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a) Die gesetzlichen Anforderungen

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Für die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende erweist es sich gem. § 105 I Nr 1 JGG als erforderlich, dass der Heranwachsende „zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand“. In dieser kurzen Passage verbergen sich drei zu problematisierende Punkte:

(1) „zur Zeit der Tat“ kann nur als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Anwendung der Rechtsfolgen des JGG nicht nur auf spezialpräventiven Erwägungen beruht, sondern auch als Privilegierung für geminderte Schuld zu verstehen ist[9]. Der Regelung entsprechend kann es etwa dazu kommen, dass ein inzwischen 50-Jähriger wegen Beteiligung an einem Mord im Heranwachsendenalter gem. § 105 I JGG zu Jugendstrafe verurteilt wird[10]. In der Praxis wird für die § 105-Entscheidung jedoch weitgehend darauf abgestellt, welche Sanktion für den Täter als die geeignetste erscheint. Gelegentlich befürwortet man auch einen Kompromiss[11], für welchen empfohlen wird, zur Kontrolle der bereits getroffenen Reifediagnose darauf zu achten, ob der Täter mit Maßnahmen des JGG noch zu fördern ist.

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(2) „nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung“ bedeutet bei strenger Beachtung des Wortlautes, dass der zur Tatzeit nur sittlich Unreife nicht den Rechtsfolgen des JGG unterworfen werden könnte – dies, obwohl gerade für solche Täter die Rechtsfolgen des JGG geeignet sind. Unter Berufung auf Entstehungsgeschichte und Sinn des Gesetzes ignorieren daher Literatur wie Rechtsprechung den Wortlaut von § 105 I Nr 1 JGG und legen das Gesetz iSv „sittliche oder geistige Entwicklung“ aus. Der Wortlaut wird als gesetzgeberisches Versehen bzw als missverständlich behandelt[12]. Bedenklich an dieser Korrektur des Wortlauts erscheint in Anwendung allgemein anerkannter Auslegungsregeln, dass der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG den fraglichen Wortlaut beibehalten und damit in gewisser Weise bestätigt hat. Dennoch ist der Linie der hM im Ergebnis zu folgen, da das Gesetz eine „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters“ verlangt, was auch das Durchschlagen schon eines Merkmals als prägend für das Gesamtbild erfasst[13].

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(3) „einem Jugendlichen gleichstand“ bedeutet wortgetreu eigentlich, dass der Heranwachsende in seiner Entwicklung einem 14- bis 18-Jährigen vergleichbar war. Allerdings geht man ganz berechtigt davon aus, dass ein Regelentwicklungszustand des 14- bis unter 18-Jährigen bzw ein Norm-Jugendlicher als „sicher abgrenzbarer Typ des Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren, mit dem der Heranwachsende verglichen werden könnte, nicht feststellbar (ist)“; denn es kann, wie der BGH ausführt, „das Jugendalter als Entwicklungsabschnitt nicht durch Altersgrenzen bestimmt“ werden; „die Grenzen sind fließend“[14]. Demzufolge kann § 105 I Nr 1 JGG nur den „unfertigen, noch formbaren Menschen“[15] bzw die „unreife, noch in der Entwicklung stehende Persönlichkeit“ meinen[16]. In der Konsequenz hat der BGH hervorgehoben, dass es nicht darauf ankomme, ob der Heranwachsende „das Bild eines noch nicht Achtzehnjährigen bietet“; maßgebend sei vielmehr, „ob in dem Täter noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind“[17].

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Für die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen ist gem. § 105 I Nr 1 JGG eine „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters“ vorzunehmen. Für diese tatrichterliche Würdigung sind die „Lebensverhältnisse, unter denen er aufgewachsen ist und vor und nach der Tat lebte“, zu berücksichtigen; insbesondere ist auf eine erkennbare Lebensplanung und auf das schon erreichte Maß an Selbständigkeit der Lebensführung abzustellen[18]. Isolierte Einzelmerkmale können keine hinreichende Beurteilungsbasis für die Entwicklungsdiagnose abgeben. Insbesondere kann etwa aus der Tatsache, dass eine Tat besonders „dreist“ oder „gut geplant“ war, nicht auf das Vorliegen eines altersentsprechenden Entwicklungsstandes geschlossen werden. Demgegenüber hat der BGH eine Tätigkeit als Zuhälter als wesentliches Indiz für eine gewisse Selbstständigkeit angesehen und dafür, dass Entwicklungskräfte nicht mehr in größerem Umfang wirksam sind[19]. Durchaus problematisch erscheint die Berücksichtigung der körperlichen Entwicklung als Indiz für die geistig-seelische Reife. Zwar spricht ein körperlicher Entwicklungsrückstand auch mit einiger Wahrscheinlichkeit für eine seelisch-geistige Entwicklungsverzögerung. Anders herum aber kann aus einer beschleunigten körperlichen Entwicklung nicht auf das Vorliegen einer adäquaten charakterlichen Reifung geschlossen werden; ganz im Gegenteil stellt eine körperliche Frühreife (Akzeleration) eine schwierig zu bewältigende Entwicklungsphase mit mancherlei Spannungen zwischen körperlicher und geistig-seelischer Entwicklung dar[20]. Trotz solcher, für den Richter kaum sicher beurteilbarer Aspekte der Reifefeststellung geht der BGH davon aus, dass zumeist keine Anhörung eines Sachverständigen geboten ist, wenn nicht Auffälligkeiten in der sittlichen und geistigen Entwicklung des Angeklagten zu Zweifeln an einer normalen Reifeentwicklung Anlass geben; auch bei Hinzuziehung eines Sachverständigen darf der Richter seine Verantwortung für die letztlich normativ zu treffende Reifeentscheidung nicht an einen Sachverständigen delegieren[21].

Jugendstrafrecht

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