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Prolog: Die Geburt des Spielers

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Sophias Magen kribbelte, als sie am Fenster in der kleinen Küche stand und nach draußen spähte. Es war kein angenehmes Kribbeln, wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte. Eher eine Mischung aus Nervosität und dunkler Vorahnung. Ob er wieder getrunken hatte? Der Regen machte es beinahe unmöglich draußen etwas zu erkennen, außer Dunkelheit. Noch keine Spur von Tom. Ihr Atem kondensierte an der milchigen Scheibe und sie musste mit dem Ärmel ihres Pullovers mehrfach darüberwischen, um weiter auf die Schatten starren zu können. Noch war alles still, was ihre Nerven etwas beruhigte. Ein Blitz zuckte vom Himmel und erleuchtete die Einfahrt für den Bruchteil einer Sekunde, als wäre hellster Tag. Dort wo sonst sein Auto stand, hatten sich tiefe Pfützen im Schlamm gebildet. Der Donner rollte grollend über Sophias Haus hinweg. Ein Kind schrie. Nicht schon wieder. Die Krämpfe in ihrem Magen kehrten zurück. Etwas pochte hinter ihrer Schläfe gegen den Knochen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Küche ins angrenzende Wohnzimmer. Das Schreien wurde dringlicher.

»Ja, ich komm‘ ja schon!«, fuhr Sophia das Kleinkind an, das verzweifelt an den Gittern seines Laufstalls rüttelte. Der kleine Junge hatte platinblondes Haar, beinahe so fein wie Seide und ein ungewöhnlich schmales Gesicht, das vom Heulen bereits dunkelrot angelaufen war. Er konnte sich gerade so an den Stäben festhalten, um nicht von seinen wackeligen Füßchen zu kippen und schrie jetzt mit der ganzen Kraft, die seine kleine Lunge hergab. »Was ist?!« Sophia biss sich auf die blutige Lippe und raufte das widerspenstige Haar zurück. Sie war vielleicht mal schön gewesen, aber das war lange her. Damals, als sie noch jung und unbeschwert war. Das Geschrei ihres Sohnes ging ihr durch Mark und Bein.

»Halt den Mund, ich gehe ja schon.« Die Mutter ging in die Küche zurück und fischte zwischen den Stapeln dreckiger Teller ein Fläschchen hervor. Es war noch halb voll. Das muss reichen. Sie stellte es in die Mikrowelle, überlegte es sich aber nochmal anders. Wenn du so rumschreist, dann kannst du es auch kalt trinken. Sie nahm die Flasche und kehrte zu dem Kind zurück. Der Junge rüttelte immer noch an dem Gitter, als ginge es um sein Leben. Er war etwa ein Jahr alt, dürr und schwächlich. Vielleicht hatte er ja Polio oder sonst irgendeine Krankheit. Und dafür hatte sie ihren Job aufgegeben, ihr Leben und alle ihre Träume gleich mit. Für dieses schreiende Etwas und für einen Mann, der seine Tage damit verbrachte, sie mit seinen Kumpels in der Kneipe zu versaufen. Der Kleine brüllte in einer Tonlage, die drohte ihre Trommelfelle wie Papier zu zerreißen. »Halt dein Maul«, schrie Sophia zurück. »Halt endlich dein Maul!« Ohne dass sie wusste, was sie tat, warf sie dem Jungen die Glasflasche an den Kopf. Er kippte nach hinten um und seine Schreie verwandelten sich in ein leises Wimmern. Sofort bildetet sich ein roter Fleck auf seinem Gesicht. Sophia schlug die zitternden Hände vor den Mund. »Es tut mir leid. Oh Gott, es tut mir leid.« Sie hob das wimmernde Bündel aus dem Stall und presste es an sich. »Alles gut, Mami ist da. Es ist alles gut.« Das stahlblaue Auge des Kindes schwoll schnell zu einem dicken Klumpen an, bis er es nicht mehr richtig öffnen konnte. Dennoch lächelte er seine Mutter von unten an. Das war zu viel für Sophia. Von plötzlichem Ekel gepackt, legte sie das Kind zurück in den Stall. »Tom sage ich, du bist beim Laufen hingefallen. Ja, das wird er mir glauben.« Bitte, er muss es einfach glauben.

Kies knirschte in der Einfahrt. Ein einsamer Lichtstrahl fand seinen Weg durch die Küche, bis ins Wohnzimmer. Er ist da. Sophia überließ das jammernde Kind sich selbst und eilte zu ihrem Posten am Fenster zurück. Der klapprige, alte Opel Kadett rollte durch den Regen auf das Haus zu. Der rechte Vorderreifen wühlte sich durch das Gras neben dem Kiesweg. Er ist betrunken. Das ungute Kribbeln in Sophias Magen kehrte zurück. Mit den Zähnen riss sie am abgekauten Nagel ihres Zeigefingers, bis dieser tief ins Nagelbett einschnitt. Der brennende Schmerz ließ sie Handeln. Sie drehte den Herd auf die höchste Stufe, auf dem bereits einige Schweinekoteletts in einer Pfanne schwammen. Hoffentlich hat er gute Laune, bitte lass ihn gute Laune haben. Sie zupfte ihre Bluse zurecht, um die Speckröllchen an der Hüfte zu verstecken. Tom nannte sie immer eine fettärschige Kuh, wenn er ihre Hüfte sah. Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. Früher hatte das immer geholfen. Der Motor heulte ein letztes Mal auf und erstarb dann. Schwere Arbeiterstiefel polterten den kurzen Weg bis zum Eingang herauf. Einen Augenblick später ging die Tür auf. Tom stand groß und schwankend in der Tür und fixierte mit blutunterlaufenen Augen seine Frau. »Hi Schatz«, begrüßte Sophia ihren Mann und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. Er war mal schön gewesen. Groß und stark und voller Tatendrang und Träumen für ein gemeinsames Leben. Jetzt war sein Gesicht picklig und fleckig vom vielen Saufen und von den Träumen war nichts geblieben, außer einem fernen Echo leerer Versprechungen.

»Was stinkt hier so?«, grunzte er seine Frau an. Sophia erschrak. Die Koteletts. Sie eilte in die Küche und zog die schwarzen Fleischbrocken vom Herd. Ihre Nerven flatterten. Tom war ihr in die Küche gefolgt. Der Raum stank penetrant nach billigem Schnaps. »Was gibt's zum Abendessen?«

»Koteletts. Sie sind etwas angebrannt.«

»Was kannst du eigentlich, du nutzloses Weibsstück?«, stöhnte er. »Und was ist das hier überhaupt für ein Saustall? Was machst du eigentlich den ganzen Tag, außer mit deinen fettärschigen Freundinnen zu telefonieren?!« Arschloch. Und womit nahm er überhaupt das Recht sich zu beschweren? Saß den ganzen Tag mit seinen nichtsnutzigen Kumpels in der Kneipe und versoff das ganze Geld, während sie hier alles alleine machen musste und sich mit weniger als nichts um sein verdammtes Kind kümmern musste. »Wenn du nicht dein letztes bisschen Spatzenhirn versaufen würdest, dann ...« Toms Faust landete so plötzlich in Sophias Gesicht, dass sie nicht mal mitbekam, wie sie erst gegen die Tischkante und schließlich auf den Boden prallte. »Du nutzlose Schlampe machst mir Vorwürfe? Ich gehe die ganze Woche schuften, während du hier deinen fetten Arsch platt sitzt. Und alles, was du zu tun hast, ist was zu essen auf den Tisch zu bringen und dich um das Kind zu kümmern! Ich sollte dich windelweich prügeln, du…«

Er hielt inne. Sophia hörte es auch, trotz ihrer Benommenheit. Das leise Wimmern aus dem Wohnzimmer hatte zugenommen. »Was zur ...« Tom stapfte aus der Küche. Sophia schob sich, von Panik getrieben, über den Boden vorwärts. Ihr Kopf tat so schrecklich weh. »Tom, er – er ist gefallen.« Sie erreichte das Wohnzimmer, als ihr Mann an dem Laufstall angekommen war. Er stand da und sah auf das weinende Kind herab. Sein versoffener Verstand versuchte offenbar zu verstehen, was er da gerade sah. Sophias Herz schlug bis zum Hals. Er glaubt mir nicht. Gott, er glaubt mir nicht. Sie sah nach oben. Das Telefon war im Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer an der Wand befestigt. Gegen den Schwindel ankämpfend schob sich Sophia an der Wand nach oben. Ihre blutverschmierte Hand – wo kam bloß das ganze Blut her – umschloss den Hörer. Der zerbissene Zeigefinger drückte zweimal die Eins und einmal die Null.

»Was hast du getan?«, fragte Tom tonlos. Es klingelte. »Nichts, Tom. Er ist gefallen. Er ist so ungeschickt...«

»Du hast ihn geschlagen. Er hat geweint und du hast ihn geschlagen, du beschissenes Weibsstück.« Es klickte in der Leitung. »Polizei ...«

»Nein, ich schwöre.« Sophia ließ den Hörer fallen, als Tom auf sie zukam. Plötzlich war er doch wieder groß und stark und voller Tatendrang. Ganz so wie früher. Sie ging in die Knie und kauerte sich unter dem Telefon auf dem Boden zusammen. »Hallo, können Sie mich hören?", drang es ganz leise aus dem Hörer. Tom nahm sich einen schweren, gläsernen Aschenbecher von der Kommode. Sophia hatte ihn ihrem Mann zu Weihnachten geschenkt. »Bitte nicht, Tom. Bitte nicht...« Dann kam er über sie. Der Junge stand an dem Gitter und beobachtete seine Eltern. Er lächelte wieder.

Das Spiel des Greifen

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