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II. Warum ein besonderes Jugendstrafrecht?

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Bereits das statistische Faktum der knapp dreifachen Überrepräsentierung der Jugendlichen und Heranwachsenden unter den Tatverdächtigen (vgl Schaubild 1) lässt erkennen, dass es nicht etwa eine Aufgabe minderer Bedeutung und Herausforderung für die Justiz darstellt, wenn man es „nur“ mit jungen Beschuldigten zu tun hat. Ganz im Gegenteil erfordert das kritische Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenalter als ganz offenbar „sensible Phase“ der Sozialisation einen behutsamen und individualisierenden Zugriff auf den jungen Rechtsbrecher bzw Verdächtigen. Daher gewinnen im Jugendstrafrecht als Sonderstrafrecht für junge Täter die Grundprinzipien der Mäßigung in der strafenden Reaktion sowie der Erforschung der Täterpersönlichkeit zum Zwecke einer individualisierenden Reaktion in besonderer Weise Bedeutung[36]. Nachdem der Gedanke der Abschreckung sich als nicht realistisch erwiesen hat und Normbestätigung keine harte Strafe, sondern lediglich eine eindeutige gesellschaftliche Antwort auf Straftaten erfordert, lässt sich gerade im Jugendstrafrecht die Idee des zurückhaltenden Sanktionierens im Sinne von „im Zweifel weniger“ mit guten Gründen hochhalten. Befunde aus Rückfallstudien stützen diese Strategie, die auch im Schlagwort von der „Austauschbarkeit der Sanktionen“ ihren Ausdruck gefunden hat[37] – wobei Austauschbarkeit hier nicht Beliebigkeit meint, sondern das Eröffnen von Spielräumen zu Gunsten konstruktiver und unterstützender Sanktionen.

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Des Weiteren ist auf Erfordernisse „jugendspezifischer Kommunikation“ abzustellen[38]. Demzufolge ist das Jugendverfahren anders zu gestalten als das Verfahren des Allgemeinen Strafrechts. Der Ruf nach einer besonderen Kommunikationsstruktur entspricht der Notwendigkeit, die Tathintergründe und erzieherischen Defizite aufzuhellen und den vielfach in der Kommunikationsfähigkeit (noch) eingeschränkten Jugendlichen Hilfestellungen bei der Artikulation ihrer Sichtweise und ihrer Probleme zu leisten. Wichtig ist auch, den Jugendlichen den Eindruck zu vermitteln, fair behandelt zu werden und als Person ernst genommen worden zu sein[39]. Dies bedarf gerade angesichts der zumindest im Allgemeinen Strafverfahren weit im Vordergrund stehenden Objektivierung des Beschuldigten, nämlich der Orientierung an der Wahrheitserforschung und am erfolgsunrechts-orientierten Tatausgleich, der Hervorhebung.

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Ermöglicht wird die Realisierung dieser Prinzipien durch den im Vergleich zu entsprechenden Taten Erwachsener gegenüber jungen Tätern schwächeren Schuldvorwurf. Folgt man dem auf dem Freiheitspostulat aufbauenden herkömmlichen Schuldbegriff, dann ergibt sich die geringere Schuld schon daraus, dass Jugendliche und auch Heranwachsende noch weit stärker von Dritten – nämlich den Erziehungspersonen – gelenkt und geprägt sind als Erwachsene. Denn jugendliches Fehlverhalten ist weithin von den Eltern oder vom sozialen Umfeld zu verantworten, nicht aber von den jungen Menschen als eigentlichen Opfern der Gefährdungslage. Bei funktionaler Betrachtung ergibt sich die Schuldminderung daraus, dass junge Menschen noch nicht als vollwertige Sozialpartner angesehen werden. Ein Rechtsbruch Jugendlicher löst folglich keine so großen Erschütterungen des Vertrauens in die Normgeltung und demnach auch keine so starken Strafbedürfnisse aus wie eine vergleichbare Tat Erwachsener[40]. Dies schafft Spielräume für eine Zurückdrängung tatorientierter Strategien zu Gunsten täterorientierter.

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Nicht zuletzt auf dieser Schiene wurde in Teilen der jugendstrafrechtlichen Lehre der Grundsatz entwickelt, dass Jugendliche im Strafrecht keinesfalls schlechter behandelt werden dürften als Erwachsene[41]. Ein Schlechterstellungsverbot lässt sich freilich aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) nicht herleiten, solange eben die besondere Lage des Jugendlichen auch besondere Maßnahmen erfordert; denn Ungleiches auch ungleich zu behandeln, ist mit dem Gleichheitssatz durchaus vereinbar. Es stellt diese Differenzierungsnotwendigkeit letztlich die Legitimationsbasis eines eigenständigen Jugendstrafrechts dar[42]. Wenn Maßnahmen gegen Jugendliche im Einzelfall stärker belastend ausfallen als gegen Erwachsene in ansonsten vergleichbarer Lage, ist allerdings eine sorgfältige Prüfung angesagt, ob etwa die Grenzen des Schuldangemessenen oder des Verhältnismäßigen, die im Jugendstrafrecht selbstverständlich genauso gelten wie im Allgemeinen Strafrecht, überschritten wurden.

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Den aufgezeigten Anforderungen an eine verantwortliche Sonderbehandlung junger Täter lässt sich nur in einem auf Verfahrensebene wie auf Rechtsfolgenebene speziell zugeschnittenen Sonderstrafrecht gerecht werden, das sich insbesondere durch Flexibilität auszeichnet[43]. Das deutsche Jugendstrafrecht bleibt dabei eindeutig Strafrecht, folgt also dem „Justizmodell“ (Gerechtigkeitsmodell), nicht aber einem strafrechtsabstinenten Umgang mit Jugendkriminalität nach dem „Wohlfahrtsmodell“, wie es insbesondere in den skandinavischen Ländern praktiziert wird bzw wurde[44]. Der spezifische Zuschnitt unseres Jugendstrafrechts als – zumindest auch – hilfe- und täterorientiert verlangt Konsequenzen für die Ausbildung und Fortbildung der (künftig) in der Jugendstrafrechtspflege Tätigen, insbesondere der Jugendrichter. Jugendkriminologie und forensische Psychologie als außerhalb der juristischen Standardausbildung liegende Disziplinen verdienen für eine verantwortungsvolle Tätigkeit im Rahmen der Jugendjustiz angemessene Beachtung.

Teil I Einführung§ 1 Grundsätzliches zur Jugendkriminalität und zu den Aufgaben der Jugendstrafrechtspflege › III. Der Erziehungsgedanke als Leitidee des heutigen Jugendstrafrechts

Jugendstrafrecht

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