Читать книгу Der Index der verbotenen Bücher. Bd.1 - Franz Reusch - Страница 14
Wandel durch beschleunigte Zeitläufe?
ОглавлениеParallel zur Überarbeitung des Index und zur Tilgung der in ihm enthaltenen Fehler liefen in der Indexkongregation die Beratungen über die Vorbereitung der Konstitution „Officiorum ac Munerum“, mit der Leo XIII. die Buchzensur neu ordnete, aber den Erwartungen nicht gerecht wurde.85 Die Arbeit dieser Konsultorenkommission findet sich ebenfalls in einem umfangreichen Band der Protocolli dokumentiert.86 Sie kam schneller zu einem Ergebnis als die Reformkommission: Vorschriften lassen sich eben rascher erarbeiten als einhalten. Immerhin konnte im Jahre 1900 der revidierte Index librorum prohibitorum, der sogenannte Index Leoninus erscheinen, der jedoch auch nicht voll befriedigte.87 1904 erschien sein offiziöser Kommentar aus der Feder von Josef Hilgers.88
Eines dürfte deutlich geworden sein: Es handelte sich bei der Indexreform des Pecci-Papstes überwiegend um eine „deutsche“ Angelegenheit. Auslöser war eindeutig das Werk des deutschen Altkatholiken Heinrich Reusch, das die Mängel der römischen Indices mit deutscher Gründlichkeit und Gelehrsamkeit auflistete. Daran ändert auch die spätere Behauptung Hilgers nichts, „dass der erste wirksame Anstoß an maßgebender Stelle zur Reformation des Index Leos XIII. von einem Jesuitenkardinal ausging“ – gemeint ist Präfekt Mazzella – „und dass, wie bekannt, das ganze Werk zum guten und besten Teil durchgeführt und vollendet wurde unter einem andern Jesuitenkardinal, der annoch [sic!] die Kongregation leitet und dem es persönlich zu besonderer Ehre gereicht, dass er so lange wie kaum ein anderer in diesem Amte verbleibt.“89
Die Ideen des „Reusch“ wurden durch den deutschen Indexgutachter und Redemptoristen Michael Haringer in die Indexkongregation und in die Römische Kurie getragen. Haringer sollte ein Gutachten über das denunzierte Werk verfassen, das Reusch auf den Index bringen würde. Haringer war aber von der wissenschaftlichen Qualität des Werkes derartig überzeugt, dass er nicht nur eine Indizierung ablehnte, sondern den „Reusch“ als Leitfaden einer gründlichen Indexreform empfahl.
Auch die eigentliche Reformarbeit, die mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung in der Indexkongregation begann und letztlich auf den von Haringer vermittelten Anstoß durch Reusch zurückging, wurde ausschließlich von deutschen Konsultoren geleistet: Ehrle, Hilgers, Scheer, Albers, Miller und nicht zuletzt Esser waren die Hauptakteure, die nicht selten mehr Reform wollten, als die Kardinäle der Kongregation und nicht zuletzt der Papst zugestehen konnten. Immerhin hielt man in Rom die Deutschen offenbar für die einzigen, die einerseits den Standards moderner Bibliographie genügten und andererseits Ausdauer für die daraus resultierende Sisyphusarbeit besaßen. Von Interesse ist auch, dass zumindest Haringer und Albers Kontakte zu deutschen Universitätstheologen pflegten. Haringer korrespondierte mit Franz Xaver Kraus, Albers mit Heinrich Schrörs und Josef Sauer. Es dürfte sich dabei um in Rom geknüpfte Bekanntschaften gehandelt haben. Esser wurde für seine Tätigkeit bei der Reform des Index belohnt und 1900 zum (letzten) Sekretär der Indexkongregation ernannt. Ehrle hätte nach dem Willen Leos XIII. bereits um 1900 Kardinal werden sollen.
Obwohl Index und Inquisition im 16. Jahrhundert mit dem Anspruch der Totalkontrolle des Buchmarktes und der Zuständigkeit auf allen Wissensgebieten angetreten waren, zeigten sich die deutschen Indexgutachter, namentlich Haringer und Esser, durchaus bereit, die Allkompetenz des Lehramts und seiner Zensurorgane zurückzunehmen und auf den eigentlichen Glaubensbereich zu beschränken. Naturwissenschaftliche und medizinische Werke oder Klassikerausgaben sollten vom Index genommen werden. Dafür fühlte man sich nicht mehr zuständig.
Damit vollzogen die deutschen Indexrevisoren die an den Universitäten längst erfolgte Emanzipation der „profanen“ Wissenschaften von der Theologie – wohl eher unreflektiert – auch im Bereich der lehramtlichen Bücherzensur nach. Ein in der kulturprotestantisch dominierten deutschen Wissenschaftslandschaft gängiges und selbstverständliches Paradigma gelangte so unter der Hand durch die in diesem Umfeld aufgewachsenen Indexkonsultoren ins Machtzentrum des „Gegners“. Auf diese Weise entfaltete der gesellschaftliche Wandel auch in einer absolut ohne zeitliche Begrenzungen konzipierten Wissenskultur seine überraschende Wirkung.
Haringer und die bei ihm festzustellende Wende verdient hierbei besondere Beachtung. Einerseits war sein Habitus der eines Zensors. Haringer sah sich – nicht nur, aber vor allem in der Rolle des Konsultors – als Verteidiger des wahren und reinen Glaubens. Seine Arbeit charakterisierte sich von vornherein als ein Tun ex negativo. Anstößige Stellen in den zu zensierenden Schriften wurden angeprangert, ihre „Verkehrtheit“ wurde demonstriert, das Urteil gefällt, wie sich etwa noch in Haringers Gutachten gegen Johann Friedrich von Schulte von 1876/1877 zeigt. Ähnlich darf man sich die meisten anderen Gutachten Haringers vorstellen. Die Zensur des „Reusch“ – ausgerechnet des „Reusch“ – sieht völlig anders aus. Hier ist Haringer nicht Zensor von oben herab, sondern Rezensent, der bei seiner Lektüre selbst viel lernen kann. Haringer nimmt nun den Habitus des deutschen Gelehrten an. Die Kriteriologie, die er an den Index librorum prohibitorum anlegt, ist eine andere geworden. Fehler und Ungenauigkeiten müssen auf jeden Fall ausgemerzt werden.
Es geht nicht mehr, dass Autoren auf dem Index stehen, deren Werke keine Häresie beinhalten, nichts mit Theologie zu tun haben oder überhaupt nie erschienen sind. Der deutsche Redemptorist versucht vielmehr, in seinem Gutachten selbst wissenschaftlichen Standards zu genügen. Seine Zensur trägt daher eher den Charakter einer akademischen Rezension, wie er auch eine wissenschaftliche Besprechung als Untermauerung seiner Ansicht zitiert. Die Frage, wie es zu diesem „Habitus-Wandel“ bei Haringer kam, führt zu dem wenige Jahre zuvor bei der Indexkongregation anhängigen „Fall Kraus“. Haringer und Saccheri hatten sich damals intensiv – und gegen große Widerstände an der Kurie – für den Freiburger Kirchenhistoriker eingesetzt. Dies war ihnen insofern leicht gefallen, als sie Kraus nicht nur persönlich verbunden waren, sondern auch dessen durchaus „ultramontane“ Seite kannten. Doch die Beschäftigung mit Kraus und seiner „exakten Wissenschaft“ dürfte nicht nur andere Standards ins Blickfeld gerückt, sondern auch die Gegner, deren Intrigen und Denunziationen in einem ungewohnten Licht gezeigt haben.