »Cantine«. Der Name klang nicht besonders Türkisch, auch nicht besonders nach Döner, aber tatsächlich gab’s hier den Besten der Stadt. Zumindest wenn es nach Yunis und Andi ging. Sergio behauptete immer steif und fest, dass es bei Mavi den besten Döner gab. Aber nur bei dem an der alten SS-Kaserne, auf keinen Fall bei dem Mavi am Bahnhof. Das war nämlich die Filiale, die von Original-Mavis Cousin geleitet wurde und der hatte es einfach nicht drauf.
Yunis zog sich einen Energy-Drink aus dem Automaten, der würde vielleicht die Kopfschmerzen vertreiben. Oder noch schlimmer machen. Eine fifty-fifty Chance war heute gut genug. Die Julisonne knallte Yunis auf den schwarzen Schopf, und der glühende Asphalt garte ihn gleichzeitig von unten durch. Umso glücklicher war er über die eiskalte Dose, die er sich erstmal an die Stirn drückte, bevor er den Verschluss aufriss.
Auf zum Basketballplatz, dort würde Andi schon auf ihn warten. Das war vielleicht der einzige Lichtblick des Tages.
Die Dose war leer, seine Kopfschmerzen etwas besser und die dämliche Alte schon fast vergessen. Halbwegs zufrieden mit der Gesamtsituation kickte Yunis die Dose mit seinen schlaksigen Beinen in hohem Bogen auf die Straße. Vorne am Basketballplatz konnte er schon Andi am Zaun hängen sehen. Der blonde Strubbelkopf mit den blauen Chucks. So wie jeden Tag. Nicht dass Yunis Basketball besonders gerne mochte oder gar sportlich interessiert wäre, aber Andi wohnte genau daneben. Und hier ließ es sich gut rumhängen, wenn die beiden und Sergio keinen Bock auf Schule hatten oder in den Pausen mal dringend einen durchziehen mussten.
Sergio, das arme Schwein, wohnte mit seinem Vater und seinen drei Brüdern auf der anderen Seite der Schule Richtung Dokumentationszentrum, dem riesigen Nazi-Monument aus Stein, drüben am Dutzendteich. Und aus diesem Grund musste Sergio auch immer zu den anderen kommen, wenn es darum ging, wo man sich treffen sollte. Es stand immer zwei zu eins. Yunis war das nur recht, er hatte er auch keinen Bock immer so ewig weit zu latschen und außerdem hatte er auch keine Lust nachts auf dem Heimweg von irgendeiner Gang aufs Maul zu kriegen oder abgestochen zu werden. Sergio schien das ja nichts auszumachen.
»Yo Andi Alter, was geht.«
»Moin moin Mann, es geht nicht nur, es rennt.« Andi kam sichtlich aufgeregt auf Yunis zu und begrüßte ihn per Fistbump.
»Was los, Mann?« Die beiden setzten sich auf die Bänke neben dem hohen Zaun, der den Platz einkesselte und sahen ein paar Jungs beim Spielen zu. Andi wühlte schon die ganze Zeit in seiner Tasche.
»Halt dich fest, oh Mann, Georgie das Opfer. Alter, der war so zugedröhnt gestern, der hat sein halbes Gras vergessen. Ich glaub der hat das nicht mal geschnallt.«
Mit strahlenden Augen zog Andi einen gut gefüllten Gefrierbeutel mit Zippverschluss aus der Tasche. Sattes Grün lächelte den beiden Jungs entgegen.
»Scheiße Mann, das sind ja 30 Gramm oder so.« Yunis hielt sich prüfend den Beutel vors Gesicht. Schweißperlen glitzerten im Sonnenschein auf seiner Nase. Die pechschwarzen Haare klebten an der Stirn. Die Strahlen wurden vom Beutel und dem Gras reflektiert und ließen im grellen Licht beinahe alles wie eine göttliche Erscheinung wirken. Das Schönste, was Yunis diesen Monat gesehen hatte. Abgesehen natürlich von dem einen Augenblick, als die heiße Nachbarin von gegenüber vergessen hatte das Badezimmerfenster zu schließen.
»Fünf - und - Fünfzig verhurte Gramm.« Andi betonte jedes Wort.
»Geile Scheiße. Andi, ich glaube, das wird ein guter Tag.«
»Warte mal was Sergio für Augen machen wird.«
»Auf jeden. Wollen wir heute blau machen und schon mal bisschen naschen?«
Andi wich Yunis Blick aus. »Ja schon. Muss aber in der dritten noch Mathe schreiben, Mann. Das darf ich nicht verhauen. Danach?«
»Junge, scheiß doch drauf.«
»Ist echt wichtig, Mann, sonst wird das nichts mit Gymi.« Das Wort schmerzte Yunis. Andi wollte aus irgendeinem Grund unbedingt Abitur machen und musste dafür aufs Gymnasium wechseln. Auch wenn er sich dabei schlecht fühlte, insgeheim hoffte er ja, dass sein bester Freund das nicht schaffte und ihn dann auch nicht alleine zurückließ.
»Okay, Deal.« Yunis öffnete den Zipper und nahm einen endlos langen Atemzug.
»Aber mal ernsthaft. Georgie ist zwar dumm, Andi. Aber nicht so dumm, dass er fünfzig Gramm nicht vermissen würde.«
»Ach, der hat so viel davon, hatte doch drei Beutel dabei. Das Alter, das ist Karma.«
»Wer ist Karma?«
Andi prustete los und obwohl Yunis nicht so genau wusste warum, stimmte er mit seinem Freund ein.
»He, ihr Spacken!«
Yunis und Andi schreckten ertappt hoch, wie die Jungs, die beim Schlüpfer klauen erwischt wurden. Sie hatten nicht bemerkt, dass die Spieler erst ihr Spiel unterbrochen und ihnen höchst interessiert bei der Diskussion zugesehen hatten und schließlich allesamt nähergekommen waren.
»Was habt ihr denn da feines?«
Ein bulliger Typ, beinahe breiter als hoch, mit kurz geschorenen Haaren, hatte sich vor ihnen aufgebaut. Der Rest der Meute stand im Halbkreis um ihn und die Jungs herum. Alle hatten mehr oder weniger die gleichen blauen oder lila Trainingsanzüge an. Reißverschluss an der Jacke auf Halbmast, damit man das Brusthaar und die Tätowierungen gut sehen konnte.
Das sollte wohl einschüchternd wirken. Und im Augenblick tat es das auch.
Yunis Herz raste. »N…, nichts.« würgte er heraus.
Der vermeintliche Anführer – oder war es eher ein Kapitän beim Basketball? – ließ lässig den Ball auf seiner Hand rotieren.
»N… n… nichts?«, äffte er Yunis nach. Kichern in der Runde. Vereinzelt war ein Spasti oder Opfer zu hören.
Yunis Verstand war im Leerlauf. Wut und Angst tanzten in seinem Kopf aber wusste nicht was er tun oder sagen sollte. Er saß da wie der Hamster vor der Schlange. Andi macht auch keinen Mucks. Sie saßen in der Falle.
»Sorry, Mann. Okay, okay, wenn es nichts war, dann hab‘ ich mich wohl getäuscht.« Captain drehte sich zu seinen Jungs um und hob beschwichtigend die Arme.
»Alles klar, Männer, gehen wir.« Gelächter war die Antwort.
»Los, los, ich mein’s ernst Mann, Abmarsch, ihr habt ihn doch gehört.«
Jetzt gab es doch ein paar irritierte Blicke zur Seite, einige drehten sich schon um. »Hier gibt es keine prall gefüllte Tüte mit Gras, in den Händen von zwei Bastarden. Hier gibt es nur NICHTS!«
Mit dem letzten Wort drehte er sich herum und drosch den prall aufgepumpten Basketball mit aller erdenklichen Gewalt, die sein rechter Arm hergab, in Yunis Gesicht. Die Wucht des Aufpralls ließ seinen Kopf nach hinten schnappen und ihn rücklings von der Bank kippen. Eine Fontäne aus Blut, entsprungen aus Yunis Nase, folgte ihm zeitverzögert in Richtung Erde und regnete auf ihn herab.
»Na los, schnappt sie.« Captain griff sich den Ball noch aus der Luft und dribbelte locker auf den Korb zu. Er war noch keinen Schritt gegangen, da hatten schon zwei der Spieler Andi gepackt, ein dritter rammte ihm die Faust in die Nieren. Andi erbrach sich und klappte zusammen. Ein weiterer riss Yunis das Päckchen Gras aus den benommenen Händen. Yunis wusste nicht so recht, wo er war oder was überhaupt passierte, er wusste nur, ihm war schlecht. Captain kam zurück und begutachtete die Beute.
»Nicht schlecht. Muchas Gracias, ihr Pussies. Und jetzt seid so nett und verpisst euch von meinem Platz.«
Andi half Yunis auf die Beine, der immer noch benommen seine Nase zudrückte. Sein Gesicht sah aus wie ein Picasso, über den der Restaurateur aus Versehen seine Cola gekippt hatte.
»Ihr seid ja immer noch da, wollt ihr noch ne Abreibung?« Captain zog ein Butterfly-Messer aus der samt-lila Hosentasche und hielt es Yunis vors Gesicht. Das war zu viel, der Schmerz, der Schwindel, die Demütigung, jetzt kamen auch noch Erinnerungen an den Streit mit seiner Mutter hoch. Du faules Schwein. Warum nur immer er? Das Schlimmste war die Machtlosigkeit, die ihn übermannte, er konnte nichts tun, weder gegen die Schläger hier und jetzt noch gegen seine Mutter. Yunis schossen, ohne dass er auch hier etwas dagegen tun konnte, schon zum zweiten Mal heute die Tränen in die Augen. Nicht einmal seinen eigenen Körper hatte er unter Kontrolle.
Captain und der Rest der Crew prusteten los. »Seht euch die Muschi an. Flennt los wie ein Baby.« Er ahmte ein kleines Kind nach, was sich unbeholfen mit den Fäusten die Augen wischte. »Fuck Jungs, kommt spielen wir noch ne Runde, ich muss gleich zur Schicht.« Er passte den Ball zu einem kleinen Glatzkopf und joggte zurück zur Drei-Punkte-Linie. »Komm Yunis, hauen wir ab.« Auch Andis Stimme war brüchig. Gemeinsam schlichen sie sich wie wortwörtlich getretene Hunde vom Platz. Sie gingen ein Stück schweigend weiter in Richtung Schule. Er hätte ihm einfach das Messer aus der Hand nehmen und ins Bein rammen sollen. So wie Jet Li in Lethal Weapon. Dann noch einen Tritt gegen den Kopf und ihm lässig das Gras aus den Händen nehmen, während er ihm einen Spruch wie: »Das ist jetzt unser Platz«, oder so ähnlich, reingedrückt hätte. So hätte es laufen sollen.
»Brauchst du ein Taschentuch?«, fragte Andi.
Nicken.
Sie ließen das Südpunkt-Zentrum hinter sich, ein unbeschreiblich hässliches Gebäude, mit einer mintgrünen Fassade, was direkt aus den 80ern ins Jahr 2019 katapultiert zu sein schien, und bogen in den Hummelsteiner Park ab. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Das neckische Schlösschen aus dem 16. Jahrhundert, das in der Mitte der gepflegten Grünanlage thronte, passte so gar nicht in das Ghetto, was außenherum wucherte und diesen kleinen Flecken Idylle fest in seinen Betonpranken umschlossen hielt. Yunis ging zu einem kleinen Brunnen direkt im Schatten eines der Nebengebäude des Schlosses und wusch sich das Gesicht. Vorsichtig wackelte er an seiner Nase. Der Schmerz war ertragbar, sie war hoffentlich nicht gebrochen. Andi spülte sich den Mund aus und ließ sich dann auf einer Parkbank nieder. Er atmete hörbar durch.
»Scheiße Mann.« Er stützte den blonden Schopf auf seine zitternden Hände. »Was macht die Nase?«
»Alles okay.«
»Na ja, die war ja schon immer etwas schief. Und Junge, dein Auge sieht auch nicht gut aus.« Yunis holte sein billiges Smartphone aus der Tasche und aktivierte die Selfie-Kamera. Der Bereich zwischen linkem Auge und Nase hatten einen leicht grünlichen Einschlag. »Geht schon«, stellte Yunis die Selbstdiagnose.
Wieder schwiegen sie eine Zeit lang.
Verdammte Scheiße, das hätte alles nicht passieren dürfen. Warum hatte er nichts getan? Warum, warum, warum?
»Schade um das Gras Mann, oder? Tja, wie gewonnen so zerronnen.«
Die Vögel zwitscherten in der Sonne und das Wasser im Brunnen plätscherte fröhlich vor sich hin. Es hätte so schön sein können.
Yunis' Gedanken drehten sich im Kreis. Das Messer, der Ball. Das Lachen. Das Messer, der Ball, das Lachen dieser verdammten Arschlöcher.
»Alles okay, Junge?« Andi buffte Yunis an die Schulter. Er zuckte zurück.
»Nichts ist … «, er musste schlucken » … okay Andi. Warum verfickte Scheiße haben wir nichts gemacht, warum nicht?«
»Wir hätten nichts machen können Alter, die waren zu sechst. Und hatten Messer.«
»Wir hätten uns wehren müssen!«
»Dann wären wir tot.«
»Du bist so eine Pussy, der Typ hatte recht.«
Andi sagte nichts mehr. Er kannte Yunis schon seit der Grundschule und wusste, wann es sinnlos war etwas zu sagen. Wenn Yunis’ Stolz angeknackst war, dann drehte er sich in einer endlosen Spirale nach unten. Da half nur warten, bis er sich wieder eingerenkt hatte. So saßen sie noch eine Weile schweigend nebeneinander. Yunis in seiner ganz persönlichen Spirale aus Unglück und Andi in Gedanken an das schöne Gras und die schmerzende Niere.
»Komm, lass uns zur Schule gehen, ich muss noch Mathe schreiben.«