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II. Vom Gemeinen Recht zu den Partikulargesetzbüchern

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Die Rezeption des römischen Rechts insbesondere durch die Constitutio Criminalis Carolina (CCC = „Peinliche Gerichtsordnung Karls des V.“) von 1532 ließ eigentlich eine Besserung der Situation erwarten, da die Systematisierung des Schuldgedankens gerade zu einem schonenderen Umgang mit jungen Tätern hätte führen müssen. Auch wurde die Sondersituation junger Menschen in Art. 179 der CCC angesprochen, demzufolge Jugend, neben „anderen Gebrechen“, den Richter dazu veranlassen sollte, sachkundigen Rat für die Behandlung solcher Täter einzuholen (vgl Art. 219 CCC). Im Gemeinen Recht, das sich aus dem rezipierten römischen Recht entwickelte, setzte die strafrechtliche Verantwortlichkeit bereits mit dem 7. Lebensjahr ein, wobei allerdings in einer Übergangsphase bis zum 14. Lebensjahr im Sinne einer „bedingten Strafmündigkeit“ nach dem Entwicklungsstand individualisierend entschieden wurde; auch bestanden für junge Täter Strafmilderungsregelungen. Trotz Geltung eigentlich eindeutiger Altersgrenzen waren in dieser Epoche durchaus Ausnahmen für den Fall möglich, dass „die Bosheit das Alter erfüllt (bzw übertrifft)“ – was bedeutete, dass dann auch eigentlich Strafunmündige nach der Härte des Gesetzes abgestraft wurden. Infolge der instabilen politischen und gesellschaftlichen Situation herrschte auch im Rahmen des gemeinen Rechts weiterhin Rechtsunsicherheit vor und es kam zu teils überaus harten Strafen auch gegen junge Täter[5].

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Besonders bei jugendlichen Tätern wurde die Einsperrung in das Lochgefängnis, den Karzer oder den Turm als Strafmaßnahme angeordnet, um härtere Erwachsenen-Sanktionen nicht anwenden zu müssen. Solche Einsperrung wurde teils bis ins 19. Jahrhundert hinein praktiziert. Es handelte sich dabei um eine bei längerer Dauer brutale Leibesstrafe. Im Normalfall diente sie der Verwahrung der Gefangenen bis zum Prozess oder bis zur Hinrichtung. Kürzere Einsperrung als selbstständige Strafmaßnahme gegen junge Täter war trotz ihres besonderen Charakters mit der modernen Freiheitsstrafe nicht vergleichbar[6]. Die in fehlenden Betreuungs- und Erziehungspotenzialen und in der in jeder Hinsicht ungesunden Unterbringung wurzelnden Missstände führten bereits im 16. Jahrhundert zu Reformansätzen.

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Die Anfänge der modernen Freiheitsstrafe liegen in der Sozialethik des Calvinismus begründet, wonach in beruflichem und insbesondere finanziellem Erfolg göttlicher Segen waltet. Auf der anderen Seite wurde der nicht Arbeitende als jemand angesehen, der sich dem Ruf Gottes entzog. Arbeit gab dem fleißigen Erwerbstätigen die Möglichkeit zu „innerweltlicher Askese“ und stand daher gleichberechtigt neben der Weltflucht des Mönchs. Von daher waren Zwang und Erziehung zu Arbeit ein Weg, den Bettler oder Straftäter auf den Weg zu Gott zu führen. Im Rahmen dieses ideellen Hintergrundes überließ der englische König Eduard VI. das Schloss Bridewell der Stadt London, damit diese eine Anstalt einrichten konnte, in welcher Vagabunden zur Arbeit angehalten werden sollten. Die wachsende Scheu, jugendliche Delinquenten und nicht allzu schwerer Straftaten schuldige Erwachsene hinzurichten, dürfte einer der Hauptgründe gewesen sein, diese neue Anstalt zu schaffen. Die workhouse (Arbeitshaus) bzw später house of correction (Zuchthaus) benannte Anstalt wurde 1555 ihrem Verwendungszweck übergeben. Bald errichtete man auch in anderen englischen Grafschaften derartige Institutionen.

Die eigentliche Initialzündung für den Siegeszug der modernen Freiheitsstrafe aber ging von den Niederlanden aus, wo sich speziell in Amsterdam das englische Vorbild weiterentwickelte. Es verstärkte sich Ende des 16. Jahrhunderts beim Amsterdamer Gericht das Unwohlsein gegenüber dem bisherigen Verfahren der Hinrichtung jugendlicher Diebe. Im Jahre 1588 schließlich weigerten sich die Schöffen, gegen einen 16-jährigen Dieb und Einbrecher das Todesurteil zu verhängen. Sie forderten Mittel, „derartige Bürgerskinder in dauernder Arbeit zu halten und womöglich dadurch zu einem besseren Lebenswandel zu erziehen“. Im Jahre 1589 wurde im Rat der Stadt dann der Beschluss gefasst, in einem ehemaligen Kloster ein Zuchthaus einzurichten. Im Februar 1596 wurden in das Zuchthaus von Amsterdam die ersten zwölf Gefangenen eingeliefert. In der Folge entstanden in ganz Europa Zuchthäuser nach dem Muster von Amsterdam. Die Umsetzung des Zuchthauskonzepts war freilich noch weit von dem entfernt, was man unter den Aspekten der Trennung der jungen Häftlinge von anderen Gefangenengruppen und der gesundheitlichen wie pädagogischen Betreuung eigentlich wünschen musste[7].

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Als Vater des modernen Erziehungsstrafvollzugs für Jugendliche ist daher wohl Papst Clemens XI. zu nennen. Er ließ in Rom 1703 das Knabengefängnis („Bösebubenhaus“) San Michelo einrichten. Von Erwachsenen und Angehörigen des anderen Geschlechts abgesondert, wurden die Insassen nach Alter, sittlicher Beschaffenheit, Grad der Verwahrlosung oder Kriminalität kategorisiert und getrennt untergebracht. Für die als Arbeitszucht verstandene tägliche Arbeit galt das Schweigegebot. Als weiteres Erziehungsmittel wurden geistliche Unterweisung in Form von Unterricht und religiösen Übungen eingesetzt. Nachts waren die Knaben in Einzelzellen untergebracht, um gegen Übergriffe anderer Gefangener und gegen Schädigungen durch kriminelle Ansteckung geschützt zu sein. Die Anstalt San Michelo vermied so sehr viele Probleme und Schwächen, die den anderen Zuchthäusern dieser Zeit anhafteten. Ähnliches gilt für das in den 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts in Gent gegründete „maison de force“. Freilich blieb deren unmittelbare Außenwirkung als Modell für eine zu reformierende Freiheitsstrafe zunächst eher gering[8].

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Die Weiterentwicklung von Wissenschaft sowie von Handel und Industrie führte dazu, die ganz offenbar ineffiziente und inhumane Strafpraxis des Mittelalters zu Gunsten des Freiheitsentzugs zurückzudrängen. Nicht nur das Vorbild eines Erziehungsvollzugs, wie er etwa in San Michelo praktiziert wurde, sondern vor allem das Aufkommen des Merkantilismus, der den Menschen mit seiner Arbeitskraft für die Gesellschaft wichtig machte, wirkten sich hier aus. Die Manufakturen weckten einen Bedarf an Arbeitskräften und schufen die Möglichkeit, die auffälligen Jugendlichen in Anstalten zu konzentrieren, ohne den Bürgern wirtschaftliche Opfer aufzuerlegen. Die Investition in Zuchthäuser lohnte sich also unmittelbar unter dem Aspekt der Gefangenenarbeit und mittelbar unter dem Aspekt der Arbeitserziehung für die Zeit nach der Entlassung. Dass die ertragreiche Nutzung von Gefangenenarbeit leicht zur ökonomischen Ausbeutung und zur Degradierung der Gefangenen zu bloßer Handelsware führte, überrascht nicht[9]. Immerhin wurden in der Folge in viele deutsche Partikulargesetzbücher des 19. Jahrhunderts besondere Regelungen über den Vollzug von Freiheitsstrafe an Jugendlichen aufgenommen[10].

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In den meisten deutschen Partikulargesetzbüchern des 19. Jahrhunderts waren bindende Strafmündigkeitsgrenzen festgeschrieben; dabei bestand freilich erhebliche Varianz in den Grenzziehungen. Während die Strafmündigkeit teils auch schon mit dem achten Lebensjahr begann, hatten sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts die Strafmündigkeitsgrenzen in den verschiedenen deutschen Staaten insoweit aufeinander zubewegt, als sie zumeist im Bereich zwischen 12 und 14 Jahren lagen. Für die Altersstufe oberhalb der Strafmündigkeitsgrenze galten regelmäßig Strafmilderungsregelungen für die noch nicht Erwachsenen. In den Königreichen Bayern und Preußen fehlten Mitte des 19. Jahrhunderts feste Strafmündigkeitsgrenzen; nach dem Vorbild des Code Penal musste bei allen unter 16-Jährigen das sog. Unterscheidungsvermögen als Strafbarkeitskriterium geprüft werden[11].

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Die eigentlichen Reformansätze für den Umgang mit straffälligen Jugendlichen entstammten nicht der Gesetzgebung, sondern wurden von religiösen und philantropischen Vereinigungen getragen. Wesentliche fruchtbare pädagogische Ansätze brachten Johann Hinrich Wichern mit seinem „Rauen Haus“ und Pestalozzi mit seiner Anstalt „Neuhof“. Beachtung verdient die 1840 eingerichtete Ackerbaukolonie in Mettray in Frankreich mit ihrer Ausrichtung auf Besserung durch Unterricht, Bildung und Hebung des Ehrgefühls. Besondere Erwähnung verdient auch die in New York im Jahre 1877 in Betrieb genommene Besserungsanstalt von Elmira. Eingeliefert wurden dort Ersttäter mit unbestimmter Strafe (indeterminate sentence). Man hat diese Anstalt oft als Musterinstitut für den modernen Jugendstrafvollzug bezeichnet[12].

Ein besonders bedeutsamer Fortschritt im Umgang mit jungen Straffälligen wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts in England und den USA erzielt. Und zwar ging es darum, nach dem Schuldspruch das Strafverfahren einstweilen auszusetzen und die notwendige Unterstützung des Jugendlichen durch engagierte Mitbürger zu gewährleisten; solche „Probation“ sollte die Chance eröffnen, einer eigentlichen Strafe durch gute Führung zu entgehen[13]. In der Konsequenz wurde dann ab 1895 in verschiedenen deutschen Staaten durch ministerielle Verfügungen die Möglichkeit eröffnet, gegen Jugendliche verhängte kürzere Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen (sog. bedingte Begnadigung), obwohl das RStGB diese Sanktionsvariante nicht vorsah[14].

Teil I Einführung§ 2 Der Weg zu einem eigenständigen Jugendstrafrecht › III. Schulenstreit und Jugendgerichtsbewegung

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