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Das Gutachten des Zensors Haringer

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Haringer hat sich fast zwei Jahre lang mit Reuschs monumentalem Opus beschäftigt und es gründlich durchgearbeitet.22 Aus jeder Zeile seines umfangreichen lateinischen Gutachtens spricht Hochachtung für die wissenschaftliche Leistung des Bonner Gelehrten und Bewunderung für dessen Akribie und Ausdauer. Auch dem ungeheuren Arbeitsprogramm Reuschs zollt der Konsultor höchsten Respekt: Auf dem Index stehen fast sechstausend Autoren, zumeist kennt man jedoch nur den Namen eines Verfassers, „aber was er geschrieben hat und warum er verdammt wurde, darüber weiß man meistens nichts“. Hier wünschte man sich in der Tat – so Haringer – mehr Hintergrundinformation und vor allem exakte bibliographische Angaben, die der Altkatholik tatsächlich nach Möglichkeit zu liefern vermochte. Im ersten Band, der die Indizierungen des 16. Jahrhunderts behandelt, könne zwar dieser Anspruch nur zum Teil eingelöst werden, da zahlreiche zensurierte Kleinschriften von wenigen Seiten Umfang selbst in den größten Bibliotheken Europas nicht mehr nachweisbar waren.23 Im zweiten Band über die verbotenen Schriftsteller des 17. bis 19. Jahrhunderts bleibe Reusch hingegen kaum eine Antwort schuldig:24 „Kaum einer ist nicht untersucht, auch wenn er von einer gewissen Anzahl spricht, die eine weitere Darstellung in diesem Rahmen nicht verdient.“

Für das 19. und 20. Jahrhundert lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Indexgutachten feststellen. Einerseits schreiben die Zensoren über das ihnen vorliegende Werk von einem Standort innerhalb der Wahrheit: Sie lassen sich auf keinerlei Diskussion mit dem Autor ein und demonstrieren die abgrundtiefe Verderbtheit des Buches dadurch, dass sie besonders anstößige Stellen genüsslich aufspießen. Andererseits gibt es aber auch einige wenige Zensoren, deren Voten den Charakter einer wissenschaftlichen Besprechung tragen. Haringers Gutachten über Reusch gehört eindeutig zu dieser Gruppe: Er agierte eher als Rezensent denn als Zensor.

So geht er etwa ausgiebig auf die Bibliographie und die Hauptquellen von Reusch ein, die er kritisch vorstellt. Neben dem Werk des Jesuiten Franz Anton Zaccaria, der 1777 eine Apologie des römischen Index verfasste,25 und Hugo Hurters Nomenclator26 hebt Haringer besonders die Studien des Anglikaners Joseph Mendham aus den Jahren 1826 bis 1843 hervor, der fast alle alten Indices selbst habe einsehen können, was Reusch nicht mehr möglich war.27 Vielleicht ist diese für ein Indexgutachten ungewöhnliche Quellen- und Literaturkritik sowie die Wertschätzung einer präzisen Bibliographie nicht nur Ausfluss des deutschen, kulturprotestantisch dominierten Wissenschaftsideals, das auch ein in Rom lebender deutscher Redemptorist und Indexzensor über alle Grenzen und Konfessionsschranken hinweg vertrat, sondern zugleich Folge der intensiven Freundschaft Haringers mit dem Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus, dessen Lehrbuch der Kirchengeschichte nicht zuletzt mit Haringers Hilfe vor einer Indizierung gerettet werden konnte.28 Wie besonders auch seine Tagebücher zeigen, steht Kraus für den Versuch einer Synthese zwischen Glauben und Wissen, zwischen kirchlicher Frömmigkeit und Gelehrtenhabitus sowie für den von vielen geforderten Spagat zwischen katholischem Unfehlbarkeitsdogma und Wissenschaftsfreiheit.

Haringer geht in seinem Gutachten sogar über die Rolle des kritischen Rezensenten hinaus. Er lässt sich von dem altkatholischen „Ketzer“ belehren und ist überzeugt, dass der „Reusch“ zum Lehrbuch für die Kurie und die Indexkongregation werden sollte. Die Indices des 16. Jahrhunderts, die auch in den Neuauflagen der folgenden Jahrhunderte immer mitgeschleppt wurden, und die frühe Indizierungspraxis entsprechen – nach Reuschs und Haringers Ansicht – in keiner Weise neuzeitlichen (wissenschaftlichen) Standards. So waren die ersten römischen Indices von 1557 und 1559 lediglich Kompilationen aus anderen Listen verbotener Bücher.29 Die Tatsache, dass damals noch keine Einzeluntersuchung der beanstandeten Werke stattfand, erregte den besonderen Ärger Haringers.

Auch der Index Sixtus V. von 1590 war – wie der Redemptorist notiert – auf ganz ähnliche Weise zusammengestellt worden. Er stützte sich maßgeblich auf den Münchner Index von 1582, den Domkapitular Anton Welser verfasst hatte.30 Zu dessen Arbeit bemerkt Haringer sarkastisch: „Dieser Kanoniker freilich hat seine Arbeit ohne großen Aufwand absolviert.“ Er schrieb einfach aus den jährlich erscheinenden Katalogen der Frankfurter Buchmesse ab, in denen katholische und protestantische Autoren in unterschiedlichen Rubriken geführt wurden.31

Dieses Procedere der Indizierung ohne Prüfung traf vorwiegend deutsche und englische Autoren, weil es – wie der deutsche Redemptorist bedauert – in Rom einfach niemand gab, der Bücher in diesen barbarischen nordischen Sprachen hätte lesen und zensurieren können. Erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts habe es in der Indexkongregation einen Konsultor Nationis Germanicae gegeben – Lukas Holste.32 Da die allgemeine Indexregel, nach der Bücher von Häretikern für Katholiken automatisch verboten waren, nicht eingehalten wurde, konnten bis dahin schlechte Bücher in deutscher und englischer Sprache frei gelesen werden.33 Zahlreiche Bücher kamen überdies nur auf den Index, wenn sie zugleich in eine romanische Sprache wie Italienisch oder Französisch übersetzt worden waren und daher in Rom verstanden werden konnten. Diese Zufälligkeiten und die offenkundige Willkür der frühen Zeit erachtete Haringer als einer Institution der Römischen Kurie wie der Indexkongregation für unwürdig.

Obwohl es bereits im 16. Jahrhundert an der Kurie deutschsprechende Mitarbeiter gab – gerade auch im Index und in der Inquisition –, verlor das Sprachargument nie ganz seine Geltung. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein finden sich deutsche Literaten mit ihren Originalausgaben kaum auf dem Index librorum prohibitorum; erst wenn es Übersetzungen in „katholische Sprachen“ gab, wurden sie indiziert. Als Beispiel sei hier auf die Literatengruppe des „Jungen Deutschland“ verwiesen, die von Fürst Metternich nach einem entsprechenden Bundestagsbeschluss 1836 komplett in Rom denunziert worden war. Auf den Index gesetzt wurde aber nur Heinrich Heine, weil dessen Werke zugleich in einer französischen Ausgabe erschienen. Der theologisch wesentlich gefährlichere Roman Wally die Zweiflerin (1835) von Karl Gutzkow blieb dagegen unangetastet, weil es ihn nur in der „Barbarensprache“ Deutsch gab.34

Der Index der verbotenen Bücher. Bd.1

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