Читать книгу Der Index der verbotenen Bücher. Bd.1 - Franz Reusch - Страница 12
Eine Indexreformkommission wird eingesetzt
ОглавлениеTrotz seiner umfangreichen Vorarbeiten konnte Haringer sich in die eigentliche Überarbeitung des Index nicht mehr einschalten. Er starb bereits im folgenden Jahr, am 19. April 1887. Sekretär Saccheri indes griff die Anregung des Redemptoristen auf. Bevor er jedoch an der Kurie selbst aktiv wurde, holte er in Deutschland bei seinem alten Freund Antonius Scher, Militärkaplan in Mühlhausen, weitere Informationen über Reusch und dessen wissenschaftliche Reputation ein. Scher zeichnet in seinen „Notizie riguardanti il Prof. Reusch“ das Bild eines typischen deutschen Professors, der mit allen Tugenden deutscher Gelehrsamkeit begabt sei.58 Seine wissenschaftlichen Arbeiten betreibe Reusch „kaltblütig und mit großem Reflektionsvermögen“, was ihm in der akademischen Welt hohes Ansehen eingetragen habe. Auch sein Abfall vom wahren Glauben (sprich seine Konversion zum Altkatholizismus), den Scher bedauert, habe seinem unpolemischen wissenschaftlichen Urteil keinen Abbruch getan. Damit teilte Scher Haringers Einschätzung fast wörtlich: Für Saccheri konnte an der Verlässlichkeit des „Reusch“ kaum noch ein Zweifel bestehen.
Indes konnte auch er die Konsequenzen aus dieser Einsicht nicht mehr selbst ziehen. 1889 erhielt er als Sekretär des Index einen Nachfolger; er war vom Kardinalvikar des Bistums Rom zum Rücktritt veranlasst worden. Unter seinem Nachfolger, dem Dominikaner Giacinto Frati,59 der von 1889 bis zu seinem Tod 1894 als Sekretär der Indexkongregation amtierte, begann aufgrund eines Beschlusses der Kardinäle der Indexkongregation vom 14. Juli 1892 die vorbereitende Arbeit der eigentlichen Reform.60 Auf der Grundlage des „Reusch“ und Quellenmaterials aus dem Indexarchiv selbst wurden einerseits historische Überblicke über vorhergehende Reformen (1664 und 1752) und andererseits konkrete Verbesserungsvorschläge für die „schwarze Liste“ erarbeitet.
Neben umfangreichen Exzerpten aus den Akten erarbeiteten die Mitglieder der Reformkommission immer wieder konkrete Programme zur Überarbeitung des Index. Dabei diskutierten sie mehrfach die Frage, ob nicht alle vor 1596 indizierten Bücher grundsätzlich gestrichen werden sollten, weil es damals eine geordnete Einzelüberprüfung der Werke noch nicht gegeben habe und die frühen römischen Indices lediglich Kompilationen aus anderen Katalogen verbotener Bücher seien.61 An die tausend Titel fielen so unter die Rubrik „schon immer wenig bekannt, heute gar völlig unbekannt“. Daneben ging es um ganz praktische Dinge wie die Anpassung des Index an moderne bibliographische Standards, die Tilgung von Interpunktions- und Orthographiefehlern, eine Einheitlichkeit bei der Titelaufnahme oder die präzisere Übersetzung fremdsprachiger Titel ins Lateinische.
Beim „Congressus“ der Reformkommission am 12. März 189362 unter Vorsitz des Präfekten der Indexkongregation Kardinal Camillo Mazzella63 wurden Grundlinien der Revision des Index verabschiedet und die Hauptverantwortlichen für die konkrete Überarbeitung bestimmt, die bezeichnenderweise allesamt Deutsche waren. Es handelte sich um den Benediktinerpater Adalbert Miller, den Dominikanerpater Johann Baptist Scheer und den Jesuitenpater Franz Ehrle.
Miller64 war deutscher Abstammung und Mönch der Abtei Sankt Vinzenz in den Vereinigten Staaten. 1859 legte er seine Ordensprofess ab, 1865 wurde er zum Priester geweiht. Später kam Miller nach Rom, wo er an Sant’Anselmo Philosophie, Moraltheologie, Exegese und Hebräisch lehrte. Seit 1887 war er Prior der Abtei.
Scheer65 stammte aus Luxemburg, wurde 1853 in Trier zum Priester geweiht und war zunächst in der Seelsorge tätig. 1872 verließ er seine Pfarrei und trat bei den Dominikanern ein. Zunächst war er als Mitglied der deutschen Ordensprovinz Novizenmeister in Venlo in den Niederlanden und von 1887 bis 1890 Prior der Dominikaner in Düsseldorf. 1882 schlugen die Jesuiten Scheer für den Luxemburger Bischofsstuhl vor, nachdem es ihnen nicht gelungen war, einen eigenen Ordenspriester durchzusetzen. 1891 kam Scheer als Mitarbeiter des Dominikanergenerals Andreas Frühwirth nach Rom. Er trug den Titel eines Titularprovinzials von Schottland und war für die englisch-, niederländisch-, deutsch- und polnischsprachigen Ordensprovinzen zuständig. Während seines Romaufenthalts, der bis 1904 dauerte, pflegte Scheer engen Kontakt zu höheren Chargen im Dominikanerorden, unter anderem eben auch zum Sekretär der Indexkongregation.
Ehrle,66 ein geborener Allgäuer, hatte sich 1861 in Gorheim in den Jesuitenorden aufnehmen lassen. Von 1868 bis 1873 war er Präfekt in Feldkirch gewesen, hielt sich von 1873 bis 1877 in England (Ditten-Hall) auf, wo er auch zum Priester geweiht wurde. Danach redigierte Ehrle in Tervueren bei Brüssel die „Stimmen aus Maria Laach“. 1880 kam er zu Forschungszwecken nach Rom. Mit Heinrich Suso Denifle gab er zwischen 1885 und 1890 das „Archiv für Literatur und Kirchengeschichte des Mittelalters“ heraus. Der 1890 erschienene monumentale erste Band der Historia Bibliothecae Romanorum Pontificum, tum Bonifatianae, tum Avenionensis wies Ehrle als intimen Kenner der Geschichte der Vatikanischen Bibliothek aus. Noch im selben Jahr wurde er in den Verwaltungsrat der Vaticana berufen, 1895 zu ihrem Präfekten ernannt. Nicht zuletzt aufgrund seiner bibliographisch-bibliothekarischen Fähigkeiten und seiner Kenntnis insbesondere der Vatikanischen Bibliothek dürfte Ehrle Mitglied der Kommission für die Reform des Index geworden sein.67 Bereits Josef Schmid hatte in seiner Rezension des „Reusch“ auf die notwendige Konsultation der Vaticana hingewiesen: „Leider hat Reusch die römischen Bibliotheken und Archive nicht benützt. Die Vaticana allein hätte, wie ich an anderer Stelle nachzuweisen mir vorbehalte, reiche Ergänzungen geboten.“68
Auf der Sitzung der Reformkommission waren insbesondere drei Grundsatzfragen zu klären:
1. Die Frage nach der Rolle, welche der „Reusch“ bei der Indexreform spielen sollte. Nach längerer Diskussion fand man zu folgender Lösung: Grundlage der Überarbeitung sollte nicht allein der „Reusch“ sein, da man es als unmöglich erachtete, alle von diesem aufgelisteten Fehler zu beseitigen. Dennoch strebte man eine umfassende Indexkorrektur an, die vor der Geschichte und den Gesetzen der Bibliographie Bestand haben sollte.
2. Die Frage, ob man zur leichteren Bearbeitung den Index in zwei Teile gliedern solle, wurde positiv beantwortet. Für die frühen Indizierungen vor der Reform Alexanders VII. aus dem Jahr 1664 sollte Ehrle zuständig sein, die folgende Phase hatte Scheer zu bearbeiten. Für den Notfall wurden beide ermächtigt, Experten von außerhalb zu konsultieren. So wurde mit dem Dominikanerpater Thomas Esser69 aus Freiburg in der Schweiz ein weiterer Deutscher mit der Überprüfung der deutsch- und französischsprachigen Titel auf dem Index beauftragt. Esser war in Aachen geboren. Seine Studien hatte er in Bonn (1868–1870) und Würzburg (1870/1871) absolviert, unter anderem bei Reusch. In Köln trat Esser ins Priesterseminar ein, wurde 1873 zum Priester geweiht und war anschließend als Kaplan in der Seelsorge tätig (Euskirchen). Im Kulturkampf kam er ins Gefängnis, wurde verurteilt und aus Preußen ausgewiesen. Er ging daraufhin an die Anima in Rom, wo er Constantin von Schäzler kennenlernte. 1875 wurde Esser mit einer Dissertation über Thomas von Aquin promoviert. Über Andreas Frühwirth fand Esser den Weg in den Dominikanerorden, dem er 1878 in Graz beitrat. Zunächst dozierte er in Wien und Venlo, wurde 1887 Professor für Philosophie im Magnooth-Seminar in Irland und erhielt 1891 an der Universität Freiburg in der Schweiz die Professur für Kirchenrecht. Um an der Indexreform in Rom mitarbeiten zu können, kehrte Esser 1894 nach Rom zurück, wo er Lektor am Collegio San Tommaso wurde. Seine Mitarbeit am neuen Index soll auf ausdrücklichen Wunsch Frühwirths erfolgt sein.
3. Für die konkrete Überarbeitung des Index wurde ein fünfstufiges Verfahren beschlossen:
a) Einsicht in die Dekretsverbote im Archiv der Kongregationen des Index und der Inquisition;
b) Benutzung des „Reusch“ und seiner Argumente;
c) Konsultation eines Native Speaker für die bibliographische Aufnahme von Verfasser und Titel in den jeweiligen Sprachen;
d) Überprüfung der Angaben im Index anhand des Titelblatts des inkriminierten Buches selbst;
e) Einhaltung bibliographischer Standards.
In einer Denkschrift für die Sitzung der Indexkongregation am 6. Dezember 1895 berichtete deren Sekretär, Marcolino Cicognani,70 den Kardinälen über den Stand der Korrekturarbeiten am Index.71 Zwar komme die Arbeit gut voran, aber angesichts der Menge an Titeln werde man noch einige Zeit brauchen. Besonderes Lob erfahren der Fleiß und die Hartnäckigkeit der deutschen Bearbeiter. So reise Esser mit dem Index in der Hand durch die großen Bibliotheken Europas, um möglichst exakte bibliographische Angaben zu erhalten. Ehrle erhalte Unterstützung durch seinen jesuitischen Ordensbruder Josef Hilgers,72 der „fast als alter Ego des Pater Ehrle“ und „als intelligenter junger Mann, zu diesen Recherchen befähigt und voller Begeisterung für diese Art von Arbeit“ charakterisiert wird und der vor allem in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, aber auch in Rom und Paris recherchiere. Ausdrücklich bedauerte der Indexsekretär, dass die Gesellschaft Jesu nicht weiter bereit sei, Hilgers für diese Arbeit freizustellen, und man daher auf andere, weniger erfahrene Kräfte zurückgreifen müsse.73
Cicognani machte deutlich, dass zwar eine Überarbeitung des Index dringend geboten sei, ein gänzlicher Verzicht auf den Katalog verbotener Bücher jedoch nicht in Frage kommen könne. In geradezu hymnischen Formulierungen feierte er den Index als „Schrein“ aller Entscheidungen des Heiligen Stuhls gegen „perverse“ Bücher, als zuverlässigen Indikator verderbter Werke und als niemals schläfrige Wache. Für sämtliche Häretiker und Feinde der Kirche bliebe der Index jedoch immer ein Symbol des Widerspruchs, des Hasses und der Verleumdung, das sie unter dem Vorwand von Ungenauigkeiten, sachlichen Fehlern und typographischen Mängeln bekämpften, während es ihnen in Wirklichkeit um die Untergrabung des Ansehens und der Autorität der katholischen Kirche und des Heiligen Stuhles gehe.
In diesem Kontext kam Cicognani auch auf Reusch, den er als „abgefallenen Priester“ und Apostaten bezeichnete, und auf dessen Werk zurück, das er als „grausame Anklagerede gegen den Index“ qualifizierte, „durch die er nichts unversucht lässt, nur um ihn zu zerstören oder zur Missachtung zu verdammen und in Misskredit zu bringen“. Mit einer Geduld, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, habe Reusch Bibliotheken aufgesucht, Bücher, Kataloge und Register verglichen und sei daher in der Lage gewesen, zu fast jedem auf dem Index stehenden Buch minutiöse Angaben zu machen sowie alle Arten von Irrtümern im Index offenzulegen. Dieser erscheine als bloßes Sammelsurium, um nichts Schlimmeres zu sagen, insbesondere was die Indizierungen vor 1596 angehe. Der Indexsekretär räumte zwar ein, dass Reusch mit seiner Kritik in fast allen Punkten sachlich Recht habe und der Index den Gesetzen moderner Bibliographie nicht mehr genüge. Dennoch habe der Altkatholik die Grenzen des Anstands überschritten, weil er auch die Indexreform Benedikts XIV. kritisiere, die nach Cicognanis Ansicht kaum etwas zu wünschen übrig gelassen habe.
Während der deutsche Indexkonsultor Haringer die Arbeit von Reusch durchweg positiv gewürdigt hatte, musste der Italiener Cicognani zwar die wissenschaftliche Leistung anerkennen, was er aber durch den Vorwurf der überschrittenen „Grenzen der Redlichkeit“ sofort wieder relativierte. Dass die neuerliche Indexreform eindeutig auf Reusch zurückging, konnte Cicognani zwar nicht abstreiten, aber so richtig gönnen konnte der Sekretär der Indexkongregation dieses Verdienst dem deutschen Altkatholiken und „gefallenen“ Priester nicht.