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2. Hintergründe der Jugendkriminalität

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Eine zunächst individualisierende Betrachtung der Entstehung abweichenden Verhaltens im Jugendalter berücksichtigt, dass problematische Anlagefaktoren und Sozialisationsdefizite der Kindheit mit den steigenden Anforderungen an das Individuum beim Älterwerden an Gewicht gewinnen. Infolge einer Vorbelastung oder -schädigung fällt das angemessene Bewältigen der weiteren Entwicklungsschritte schwer; Belastungs-Kumulationen bzw Aufschaukelungseffekte in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld fördern das Entstehen zunehmend gravierender Defizite und Verhaltensauffälligkeiten[19]. Diese fallen, angesichts der mit dem Alter zunehmenden Anpassungs- und Leistungsanforderungen der Gesellschaft an das Individuum bei zugleich abnehmender familiärer Schutzfunktion, immer stärker als strafrechtsrelevant ins Gewicht. – Schon angesichts dieses bedeutsamen Aspekts erscheint plausibel, dass sich Jugendkriminalität zunächst als individuelles Phänomen mit höchst individuellen Bedingungsfaktoren verstehen lässt; und eine solche individualisierende Sichtweise ist dem auf Zuschreiben und Einfordern von Verantwortung abstellenden Strafrecht in ganz besonderer Form zu eigen.

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Ein zweiter, stärker verallgemeinernder Ansatz stellt auf den normalen biologischen und zugleich sozialen Umbruch in der Pubertäts- und Spätpubertätsphase ab[20]. Dass diese Umbruchsphase mit vielfältigen Verunsicherungen und zugleich mit einer Neigung zum Austesten der Grenzen der neuen Rolle verbunden ist, liegt nahe. Damit lässt sich eine allgemein höhere Kriminalitätsanfälligkeit der Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungerwachsenen gegenüber den Kindern einerseits und den Erwachsenen andererseits immerhin ansatzweise plausibel machen[21]. Allerdings kann die Konstante einer „biologisch-sozialen Lage“ irgendwelche Unterschiede der Kriminalitätsbelastung dieser jüngeren Altersgruppen zwischen verschiedenen Generationen – etwa den Jugendlichen des Jahres 1984 und des Jahres 2004 (vgl Schaubild 1) – genauso wenig erklären wie der auf die individuellen Probleme des Jugendlichen abstellende Ansatz.

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Dieses Erklärungsdefizit verdeutlicht, dass weitere, wesentliche Aspekte Beachtung verdienen; es erscheint eine Individualität zwar einkalkulierende, letztlich aber meta-individuelle Betrachtung notwendig. Eine derartige Gesamtbetrachtung umfasst drei Bereiche: (1) die adoleszenz-typische Befangenheit in biologischem, psychischem wie sozialem Umbruch, (2) die in der Adoleszenz sich zuspitzenden Probleme des Einzelnen sowie (3) die gesellschaftliche Lage mit ihren spezifischen Lebensbedingungen für junge Menschen. Durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen an die Einzelnen gewinnen die individuellen Probleme, Anpassungsnotwendigkeiten und Rollenveränderungen der Adoleszenten ihre jeweilige Ausprägung und uU Dramatik. In jedem Fall wird man von einer hohen Vulnerabilität gerade der Jugendlichen und Heranwachsenden auszugehen haben. Denn auf die in persönlicher wie sozialer Entwicklung Lebenden und daher in einer instabilen Lage sich Befindenden wirken sich die von außen hinzutretenden zeit- und gesellschaftsspezifischen Belastungen besonders gefährdend aus.

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Verdeutlichen lässt sich das an den Besonderheiten unserer Gesellschaft. Diese ist ua dadurch geprägt, dass sie infolge zunehmender Mobilität und Anonymität den jungen Menschen immer weniger Betreuung und Überwachung zuteil werden lässt. Der weitgehende Wegfall der staatlichen Jugendbetreuung in den neuen Bundesländern hat nachdrücklich verdeutlicht, welche kriminogenen Potenziale in solcher Entstrukturierung des Freizeitbereichs liegen[22]. Viele Familien sind nicht in der Lage, ein derartiges Betreuungs- und Kontrollvakuum ausreichend zu füllen[23]. Einen weiteren ins Auge springenden kriminogenen Faktor stellt die Konsumorientierung unserer Gesellschaft dar, die die jungen Menschen zu gezielt angesprochenen Käufern bzw Verbrauchern hat werden lassen[24]. Dass hier eine größere Appetenz geweckt wird als von vielen Konsum-Adressaten legal zu befriedigen ist, steht nur zu oft hinter einfacher Eigentums- und Vermögensdelinquenz aber auch hinter vielen Fällen von Raub und Erpressung. Der Funktionsverlust der Familien bei gleichzeitig verstärkter Steuerung der Bedürfnis- und Idealbildung durch die Medien schwächt die durch die Familien zu leistende Persönlichkeitsprägung und Schutzfunktion[25]. Dieser Verlust an bevormundender Fürsorge und Überwachung durch die Familie und andere Erwachsene aus dem sozialen Nahraum fördert den nicht selten problematischen Einfluss von peer groups[26] und führt junge Menschen früh in einen Pseudo-Erwachsenenstatus. Die zunehmend erhobene Forderung nach Abstrafung schon der vermeintlich doch so frühreifen kindlichen Täter ist Frucht dieses, auf den allzu frühzeitigen Verlust von sozialen Schutzverhältnissen für junge Menschen zurückzuführenden, Erwachsenheits-Missverständnisses[27].

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Besonderer Erwähnung bedarf die direkte und indirekte Drogenkriminalität, bei der die Jugendlichen und Heranwachsenden weit überrepräsentiert sind. Neben eigentlichen Betäubungsmitteldelikten, die über Jahrzehnte hinweg bis zum Jahr 2004 nahezu kontinuierlich im Anstieg begriffen waren[28], werden von drogensüchtigen jungen Menschen vor allem Eigentumsdelikte und leichtere Formen des Raubes (Handtaschenraub) begangen, die der Finanzierung des Drogenkonsums dienen. Drogenabhängigkeit ist zunächst ein individuelles Problem, jedoch in ihrer auch gesellschaftlichen Bedingtheit unverkennbar. Sie entsteht oft infolge defizitärer emotionaler und/oder struktureller Einbindung von Kindern und Jugendlichen in ihre Herkunftsfamilie und auf Grund von Schwierigkeiten, die im Rahmen der Reifung anstehenden Entwicklungsaufgaben zu meistern, also in eine Erwachsenenrolle hineinzuwachsen. Zum anderen führt die Unfähigkeit der Gesellschaft, das illegale (wie legale) Drogenangebot besser zu kontrollieren, zu – oftmals peer group-induzierten – Probierhandlungen mit anschließender Verfestigung von Konsum in Form einer Sucht bei den dafür Anfälligen[29].

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Doch ist Jugendkriminalität beileibe nicht immer oder auch nur überwiegend Endpunkt einer sich verschärfenden Krise. Abweichendes Verhalten ist gerade im Jugendalter zumeist punktuelles oder temporäres Ereignis[30]. Als Warnzeichen hinsichtlich einer drohenden kriminellen Karriere gilt Kinder- und Jugendkriminalität erst bei wiederholten schweren Delikten oder bei sehr früher und nachhaltiger Kinderkriminalität[31]. Von daher wird von Kriminologen ganz berechtigt empfohlen, Jugendkriminalität nicht zu dramatisieren, insbesondere mit Strafrechtseinsatz möglichst zurückzuhalten. Es geht dann darum, einem „Selbstheilungsprozess“ möglichst wenig im Wege zu stehen. Denn der strafrechtliche Zugriff stellt ein höchst isoliertes Ereignis mit daher nur geringen sozialisationsfördernden Potenzialen dar, das andererseits den Jugendlichen in schädlicher Weise als Abweichler abstempeln kann[32]. Eine stärker interventionsorientierte Perspektive verfolgt man für die von Polizei und Politikern immer wieder hervorgehobenen „jugendlichen Intensivtäter“. Hierbei handelt es sich um – jedenfalls temporär – besonders auffällige Rückfalltäter, über deren pädagogische Beeinflussbarkeit und weitere Entwicklung mit dem Etikett des Intensivtäters[33] noch wenig ausgesagt ist[34].

Da mit diesen Hinweisen gewiss keine erschöpfende Behandlung der jugendkriminologischen Fragestellungen geleistet ist, sei insoweit auf einschlägige kriminologische Literatur verwiesen[35]. Befunde zur Effizienz verschiedener Reaktions- und Sanktionsformen des Jugendstrafrechts werden später (in §§ 10 – 12) im Zusammenhang mit den juristischen Fragen dargestellt werden.

Teil I Einführung§ 1 Grundsätzliches zur Jugendkriminalität und zu den Aufgaben der Jugendstrafrechtspflege › II. Warum ein besonderes Jugendstrafrecht?

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