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Ein Zensor wird bestellt

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Zunächst deutete nichts darauf hin, dass Reuschs monumentale Index-Studie zu einer grundsätzlichen Überprüfung der kurialen Liste der verbotenen Bücher und sogar der römischen Indizierungspraxis überhaupt führen würde. Ganz im Gegenteil: Das Buch war in Rom denunziert worden und Pater Girolamo Pio Saccheri,14 der Sekretär und damit eigentlicher Geschäftsführer der Indexkongregation, hatte im Frühjahr 1885 nach eigener Vorprüfung einen Konsultor, also einen Zensor, mit der Abfassung eines Gutachtens über das Werk beauftragt. Damit entsprach er der seit Mitte des 18. Jahrhunderts gültigen Verfahrensordnung.15 Für das folgende zweistufige Indizierungsverfahren wurde die handschriftliche Zensur in der Regel gedruckt und den Konsultoren und Kardinälen der Kongregation zugestellt. Die Konsultorenversammlung, die sogenannte Praeparatoria, formulierte dann auf der Basis dieser Zensur einen Vorschlag, der einige Tage später als Grundlage für die Entscheidung der eigentlichen Kongregation, der Versammlung der Kardinäle, diente. Der Kardinalpräfekt legte dieses Urteil schließlich in Privataudienz dem Papst zur endgültigen Entscheidung vor. Im Falle einer Indizierung folgte die Veröffentlichung. „Freisprüche“ oder ein Im-Sande-Verlaufen eines Verfahrens gelangten dagegen nie an das Licht der Öffentlichkeit, so dass man im Archiv auf zahlreiche bislang unbekannt gebliebene Indizierungsfälle wie eben auch den „Reusch“ stößt.16

Im Falle des „Reusch“ kam das Indizierungsverfahren über die Beauftragung des Gutachters durch den Sekretär und dessen handschriftliches Votum jedoch nicht hinaus, denn der bestellte Zensor Michael Haringer kam zu einem völlig unerwarteten Ergebnis. In seinem Votum vom 29. November 1885 schrieb er an Saccheri, er sei mit großen Vorurteilen und Argwohn an die Überprüfung von Reuschs Index-Werk herangegangen, da er befürchtete, dieser hätte – als „gefallener Priester“, der sich der „altkatholischen Sekte“ angeschlossen habe – sein Thema „mit feindlichem Geist“ behandelt. Haringer musste aber sich selbst wie seinem Vorgesetzten eingestehen, dass er sich getäuscht hatte. Denn nach eingehender Prüfung habe er nichts Schwerwiegendes gefunden, das eine Zensur verdiente; im Gegenteil: „Vieles ist in der Tat äußerst nützlich.“ Haringer beantragte damit nicht nur einen Freispruch und widerlegte einmal mehr das alte Vorurteil: „Wer in Rom angeklagt wird, ist schon so gut wie verurteilt.“17

Vielmehr fand der Indexkonsultor das denunzierte Werk des Altkatholiken Reusch so hilfreich, dass er im Sommer 1886 bei Saccheri sogar anregte, der „Reusch“ müsse als Grundlage einer großangelegten Indexreform im Stile eines Benedikt XIV. – der 1758 mit „Sollicita ac provida“18 erstmals Verfahrensnormen fixiert hatte – dienen.19 Bereits am 18. September 1885, also noch vor Abfassung seines Gutachtens für die Indexkongregation, hatte sich Haringer in diesem Sinne auch gegenüber dem „liberalen“ Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus geäußert: „Dr. Reusch in Bonn hat ein höchst interessantes Werk über den Index publiziert. Da er Altkatholik ist, hat jemand vermutet, es sei eine Rom feindliche, gehässige Schrift, und hat es dem Saccheri zugeschickt. Dieser ersuchte mich, es zu prüfen. Ich finde aber nichts, was eine Zensur verdiente. Es ist mit aller Ruhe, mit erstaunlichem Fleiß und ungeheurer Belesenheit geschrieben. Er macht freilich auf eine Unzahl von Fehlern des Index aufmerksam, aber das hat sein Gutes. Unter Benedikt XIV. hat eine Kommission eine Menge von Fehlern des Index korrigiert, aber noch ist eine Menge stehen geblieben. Die Arbeit von Reusch kann eine Kommission ersetzen oder doch sehr erleichtern.“20

Und so wurde das Verfahren gegen Reusch, noch bevor es richtig begonnen hatte, vom Sekretär des Index gestoppt. Aus diesem Grund gelangten die einschlägigen Unterlagen auch nicht in die offiziellen Sekretärsakten, die Serie der „Protocolli“, die neben den handschriftlichen und gedruckten Voten auch die Einladungen zur vorbereitenden und eigentlichen Sitzung, die Abstimmungsergebnisse der Konsultoren und Kardinäle sowie die Entwürfe und Drucke der Urteilsplakate und die kurze handschriftliche Urteilsbegründung enthalten. Sie verblieben vielmehr in jenen inoffiziellen Materialien und Berichten der Indexsekretäre, die sich zumindest für das 19. Jahrhundert erhalten haben. Der letzte Indexsekretär hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts diese Quellen, die er unverzeichnet in Kisten vorfand, chronologisch geordnet und der neuen Serie „Atti e Documenti“ einverleibt; als solche bilden sie eine wichtige Ergänzung zu den Protocolli.

Das überaus positive Urteil Haringers über Reusch und dessen Kritik am Index überrascht. Immerhin darf der Redemptorist Haringer mit Fug und Recht als Vertreter der „harten“ ultramontanen Richtung innerhalb des Katholizismus des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Bereits während seines Theologiestudiums in München hatte er – unter dem Einfluss von Joseph Görres – eine ultramontane Prägung erhalten. Mit seinem Eintritt bei den Redemptoristen in Altötting (1843) schloss sich Haringer einer Ordensgemeinschaft mit bekannt ultramontaner Grundhaltung an. Die revolutionären Erfahrungen des Jahres 1848 – Haringer weilte damals als Adlatus seines Lehrers und Freundes Pater Andreas Hugues in Rom und musste überstürzt die Stadt verlassen – dürften seine antimoderne Prägung noch verstärkt haben. Ab 1855 lebte Haringer dann als Konsultor verschiedener Kongregationen und Generalsekretär der Ordensleitung der Redemptoristen auf Dauer in Rom.

Dort hatte sich seit der Revolution das Klima noch einmal verschärft. Der einst als „liberal“ gefeierte Pius IX., dessen Pontifikat von 1846 bis 1878 eines der längsten der Kirchengeschichte war, verfolgte nunmehr einen konsequent intransigenten Kurs.21 Diesem verschloss sich Haringer nicht. Seine ganze Tätigkeit trägt deutlich den Stempel ultramontaner Unduldsamkeit: Sei es die Mitarbeit an der Regensburger Ausgabe der Schriften des heiligen Alfons von Liguori, sei es das Engagement für die Heiligsprechung des Wiener Redemptoristen Clemens Maria Hofbauer, sei es als Mitglied der Accademia di Religione Cattolica, die „im Sinne einer kulturellen und politischen Restauration und Reaktion“ wirkte. Während und nach dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/1870 gehörte Haringer zu den strengen Befürwortern der päpstlichen Unfehlbarkeit. Seine Mitarbeit in der Ordensleitung, vor allem aber seine Tätigkeit als Konsultor seit 1873, boten ihm vielfältige Möglichkeiten, seine Ansichten in reale Politik umzusetzen. Für die Indexkongregation fertigte Haringer zwischen 1873 und 1886 über dreißig schriftliche Voten. Die meisten der von ihm begutachteten Schriften landeten auch tatsächlich auf dem Index der verbotenen Bücher.

Der Index der verbotenen Bücher. Bd.1

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